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Ostfriesischer Volkssport

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»Siehst du«, sagte Stahnke in belehrendem Ton, »das ist der wahre ostfriesische Volkssport! Schultern vor, Knie beugt, das Sportgerät fest im Griff, Ziel anvisieren, und dann immer kräftig. Vor allem schön im Rhythmus. Was ist dagegen schon Boßeln!«

»Aaah ja.« Kramer verzog keine Miene. »Und wie nennt sich dieser, äh, Volkssport?«

»Na wie wohl.« Stahnke zuckte die Schultern. »Pflastern natürlich.«

Kramer nickte, was aber vor allem am Zustand der Straße lag, über den ihr betagter Dienstwagen schaukelte. Der Logaer Weg glich einer Berg-und-Tal-Bahn, bestens geeignet als Teststrecke für Offroad-Fahrzeuge und deren Bereifung, schon wegen seiner Patchwork-Oberfläche. Da war wirklich alles dabei, sogar Kopfsteinpflaster.

Hauptkommissar Stahnke bedachte seinen Kollegen mit einem verkniffenen Seitenblick. Hin und wieder könnte er wirklich über einen meiner Witze lachen, dachte er, schließlich bin ich sein Vorgesetzter. Oder er könnte wenigstens so tun. Aber nein, nichts da. Guckt teilnahmslos aus der Wäsche wie ein Stein. Wie ein Pflasterstein, ha!

Stahnke gluckste. Kramer schüttelte den Kopf. Lag wohl immer noch an der schlechten Straße.

Auf den Grundstücken linker Hand wurde eifrig gepflastert. Runde Rücken in kariertem Flanell krümmten sich unter heißer Sommersonne, kräftige Arme holten rhythmisch aus, dumpfe Schläge gummiarmierter Hämmer hallten von Häuserwänden und den Bäumen des gegenüberliegenden Parks wider. Jede zweite oder dritte Auffahrt schien fällig zu sein. Wahrlich, dachte Stahnke, wenn Pflastern der wahre ostfriesische Volkssport ist, dann ist das hier das Trainingslager.

»Bist du sicher, dass er zu Hause ist?«, fragte Kramer. »Ans Telefon gegangen ist er ja nicht.«

»Ich bin sicher«, erwiderte Stahnke. »Hab’ mich bei den Nachbarn erkundigt. Er ist da, auf seinem Grundstück.«

»Und was treibt er da?«

»Rate mal.«

Das Haus von Ortwin Globisch lag im Nordosten von Leer, fast auf der Grenze zwischen Heisfelde und Loga, da, wo die Wohnbebauung sachte ins Landwirtschaftliche überging. Die Grundstücke waren groß dort, sehr groß. Manchem, der kein leidenschaftlicher Gärtner war, waren sie allzu groß. So hatte man im Laufe der Jahre viele Parzellen aufgeteilt, hatte Häuser in zweiter Reihe gebaut. Platz war ja reichlich vorhanden, und alle waren zufrieden.

Fast alle. Ortwin Globisch gehörte nicht dazu.

Stahnke lenkte den Dienstwagen durch beschauliche Nebenstraßen. Das Schaukeln hatte aufgehört und damit auch Kramers Kopfbewegungen. »Warum müssen wir das eigentlich machen?«, fragte der Oberkommissar. »Die Frau ist doch nur als vermisst gemeldet.«

Stahnke schwieg. Unter den verschiedenen Fachkommissariaten half man sich gegenseitig aus, das wusste Kramer ebenso gut wie er. Außerdem hatte er so ein Gefühl. Mehr als das. Aber er behielt es lieber für sich.

Da war die richtige Straße. Stahnke spähte nach den Hausnummern. Viele waren überwuchert, ausgeblichen, abgeblättert oder schlicht nicht vorhanden. Dies hier war eben kein Neubauviertel. Jedenfalls nicht in der ersten Reihe. Aha, dort war die 23. Jetzt einfach abzählen: 25, 27, 29. Der Hauptkommissar stoppte den Wagen am Bordstein. »Wir sind da.«

»Hausnummer 29 a«, sagte Kramer. »Also zweite Reihe, oder?«

»In der Tat.« Stahnke nickte bedeutungsvoll. Kramer runzelte die Stirn.

