Читать книгу Welt mit kleinen Fehlern günstig abzugeben - Peter G. Kügler - Страница 6

4.DAS RESTAURANT FAST AM ENDE DER GALAXIS

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Die ‚Gemüsehalle’ war so gesund wie er es sich vorgestellt hatte. Auf dem Schild über dem Eingang prangten auf der linken Seite tiefrote Paprika, dunkelgrüner Salat und saftige Karotten, deren Anblick jeden Hasen in Ekstase versetzt hätte. Rechts neben dem Schriftzug glotzte ein Mann, der einem Filmplakat aus den Fünfzigern entsprungen sein könnte, dämlich lachend herab. Er hob den Daumen wie ein Anhalter, um zu zeigen, wie toll doch dieses Lokal sei und seine Augen wirkten durch die Brille wie durch eine Lupe vergrößert. Durch die Fenster sah Max, dass hier ein Innenarchitekt seinen kühnsten Träumen Gestalt verliehen hatte. Die Tische hatten die Form aufgeschnittener Salatgurken, die Stühle sahen wie Äpfel aus, deren falsch proportionierter Stiel als Rückenlehne diente und die Sitznischen waren überdimensionalen aufgeschnittenen Tomaten nachempfunden. Sie sahen fast wie aufgerissene Münder aus, die die Gäste im nächsten Moment zu verschlingen drohten.

„Fast so wie in… in… in diesem… diesem Film“, kam es aus seinem Kopf.

„Welcher Film? ‚Uhrwerk orange’?“

„Nein! In der Milchbar gab es zwar auch ungewöhnliche Sitzgelegenheiten, aber die hatten eine andere Farbe. Und Form. Eine ganz andere Form. Nein, ich meine den Film mit den Tomaten.“

„Ratatouille?“

„Clown gefrühstückt? Nein, der mit diesen Killertomaten in der Hauptrolle. Da hat auch noch der… der…. der… Dingens mitgespielt!“

„Ach der! Der… der… der… der war da aber noch ganz schön jung in dem Film.“

„Ja richtig! Genau der! Wie hieß der noch mal?“

„Wer? Der Film?“

„Nein, der Typ!“

„Ach der. Tut mir leid, aber ich habe es nicht so mit Namen.“

„Vielleicht komme ich noch drauf. Auf jeden Fall war der gut.“

„Wer? Der Schauspieler?“

„Nein, der Film.“

„Ach der. Ja, der war super.“


Max klinkte sich an dieser Stelle aus dem Dialog in seinem Kopf aus und betrat das Lokal. Es war noch früh am Tag, so dass viele Tische unbesetzt waren. Die Theke befand sich links von der Eingangstür. Auf ihrer gegenüberliegenden Seite zog sich ein Teil des Raumes weiter nach hinten, so dass er vor den Blicken der übrigen Gäste geschützt war. Max fand, dass dies ein guter Ort sei, um ungestört nachdenken zu können und begab sich in eine der beiden Tomatennischen. Kaum hatte er Platz genommen kam ihm auch schon eine Lauchstange entgegen. Aus ihrem Grünansatz ragte der Kopf einer unrasierten Bedienung, der ihn mürrisch musterte und ihm ein ungeduldiges „Und?“ entgegen brachte. Max betrachtete die Stange, aus deren unteren weißen Ende zwei kräftige Beine zum Vorschein kamen und deren Wurzeln passender Weise genau im Schritt angebracht waren. Noch während Max versuchte, diesen Anblick zu verkraften kam ihm ein „Was ist? Ich habe nicht ewig Zeit!“ entgegen. Seine Befürchtung, er könne mit dem Umstand, bedient zu werden, nicht umgehen, weil es neu und ungewohnt sei und er nicht wisse, wie er darauf reagieren solle, hatte sich schlagartig in Luft aufgelöst. Das hier kannte er. Der Lauch wollte Krieg. Den konnte er haben.