Die Auffahrt von Nummer 29 war schmal, und die Backsteine, mit denen sie befestigt war, wiesen tiefen Spurrinnen und breite Ritzen auf, aus denen das Unkraut hervorquoll. Müsste auch mal in Ordnung gebracht werden, dachte Stahnke im Vorübergehen. Am besten gleich neu gepflastert. Ha!

Ein älterer Mann werkelte im Garten, schob eine Karre mit Grünabfällen nach hinten und beäugte die Besucher kritisch, ohne sie anzusprechen. An der hinteren Grundstücksgrenze war die Auffahrt mit Flechtzaunelementen versperrt; nur ein schmaler Durchlass bestand noch, durch den man einen Blick auf das Haus Nummer 29 a erhaschen konnte, das deutlich jüngeren Datums war als das vorne gelegene.

»Was ist das denn für ein Blödsinn?«, fragte Kramer. »Die Bewohner des Hintergrundstücks benötigen doch diese Durchfahrt! Wie sollen die denn jetzt mit dem Auto zu ihrem Haus kommen?«

»Da sagst du was Wahres.« Stahnke schmunzelte. »Aber mit Vernunft hat das hier auch wenig zu tun. Eher mit einem weiteren ostfriesischen Volkssport.«

»Und welcher soll das nun wieder sein? Nachbarn ärgern?«

»Genau«, sagte Stahnke. »Ärgern und verklagen.«

Die beiden Kriminalbeamten zwängten sich durch die Zaunlücke. Rhythmische, dumpfe Schläge tönten ihnen entgegen. Ortwin Globisch war tatsächlich zu Hause. Er kniete auf seiner Auffahrt, den Rücken krumm, den armierten Hammer fest umfasst, den nächsten Betonstein in seinem planierten Sandbett fest im Blick. Tuck, tuck, tuck. Und ein Griff nach links, neuer Stein, knirschend eingepasst. Tuck, tuck, tuck. Globisch arbeitete konzentriert und flott. Allerdings tat er dies an seiner rückwärtigen Grundstücksgrenze, dort, wo bis vor Kurzem offensichtlich noch ein Blumenbeet gewesen war.

»Warum tun die Leute das?«, fragte Kramer.

»Was? Nachbarn ärgern und verklagen?«

»Quatsch, nee. Pflastern!«

»Tja«, erwiderte Stahnke nachdenklich, »da gibt es eine Menge praktischer Gründe. Der viele Regen, der den Boden aufweicht, der ganze Schmutz, klar. Aber mit festen, sauberen Wegen allein ist es natürlich nicht getan. Der echte Ostfriese hört dann noch lange nicht auf zu pflastern, im Gegenteil, dann fängt er erst richtig an. Autostellplatz, noch einer für den Zweitwagen und einer für Gäste, dann die Terrassen, eine pro Himmelsrichtung außer nach Norden, außerdem Grillplatz, Kaminholzplatz, feste Gründung für den Werkzeugschuppen, den Geräteschuppen, den Fahrradschuppen. Und natürlich die Wege dazwischen, man will ja überall hinkommen können, ohne unversiegelten Erdboden zu betreten, wie die kleinen Kinder bei Himmel und Hölle. Das hat schon was von Besessenheit, nicht wahr? Als ob die Leute hier sich immer noch vor der Natur fürchten und sie daher möglichst wenig sehen wollen. Oder als ob sie sonst etwas zu verbergen hätten.«

»Danke«, sagte Kramer, »ich ziehe die Frage zurück.«

Globisch bemerkte die beiden Kripobeamten erst, als ihre Schatten auf seine Arbeit fielen. Er guckte hoch, blinzelte, nickte grüßend. »Schon was Neues?«, fragte er.

Stahnke schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Nach wie vor keine Hinweise auf den Aufenthaltsort Ihrer Mutter.«

Globisch nickte, grunzte, wandte sich wieder seinen Pflastersteinen zu. Tuck, tuck, tuck.

Kramer stemmte die Fäuste in die Hüften und starrte seinen Vorgesetzten mit erhobenen Augenbrauen an. Für ihn kam das einem Gefühlsausbruch gleich, ausgelöst durch den absoluten Mangel an Gefühlen, die dieser Globisch angesichts des Verschwindens seiner eigenen Mutter zeigte. Stahnke aber ignorierte Kramers Gebaren, woraufhin dieser schnell in seine gewohnt stoische Haltung zurückfiel.

»Neue Auffahrt?«, fragte der Hauptkommissar stattdessen Globisch. »Jetzt also doch? Aber in dieser Richtung ist doch der Graben.«

»Plattenbrücke«, stieß Globisch hervor, ohne von seinem Tun abzulassen oder sich gar umzudrehen. »Betonguss. Ist schon in Auftrag gegeben. Nach vorne hin mach’ ich dicht. Sehen Sie ja.«

»Aber warum?«, fragte Stahnke. »Vor Gericht haben Sie doch gewonnen.«

Der Kniende schnaubte zur Bestätigung. »Schon. Aber diese Bedingungen! Nur ein Auto, Schritttempo, Gäste nur nach Anmeldung – nee, nee. Jetzt mach’ ich das lieber richtig. Hinten verläuft ja der Bauernweg, für Anlieger frei. Da baue ich mir eine eigene Zufahrt, gegen die dann keiner etwas sagen kann.«

Stahnke drehte sich um. In der Zaunlücke waren der eisengraue Haarschopf und das gebräunte Gesicht des älteren Mannes vom Vordergrundstück zu sehen, mit halboffenem Mund und zusammengekniffenen Augen. Eilig entfernte sich der Mann, eine Karre voll Kompost vor sich her schiebend.

Tuck, tuck, tuck machte Globischs Gummihammer.

Der Hauptkommissar nahm Kramer bei der Schulter und zog ihn ein paar Schritte beiseite, außerhalb der Hörweite des Hausherrn, obgleich der sie gar nicht weiter beachtete. »Globisch hat dieses Grundstück geerbt, samt Haus«, erläuterte er. »Von seiner Großmutter, der alten Frau Janssen. Seine Mutter bekam Haus und Grundstück an der Straße. Beide sind jeweils Einzelkinder und damit die einzigen Erben.«

»Da hat unser fleißiger Freund hier aber das bessere Schnäppchen gemacht«, kommentierte Kramer. »Der Schuppen da vorne ist doch uralt. Das Dach hängt durch, keine Iso-Fenster, und wer weiß, wie es da drinnen aussieht.«

Stahnke nickte. »Frau Janssen war von ihrem Erbanteil auch sehr enttäuscht.« Auf Kramers fragenden Blick hin erläuterte er: »Verwitwete Globisch. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie ihren Mädchennamen wieder angenommen. Ihr Sohn, so heißt es, soll ihr das sehr übel genommen haben.«

Kramer nickte langsam. Hinter seiner Stirn arbeitete es sichtlich.

»Eigentlich hatte Frau Janssen sowieso damit gerechnet, den gesamten Immobilienbesitz ihrer Mutter überschrieben zu bekommen. Auf jeden Fall aber fand sie, ihr stehe das bessere Haus zu. Das Testament war jedoch eindeutig und nicht anfechtbar, eine Klage sinnlos. Also hat sie ihrem Ärger auf andere Art Luft gemacht, nämlich mit Schikane.«

Stahnke machte eine Pause, lauschte auf das Tuck, tuck, tuck von Globischs Hammer und dem Quietschen der Schubkarre vom Vordergrundstück. Als Kramer ihm nicht den Gefallen tat nachzufragen, seufzte der Hauptkommissar und fuhr ohne dies fort.

»Sie fand nämlich heraus, dass die Teilung der ursprünglichen Parzelle niemals ins Grundbuch eingetragen worden war. Erschien ja auch unnötig, da beide Grundstücke der alten Frau Janssen gehörten. Eine Eintragung hätte nur unnötige Kosten verursacht, glaubte man. Erst, nachdem die Grundstücke vererbt worden waren, wurde das zum Problem. Beziehungsweise zur Chance, Ärger zu machen.«

Kramers Gesicht blieb steinern, trotzdem hatte Stahnke das deutliche Gefühl, dass sein gewöhnlich so scharfsinniger Kollege nicht darauf kam, wo der Hase im Pfeffer lag. Das freute ihn diebisch. Einige Sekunden lang weidete er sich daran, dann stampfte er mit dem Fuß auf. »Hier liegt das Problem. Wir stehen drauf! Es ist diese Auffahrt hier.«