„Aufgrund des situativen Kontextes deute ich ihre Urlaute mal als den untauglichen Versuch, meine Bedürfnisse und Wünsche in Bezug auf Nahrungsaufnahme im Rahmen der hier gebotenen Möglichkeiten in Erfahrung zu bringen. Können sie diese Vermutung erhärten?“

„Hä?“ Max spürte förmlich, wie seine soeben gesprochenen Worte verzweifelt versuchten, in den übersichtlichen Kosmos des Verstandes der Lauchstange einzudringen. Nach einer kurzen Pause ging der Lauch zum Gegenangriff über. „Jetzt hör mal gut zu, Freundchen! Du bist hier in einem Restaurant und nicht im Puff! Deine perversen Wünsche und Bedürfnisse kannst du dir sonst wohin stecken! Hier wird gar nix erhärtet! Ist das klar? Und jetzt deine Bestellung bevor ich meine Geduld verliere. Aber zügig!“ Das Gesicht der Lauchstange färbte sich in sattes Rosa.

„Hör mal Lauchstange! Seid wann duzen wir uns? Haben wir etwa zusammen im Sandkasten gespielt? Ich glaube kaum! An Gemüse könnte ich mich erinnern. Und Mami hatte mir damals immer schon gepredigt, dass ich nicht mit dem Essen spielen soll!“

Die Stange schnappte nach Luft. Ihr Gesicht war nun puterrot angelaufen. Max fürchtete um ihre Gesundheit. Sie sah jetzt aus wie eine Kreuzung zwischen einer Lauchstange und einer Tomate. Eine Lauchtomate. Oder eine Tomatenstange? Max fiel die bissige Bemerkung von Karin über die Eigenschaften holländischer Tomaten ein. Den spontanen Impuls, eine Bemerkung über Wasserköpfe nachzuschieben, konnte er noch rechtzeitig unterdrücken.

Man soll es ja nicht übertreiben.

Bei der Lauchkreuzung hatte die Tomate inzwischen eindeutig die Überhand gewonnen. „So einer wie du hat mir heute gerade noch gefehlt! Erst stresst mich gestern Abend die Alte, weil ich in der Kneipe angeblich mal wieder zuviel getrunken hätte, dann klingelt der verfluchte Wecker nicht, die verdammte Karre springt nicht an und dann kriege ich vom Chef noch einen Anschiss, weil ich zu spät gekommen bin! Und das für beschissene 400 Kröten im Monat! Dafür muss ich dann auch noch in diesem bescheuerten Lauchkostüm rumlaufen, das überall juckt wie der Teufel! Für 400 Kröten! Scheiße noch mal! Und dann kommst du Heini noch zur Krönung meines Tages und hältst mir so ein blödes Gespräch! Kannst froh sein, dass du hier Gast bist und ich nur die Bedienung! Also, was will der feine Herr?“ Der Lauch redete sich in Rage. Den letzten Satz schleuderte er Max wie einen Fehdehandschuh entgegen.

„Ach, du denkst, du hättest einen Scheißtag gehabt?!? Ich will dir mal erzählen, was ein Scheißtag ist! Ich wache heute in einem wildfremden Bett in einer wildfremden Wohnung mit einem Schädel in der Größe eines Fußballstadions und dem Brummen von 10 Transformatoren auf; hatte anscheinend Sex mit einer wildfremden Frau, an den mir jegliche Erinnerung fehlt; werde im Gegenzug dafür aber wohl von ihrem tollwütigen Ehemann erschlagen; bin von einem hysterischen Kühlschrank wegen meines angeblichen Übergewichtes fertig gemacht worden – von einem Kühlschrank! - und wurde von einem psychopatischen Navigationsgerät nach Strich und Faden verarscht! Von einem Na-vi-ga-tions-ge-rät! Und hier macht mich dann noch ein dahergelaufener Sellerie dumm an! Halleluja! Dabei hat der Tag erst angefangen! Bin mal gespannt, was noch so kommt! Vielleicht bringt mich ja noch eine Riesenzwiebel zum Weinen! Oder ich stolpere über eine Mutantenkarotte und breche mir das Genick! Vielleicht werde ich draußen von einer Parkuhr tot gequatscht! Oder von einer Ampel angefallen! Und du denkst, du hättest einen schlechten Tag?!?“

Der Lauch war still geworden. Sein Gesicht hatte wieder die vornehme Blässe von jemand angenommen, der zuviel Zeit des Tages vor dem Computer verbrachte. Bildschirmbräune nannte das sein Neffe immer. Er war verlegen und ihm fehlten die Worte, die dem Schicksal von Max angemessen gewesen wären.