»Klar«, sagte Kramer. »Das Überwegungsrecht. Wird ein Grundstück geteilt und der hintere Teil bebaut, muss das Überwegungsrecht von der Straße nach hinten ins Grundbuch eingetragen werden. Geschieht dies nicht, hängt es vom Besitzer oder Mieter des vorderen Teils ab, ob er dem sogenannten Hintersassen eine Überquerung gestattet. Oder eben nicht.«

Die Miene des Oberkommissars blieb unbewegt, trotzdem fühlte sich Stahnke seines kleinen Triumphs beraubt. Seine breiten Schultern sanken ein wenig herab. »Richtig«, bestätigte er. »Beide Häuser waren zum Zeitpunkt des Erbfalles vermietet, aber Mutter Janssen kannte den Mieter des Hauses, das sie erbte, recht gut. Der Typ ist Tiefbauarbeiter, im Kopf eher schlicht, aber dafür streitsüchtig. War wohl nicht weiter schwer, den so weit aufzustacheln, dass er anfing, seinen Nachbarn vom Hintergrundstück, mit dem er bis dahin recht gut ausgekommen war, zu schikanieren und ihm das Leben schwer zu machen.«

»Ostfriesischer Volkssport«, repetierte Kramer. »Nachbarn ärgern.«

»Ärgern und verklagen«, korrigierte Stahnke. »Der Hintersasse spielte das Spiel nämlich mit und übernahm den Klagepart. Sein frischgebackener Vermieter, der Herr Globisch, sprang ihm bei, weil er sich von seiner Mutter nicht alles bieten lassen wollte, beide erwirkten zusammen eine Einstweilige Verfügung auf freie Überfahrt, und so konnte Frau Janssen nicht anders, als Gegenklage zu erheben. So standen sich denn Mutter und Sohn vor Gericht gegenüber.«

»Klassisch«, sagte Kramer.

»Ein gefundenes Fressen für die ganze Siedlung«, bestätigte Stahnke. »Um es mal abzukürzen, Globisch gewann, bekam das Überwegungsrecht für den jeweiligen Hausbewohner zuerkannt, wenn auch unter Auflagen, wie eben gehört. Mutter Janssen schäumte und versprach noch im Gerichtsgebäude, dass das nicht das letzte Wort gewesen sei. Sie werde sich schon noch etwas einfallen lassen.«

»Und dann?«, fragte Kramer.

»Dann«, antwortete Stahnke mit funkelnden Augen, »dann war die alte Ziege weg.«

»Äh … wieso?« Der Oberkommissar schaute jetzt doch verwirrt. »Gehörte etwa auch eine, äh, alte Ziege zum Erbe?« Noch während er sprach, schien er endlich zu begreifen.

Stahnke bot alle Selbstbeherrschung auf, die ihm zu Gebote stand, um nicht loszubrüllen vor Lachen. »Du fluchst nicht oft, nicht wahr?«, fragte er scheinheilig. »Man merkt’s.«

»Stimmt«, antwortete Kramer mit drohendem Unterton. »Aber ich weiß durchaus, wie das geht. Also bitte.«

»Alte Ziege ist eine sehr verbreitete Bezeichnung für Frau Janssen«, fuhr Stahnke eilig fort. Er war froh, den stets bestens informierten Kramer endlich einmal vorgeführt zu haben, wollte es aber nicht ernstlich mit ihm verderben. »Hier in der Siedlung, meine ich, wo man sie kennt. Die Kollegen haben mal rumgefragt und wenig Schmeichelhaftes zu hören bekommen. Die Dame scheint sich mit fast jedem angelegt zu haben, immer wegen Kleinigkeiten, und pflegte sich dabei schnell im Ton zu vergreifen. Freunde hat sie sich auf diese Art kaum gemacht. Halbwegs ausgekommen ist sie nur mit Becker, ihrem Mieter. Der soll ihr charakterlich recht ähnlich sein.«

»Becker. Ist das der Mann, der da vorne im Garten arbeitet?«

»Das ist sein Vater. Becker junior ist bei der Arbeit, außerdem hat er mit Gartenarbeit nichts im Sinn, spielt lieber Fußball und Skat. Der Senior war früher Steuerberater, ist jedoch frühpensioniert und kümmert sich seitdem hier um den Garten und alles andere.«

»Das kann man wohl sagen«, bestätigte Kramer, den Blick auf die Zaunlücke gerichtet. Als Stahnke sich umwandte, war bereits nur noch das sich entfernende Quietschen der Schubkarre zu hören.