„Die Karotte hat heute ihren freien Tag“, warf der Lauch kleinlaut ein.

„Was?“

„Na, die Karotte hat heute ihren freien Tag. Über die kannst du nicht stolpern.“

„Na so ein Glück!“

„Im Übrigen bin ich eine Lauchstange.“

„Wie?“

„Ich bin eine Lauchstange. Kein Sellerie.“ Er blickte nach unten und zupfte an seiner Kleidung.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht herabsetzen. Die Hierarchie innerhalb der Gemüsekaste ist mir nicht so präsent.“

„Schon gut.“ Und nach einer Pause sagte er: „Du hattest ja wirklich einen Scheißtag.“

„Kann man wohl sagen.“

„…und du kannst dich wirklich nicht mehr erinnern?“

„Woran?“

„Na, an den Sex!“, entgegnete der Lauch.

„Nein. Kein bisschen.“

„Arme Sau…“

Max seufzte. „Ja, ich weiß…“

Beide durchlebten angesichts dieser Tragödie einen Moment des Schweigens, in dem jeder für sich versuchte, mental das ganze Ausmaß zu erfassen. Es war unmöglich. Sie blickten in Gedanken versunken in eine imaginäre Ferne. Der Lauch fand als erster seine Sprache wieder.

„Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, Kumpel…“

„Ein Tomatensaft wäre nicht schlecht.“ Max wusste nicht genau, warum er sich spontan dafür entschlossen hatte.

„Kommt sofort, Kumpel.“

Anscheinend hatte er hier in der Fremde einen Freund gefunden.


Der Lauch verschwand hinter der Theke und eine Zwiebel gesellte sich zu ihm. Das Gemüse unterhielt sich angeregt, wobei sie immer wieder kurze heimliche Blicke zu Max warfen und der Lauch heftig mit den Armen gestikulierte. Der Zwiebelmann machte solch ein betroffenes Gesicht, wie es für eine Zwiebel überhaupt möglich war. Er rang mit den Tränen und warf ihm einen Blick zu, in dem alles Mitleid der Welt lag. Dann kam er an seinen Tisch. „Es tut mir ja so leid, Mann“, schluchzte er, „das mit deiner Amnesie und so. Oh Gott, wie traurig. Aber Kopf hoch, Kumpel! Das Leben geht weiter. Oh Gott! Oh Gottogott!“ Er stellte ihm sichtlich bewegt den bestellten Tomatensaft hin. „Hier Mann, ein Doppelter! Der geht auf´s Haus, arme Sau! Oh Gottogott!“ Dann schleppte er sich wieder zur Theke. Bestimmt würde sich die Zwiebel für den Rest des Tages frei nehmen, um diesen Schlag zu verkraften. Max nahm vorsichtig einen Schluck Gesundheit und wusste mit einem Mal wieder, warum er lieber ins ‚Burgerparadies’ gefahren wäre. Diese verdammte Karin! Wie konnte man nur so nachtragend sein? Als Kühlschrank!


Das Quietschen der Eingangstür riss ihn aus seinen Gedanken. ‚Die sollte mal geölt werden. Selbstverständlich mit biologischem Salatöl. Kaltgepresst. 1. Wahl. Aus biologisch angebautem Türschmierölgetreide.’ Er wandte seinen Blick beiläufig zur Tür und erschrak. Dort war gerade der Kerl durch den Eingang gekommen und unschlüssig hinter der Eingangstür stehen geblieben, den Max als letzter auf dieser Welt kennen lernen wollte. Sein Blick wanderte suchend durch den Raum. Ein neutraler Beobachter der Szene hätte vermutet, dass er nach einem freien Platz Ausschau hielt, doch Max wusste es besser. Er suchte ihn. Es war der Kerl auf dem Bild in ihrem Wohnzimmer! Irgendwie musste der Typ herausgefunden haben, wo Max sich aufhielt. Die Stimmen in seinem Kopf hatten auch schon eine Vermutung.