Tuck, tuck, tuck ertönte es von der anderen Seite. Das Geräusch schien von den Häuserwänden widerzuhallen. Vielleicht aber waren das auch nur andere Nachbarn, die ebenfalls pflasterten.

»Frau Janssen ist also als vermisst gemeldet«, nahm Kramer den Faden wieder auf. »Wie lange noch gleich?«

»Seit über einer Woche«, sagte Stahnke. »Auto, Pass, Handy, Koffer, Kleidung – alles noch da, in ihrer Wohnung. Sehr unwahrscheinlich, dass sie einfach nur verreist ist.«

»Du meinst, jemand hat sie verschwinden lassen?«

»Das meine nicht nur ich«, antwortete Stahnke.

»Und der Hauptverdächtige ist der mit dem stärksten Motiv.« Kramer machte eine Kopfbewegung über die Schulter, dorthin, wo es weiterhin tuck, tuck, tuck machte. »Also der Sohn, Ortwin Globisch.« Er fixierte seinen Vorgesetzten. »Meinst du, dass er sie hier …?« Vorsicht tippte er mit der Fußspitze auf das frisch verlegte Pflaster, dessen Fugen noch nicht einmal verschlämmt waren. »Hier? Auf seinem eigenen Grund und Boden?«

Stahnke zuckte die Achseln. »Warum nicht? Wenn er doch sowieso gerade pflastert … Was könnte unauffälliger sein?«

»Aber dann hätte er das Grab seiner Mutter doch stets und ständig vor Augen!« Kramer breitete seine Arme aus: »Er würde sogar förmlich … darauf herumtrampeln!«

Stahnke schmunzelte. »So, wie ich Globisch und sein Verhältnis zu seiner Mutter einschätze, würde ihn das nicht weiter stören.«

Kramer schüttelte nur den Kopf.

Endlich einmal entgleisen ihm seine Gesichtszüge, freute sich Stahnke innerlich. Endlich einmal kann man von seiner Miene etwas ablesen. Und wenn es auch nur Verständnislosigkeit ist.

»Sagtest du nicht, Globisch hätte sein geerbtes Haus vermietet?«, fragte Kramer nach einer Pause.

Stahnke nickte. »Er hatte. Aber sein Mieter hat inzwischen gekündigt. Kann man ja auch verstehen nach dem ganzen Ärger. Zwar haben Globisch und er vor Gericht gesiegt, aber das Verhältnis zu seinem direkten Nachbarn war danach natürlich zerstört. Wer will schon neben solch einem Streithammel wohnen?«

Kramer blickte sich demonstrativ um. »Tja, ganz schön ländlich, die Gegend. Ziegen gibt es hier. Und jetzt auch noch Hammel!« Der Oberkommissar fixierte seinen Vorgesetzten: »Fehlt nur noch ein Hund.«

Jetzt war es an Stahnke, ratlos zu gucken: »Hä?«

Kramer lächelte zufrieden. »Ein Leichenspürhund natürlich, was sonst? Anscheinend bis du dir deiner Sache ja schon sicher und hast mich nur mit hierher geschleift, um Globisch nach vollendeter Überführung einzusacken. Also, was ist, wo bleibt der Leichenhund?«

Stahnke seufzte ergeben. Hatte er wirklich gedacht, Kramer länger als ein paar Sekunden hinters Licht führen zu können? Er schaute auf seine Armbanduhr. »Hundeführer und Hund sind bestellt«, sagte der Hauptkommissar. »Es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis sie eintreffen.«

»So.« Kramer verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und wippte auf seinen Fußballen auf und ab. »Der Sohn also. Erbt er?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Stahnke. »Globisch und seine Mutter haben sich doch gehasst und zuletzt bis aufs Messer bekämpft. Klar, dass sie ihn enterbt hat. Bis auf den Pflichtteil.«

»Aha.« Kramer wippte weiter. »Als Motiv bliebe also Hass, nicht aber Gewinnsucht. Ein starkes Motiv, aber nicht so stark wie beides zusammen. Du sagtest, Frau Janssen sei verwitwet gewesen?«

»Ja, in der Tat. Aber …«

»Lebte sie allein?«

»Keine Ahnung.« Stahnke brauste auf: »Sag mal, wird das hier ein Verhör?«

Kramer ging nicht darauf ein. »Ich habe das Foto gesehen, das die Vermisstenstelle von ihr hat. Nicht mehr die Jüngste, aber doch ansehnlich restauriert. Die lebte bestimmt nicht allein, habe ich mir gedacht. Wozu sonst dieser Aufwand?«

Stahnke zuckte stumm die Achseln. Kramers Auftritt verschlug ihm die Sprache.