„Bestimmt hat uns Norbert verraten. Dieses fiese kleine Navi. Ich hasse dieses neurotische Teil! Mögen ihm alle Transistoren einzeln ausfallen!“

„Vielleicht war es auch Karin! Gekränkte Frauen sind tickende Zeitbomben. Dagegen sind palästinensische Selbstmordkommandos die reinsten Kaffeekränzchen. Ich habe schon immer gesagt: Wenn man einen Krieg gewinnen will, sollte man gekränkte Frauen einsetzen. Allerdings ist das bestimmt durch die Genfer Konventionen verboten. Wegen Grausamkeit und so.“

„Oder vielleicht hat der Kerl Karin Gewalt angetan? Es aus ihr herausgepresst? Ihr gedroht, er würde ihr den Stecker herausziehen sollte sie nicht reden? Ihr gedroht, er würde ihre Tür solange aufstehen lassen bis ihre Innereien alle verdorben wären? Ihr gedroht, sie von einer Recyclingfirma abholen zu lassen, die für ihre ganz speziellen Verschrottungsmethoden bekannt ist?“

„Oh was für ein fieser Kerl! Oh was für ein gemeiner Einer!“


Er durfte Max nicht finden! Weglaufen war unmöglich. Der Kerl versperrte den Ausgang. Max lehnte sich so weit wie möglich zurück, so dass er durch die Nischenverkleidung ganz verdeckt wurde. Von der Eingangstür aus würde man nur auf die Silhouette eines aufgerissenen Tomatenmundes blicken. Allerdings konnte Max so den Kerl auch nicht mehr sehen. Max suchte vergebens nach einer reflektierenden Oberfläche, auf der sich der Eingangsbereich vielleicht spiegeln würde. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu warten. Er zwang sich dazu, langsam bis zehn zu zählen. Sein Herz pochte wie wild in seinem Hals und seine Hände waren mit kaltem Schweiß überzogen. Alles in ihm war bis auf das Äußerste angespannt. Hatte der Kerl sich umgesehen und war wieder gegangen als er Max nicht fand? Hatte er sich vielleicht gesetzt und wartete? Dann müsste doch die Zwiebel oder der Lauch zu ihm, um die Bestellung aufzunehmen. Aber die beiden waren immer noch hinter der Theke und machten keine Anstalten, sich von dort fortzubewegen. Vielleicht war der Kerl ja wirklich gegangen. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Er mahnte sich zur Ruhe. Wieder zwang er sich bis zehn zu zählen. Lauch und Zwiebel waren immer noch hinter der Theke. Er hielt es nicht länger aus. Wie in Zeitlupe kam er mit dem Kopf nach vorne, bis er zur Tür sehen konnte. Der Platz, an dem der andere eben noch gestanden hatte, war leer. Hatte Max ihn vorhin überhaupt gesehen oder hatten ihm seine Nerven einen bösen Streich gespielt?

„Hallo“, sagte eine Stimme direkt vor ihm. Er fuhr herum und blickte in ein Gesicht mit altmodischer Hornbrille. Ohne Zweifel das Gesicht aus dem Wohnzimmer seiner unbekannten Bekanntschaft. Wie kam er so plötzlich hierher? Um dorthin zu gelangen hätte er doch an Max vorbeigehen müssen! Wieso hatte er ihn nicht bemerkt? Max blieb keine Zeit für weitere Überlegungen. Sein Körper wollte nicht warten, bis sein Kopf zu Ende gedacht hatte. Das hätte erfahrungsgemäß ewig gedauert und mit Sicherheit schmerzhafte Folgen gehabt. So gut kannte ihn sein Körper schon. Deshalb sprang sein Rumpf reflexartig auf und stieß mit aller Kraft seinem Gegenüber den Tisch gegen die Beine, um wieder etwas Abstand zu ihm zu bekommen. Halb aus Schmerz und halb aus Überraschung heulte der Fremde kurz auf. Der Tomatensaft war umgefallen und hatte sich über dessen Hose ergossen. „Jetzt schau dir das an! Ich blute!“, stieß er hervor. Max wollte weglaufen, doch er war in der Aufregung zur falschen Seite aufgesprungen. Anstatt in Richtung Theke und damit in Richtung Ausgang war er einfach kopflos weiter nach hinten in den Raum gehastet, der nun eine Sackgasse in seinem Rücken bildete. Vor ihm formte der immer noch fassungslos auf das Rot seiner Hose starrende Fremde ein unüberwindliches Hindernis. Hätte ihn sein Körper besser mal weiterdenken lassen statt kopflos zu handeln. Nun saß er in der Falle. Gleich würde sein Gegenüber sich von dem Schreck erholt haben. Gleich würde er merken, dass das Rot nur gesunder Tomatensaft war, der lediglich für die Hose eine tödliche Gefahr darstellte.

Die Flecken würden niemals wieder rausgehen.

Die ehemals weiße Hose war am Ende ihrer Tage angelangt.

Der Fremde blickte zu ihm auf und Max glaubte, einen Killerinstinkt zu erkennen, der den Terminator dagegen wie einen barmherzigen Samariter erscheinen lies.

„Wie hieß der Kerl eigentlich?“, ging es in seinem Kopf los.

„Wer?“

„Na der Terminator.“

„Ach der. Der hieß doch T… T… T was-weiß-ich. Ich kann mir einfach keine Namen merken.“

„Nein, ich meine den Schauspieler.“

„Ach der! Das war doch dieser… dieser… dieser Bodybuilder.“

„Genau der!“

„Der… der… der zuletzt einen Gouverneur gespielt hat.“

„Genau!“

SCHWARZENEGGER!’, schrie Max in seinen Kopf. ‚UND KÖNNTEN WIR UNS JETZT WIEDER AUF DIE RETTUNG UNSERES ARSCHES KONZENTRIEREN? ICH KÖNNTE HIER ETWAS UNTERSTÜTZUNG GEBRAUCHEN!’

„Ach, reg dich ab. So toll ist der jetzt auch wieder nicht.“

„Wer? Schwarzenegger?“

„Nein, unser Arsch.“

„Ach der.“

Max wusste für einen Moment nicht, was ihn mehr aufbrachte: die Angst vor dem Fremden oder die Wut über die Ignoranz der Situation in seinem Kopf. Die Wut siegte. Doch er konnte sich schlecht selbst verprügeln. Also warum sollte dann nicht wenigstens jemand anderes herhalten? Sein Gegenüber hatte es auf ihn abgesehen. Warum sollte er da seine Haut nicht so teuer wie möglich verkaufen? Er könnte ihm wenigstens noch ein bisschen wehtun bevor er unterging. Einer musste schließlich für seinen Kopf den Kopf herhalten. Und hieß es nicht immer Angriff sei die beste Verteidigung? In seinem Kopf wurde unterdessen zielgerichteter diskutiert.

„Eine Waffe wäre nicht schlecht. Doch woher nehmen? An diesem Ort? Zu dieser Stunde?“

„Das ist doch auch aus diesem Film. Der mit dem Flugzeug. Die… die… die… unglaublich, was man alles so vergisst.“

„Film, gutes Stichwort! Im Film hätte der böse Bube ein Messer gezogen und sein zunächst wehrloses Opfer würde daraufhin geistesgegenwärtig eine herumstehende Flasche zerbrechen, um sich mit deren messerscharfen Kanten zu verteidigen. Also, lasst uns eine Flasche suchen!“

„Das dürfte nicht allzu schwer sein. Laufen ja genug davon herum…“

„Schnauze, Scherzkeks!“

„Nur gut, dass wir soviel Fern sehen. Da behaupte noch einer, das würde verblöden!“

„Um wieder auf die Flasche zurückzukommen…“

„Folget der Flasche!“

„Jehova! Jehova!“

„Jeder nur ein Kreuz!“

„NOCH EIN WORT UND IHR KOMMT DORTHIN, WO ES AM DUNKELSTEN IST!“, schrie die Chefstimme.

„Hier unten ist kein Platz mehr!“, protestierte es aus ungewohnter Tiefe.