»Und tatsächlich hatte sie einen neuen Lebenspartner. Ein Anruf hat genügt, um das herauszufinden. Vorhin, als du mich losgeschickt hast, einen Wagen holen. Per Handy.« Er schnippte mit den Fingern. »Mal eben so.«

Jetzt sackte dem Hauptkommissar auch noch der Unterkiefer weg.

»Bei Frau Janssen ging die Liebe nicht durch den Magen, sondern durchs Portemonnaie«, fuhr Kramer fort. »Sie war schon seit ihrer ersten Ehe nicht arm, aber als durch den Tod ihrer Mutter noch ein weiteres Haus samt Grundstück und Mieteinnahmen dazu kam, suchte sie sich professionelle Hilfe. Denn nichts war ihr verhasster, als Steuern zu zahlen. Zum Glück fand sich schnell jemand, der ebenso wenig Skrupel hatte wie sie und sie davor bewahrte. Ebenfalls schon angegraut, aber noch gut erhalten. Zum Dank ließ sie ihn nicht nur an ihr Geld, sondern auch in ihr Bett.« Einmal noch wippte Kramer, und seine Augenbrauen schienen dabei oben zu bleiben. »Der Mann ließ sich nicht lange bitten und griff zu. Allerdings etwas gründlicher, als Frau Janssen erwartet hatte, denn er war ebenso habgierig wie sie.«

Stahnke klappte den Mund wieder zu. Er ahnte, wen Kramer angerufen hatte.

»Er nahm sie regelrecht aus, brachte Teile ihres Besitzes in die eigene Hand und hatte das wohl mit dem Rest noch vor. Frau Janssen aber kam dahinter«, fuhr der Oberkommissar fort. »Es gab eine Auseinandersetzung, eine lautstarke, wie mein Telefonpartner berichtete. Seitdem ist Frau Janssen verschwunden.«

Über die Auffahrt des vorderen Grundstücks näherten sich Schritte. Ein uniformierter Polizeibeamter erschien in der Zaunlücke, einen erwartungsvoll hechelnden Schäferhund an der Leine, und grüßte. »Wo fangen wir an? Das neue Pflaster hier?«, fragte er.

Kramer öffnete den Mund, aber Stahnke schnitt ihm das Wort ab. »Nein«, sagte er. »Eher doch nicht. Sondern im Garten des vorderen Hauses. Am besten beim Komposthaufen.«

Ein quietschendes Geräusch näherte sich. Stahnke drängte sich am Hundeführer vorbei. »Herr Becker, bleiben Sie doch einmal stehen.«

Der Mann mit dem eisengrauen Haarschopf riss erschrocken die Augen auf, ließ die Karrengriffe los und begann zu laufen. Ehe Stahnke reagiert hatte, war Kramer schon an ihm vorbei gesprintet. Becker senior schaffte es nicht einmal vom Grundstück herunter. So sehr er sich auch sträubte, gegen Kramers routinierten Griff hatte er keine Chance.

»Platz«, sagte der Hundeführer, nachdem sein Leichenhund neben dem frisch aufgehäuften Kompost angeschlagen hatte, und: »Brav.« Zur Belohnung ließ er das Tier an einem bunten Knotentau zerren. »Klarer Fall, die Leiche ist da drin.« Zu Stahnke gewandt, fügte er hinzu: »Aber das wusstet ihr natürlich schon wieder mal vorher, was?«

Der Hauptkommissar nickte versonnen. »Tja. Älterer, gieriger Liebhaber nimmt reiche Witwe aus, packt seinem eigenen Sohn die Leiche in den Garten, während der Verdacht auf den Sohn der Ermordeten fällt. Clever. Aber nicht clever genug.«

Kramer näherte sich, am Arm den inzwischen gefesselten Becker.

Stahnke beugte sich vor und raunte dem Hundeführer zu: »Jedenfalls für einige von uns.« Er grinste.

Kramer Miene blieb unbewegt wie ein Pflasterstein.

Kurz und schmerzlos

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