„MAX, SUCH EINE FLASCHE!“

Max sah sich hastig um. Auf dem Nachbartisch standen noch die Reste einer Mahlzeit, deren überwiegender Teil das Lokal mit ihrem neuen Besitzer schon längst verlassen hatte. ‚Schlampiges Personal. Das gibt Punktabzug in der B-Note. Auch wenn sie nur lausige Billigjobs hier haben. So kriegen die nie einen Stern.’ Keine Flasche zu sehen. Nur ein Pappbecher, der bis vor Kurzem noch einen halben Liter Milch in seinem Innern beherbergt hatte. Max glaubte nicht, dass dessen Bruchkanten sein Gegenüber in irgendeiner Weise beeindrucken würden. Da soll noch einmal einer sagen, Milch wäre gut für die Gesundheit! Für seine Gesundheit wäre eine Flasche Bier jetzt eindeutig besser. Aber bei seinem Glück wäre das bestimmt eine dieser neumodischen PET-Flaschen. Wie hieß es so schön in der Werbung? Unkaputtbar! Es lebe der Fortschritt. Und die Kerze auf dem Tisch, die Max so unpassend wie eine Rose in einem Trümmerfeld vorkam und wohl ein Hauch Atmosphäre in diesen Raum bringen sollte, war auch nicht wirklich als Waffe zu gebrauchen. Es sei denn, sein Gegenüber hätte eine ausgeprägte Wachsallergie. Die Wahrscheinlichkeit stufte Max allerdings als recht gering ein.

„Vielleicht könnten wir dem Anderen mit voller Wucht die leere Pappschachtel entgegenschleudern und hoffen, dass ihn das wenigstens in totale Verwirrung stürzt?“

„Wie bitte?!?“

„War nur so ne Idee…“

Diese blöden Vegetarier! Von wegen gesund! Diese Ernährung war für den Verteidigungsfall völlig ungeeignet und damit höchsten Grades ungesund! Welch Verletzungspotential dagegen doch eine als Wurfgeschoss genutzte gut durchgebratene Frikadelle hätte! Ein Eisbein in den falschen Händen könnte eine kosmische Katastrophe auslösen! Und schon allein der Anblick von triefenden Fritten aus altem Fett würde den gesündesten Körper praktisch innerhalb von Sekunden kollabieren lassen.

„Hätten wir doch vorhin wenigstens einen Körnerweck bestellt. Dann könnten wir gezielt Kerne in sein Auge spucken und uns so einen kleinen strategischen Vorteil verschaffen.“

„Oder wenn wir doch wenigstens furzen könnten. Das hat bisher noch jeden in die Flucht geschlagen. Aber nein! Wo sind die Blähungen, wenn man sie mal braucht?“

„Nicht einmal eine Knoblauchfahne haben wir.“

„Und der normale Mundgeruch, mit dem wir bisher noch jedem Zeugen Jehovas den Rest gegeben haben, reicht einfach nicht auf diese Entfernung. Na toll!“

„Vielleicht sollten wir einfach auf einen plötzlichen Herztod des Anderen hoffen? Das Universum machte ja manchmal die absurdesten Scherze.“

„?!?“

„War ja nur so ein Gedanke…“

„Wenn wir wenigstens eine stabile Lauchstange finden würden, die wir ihm in die Brust rammen könnten…“

Zwiebelreste für die Augen? Keine da! Verschimmeltes Obst als Asthmaauslöser? Nichts! Gemüse mit Pestizidrückständen? Fehlanzeige! Ihm blieb keine andere Wahl, als seinen Körper als Waffe einzusetzen. Und das konnte ganz schön gefährlich werden.

Für ihn.


Mittlerweile war der Lauch auf dem Weg zu ihnen, um nach dem Rechten zu sehen. Er hatte gerade den Fremden erreicht, als Max Anlauf nahm und mit vorgestreckten Händen auf sie zustürzte.

„Genialer Plan!“, hieß es in seinem Kopf.

„Ja, wenn wir diese Masse nur ausreichend beschleunigen haben wir genug Energie für ein Massaker!“

„Du siehst zuviel fern!“

„Reine Physik! Kraft gleich Masse mal Beschleunigung!“

Mit Wut verzerrter Mine und dem Aufschrei „ICH BIN NICHT DICK!“ traf Max mit voller Wucht auf den Fremden, dessen Gesicht absolute Fassungslosigkeit widerspiegelte. Durch den Stoß klatschten der Fremde und der Lauch wie Billardkugeln zusammen und fielen mit Queue Max zu Boden. Der Lauch federte den Aufprall etwas ab. Für Max hätte der Lauch ruhig etwas reifer sein können. Das hätte eine bessere Dämpfung ergeben. Im Fallen musste er sich eingestehen, dass er seine Durchschlagskraft etwas unterschätzt hatte.

Was aber unter keinen Umständen auf seinem Gewicht beruhte!

Da Max als Einziger auf diesen Vorstoß vorbereitet war, hatte er sich auch als Erster wieder aufgerappelt und wollte wegrennen, bevor der Fremde wieder auf die Beine kam. Doch er zwang sich noch einen Moment zu warten. Er zielte und versetzte dem Anderen einen heftigen Tritt ans Schienbein. Sicher war sicher. Der Fremde heulte auf und krümmte sich vor Schmerz. Dabei wand er sich auf dem Lauch hin und her, der immer noch hilflos unter ihm zappelte und dieses Ereignis zweifellos als weiterer Tiefpunkt des Tages auf seine imaginäre Hitliste setzte. Max wollte losrennen, doch jetzt versperrte die untersetzte Zwiebel seinen Weg. Sie blickte ihn aus ihrem Grünansatz ängstlich an und hob schützend die Hände vor die Brust. Damit sah sie wie ein bizarrer Prellbock aus, der dem unausweichlichen Aufprall eines ungebremsten ICE der neusten Generation in voller Fahrt – und mit gebrochenen Radreifen – tapfer entgegen sieht. „He, ganz ruhig, Kumpel…“, begann sie. Zur Deeskalation einer Krise waren Zwiebeln noch nie besonders gut geeignet. Sie konnten sich einfach nicht in die vertrackten Gedankengänge eines Psychopaten einfühlen.

Außerdem reizten sie die Augen.

„Ich habe diesem vermatschten Lauch schon gesagt, dass ich noch nie mit dem Essen gespielt habe! Ich verbiete mir, von einer gewöhnlichen Feld-, Wald- und Wiesenzwiebel geduzt zu werden! Kapiert? Und jetzt geh mir aus dem Weg, bevor ich dich würfele und in Butter anschwitze! Klar?“

Die Zwiebel versuchte es erneut. „He, ganz ruhig, Kumpel…“ Ihr Repertoire war eben recht übersichtlich. Sie hätte vielleicht mehr Krimis im Fernsehen anschauen sollen. Dort lernte man was für´s Leben.

„Ich schneide dich in Ringe und verteile deinen Saft im ganzen Raum, wenn du nicht augenblicklich…“

In diesem Moment spürte Max, wie sein Bein umklammert wurde. Die Wirkung des Tritts hatte nachgelassen und der Fremde hielt nun seinen Fuß wie ein spanischer Frauenschuh fest umschlossen. Max verlor sein Gleichgewicht und dachte noch im Fallen: ‚Unbedingt merken. Das nächste Mal fester zutreten.’ Kaum hatte er mit dem Rücken den Boden berührt, sah er von oben einen Schatten auf ihn zukommen, der rasch größer wurde. Die Zwiebel hatte die Gunst des Augenblicks genutzt und warf sich mit ganzem Körpereinsatz auf Max. „BANZAI!“, schrie sie. Dummerweise hatte sie ihre Polsterung unterschätzt und prallte wie ein Gummiball zurück, nachdem sie Max für einen Moment unter sich begraben hatte. Zwiebeln waren auch keine guten Wrestler. Eigentlich waren sie nur zum Kochen geeignet. Nun trat der Lauch ihre Nachfolge an und stürzte sich ebenfalls auf den immer noch benommenen Max. Jeder, der schon einmal von einer Lauchstange angefallen wurde, weiß, wie schlecht diese gepolstert sind. Diesmal federte nichts zurück und die Luft entwich mit einem Stoß aus seiner Lunge wie aus einem überforderten Blasebalg. Ein erfolgreiches Wiedereinatmen wurde durch den Fremden verhindert, der sich als Zugabe über die beiden warf. ‚So müssen sich Oliven fühlen. Nie mehr Olivenöl. Die armen Dinger!’, dachte Max, bevor ihm schwarz vor Augen wurde.

Welt mit kleinen Fehlern günstig abzugeben

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