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Das Nageln der Dachdecker

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Stahnke wartete das Ende der Salve ab, dann duckte er sich und hastete durch den Flur, seinen Unterarm vorm Gesicht, um sich vor umherfliegenden Splittern zu schützen, schlüpfte in die Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Tief durchatmend wappnete er sich für die nächste Serie ohrenbetäubender Knalle, die auch nicht lang auf sich warten ließ.

Bang! Bang! Bang!

Der Lärm durchdrang die Zimmerdecke problemlos, und die Geschosse würden es auch tun, wenn die Holzbalken sie nicht aufhielten, da war sich der Hauptkommissar sicher. Todsicher.

Wieder eine Salve. Verdammt, wer sollte das nur aushalten! Was er jetzt brauchte, war eine Pause. Eine Feuerpause. Und er wusste auch, wie er die erreichen konnte.

Vorsichtig öffnete er die Tür zum Flur wieder. Sofort nahmen die Schießgeräusche an Intensität zu. Stahnke legte den Kopf in den Nacken und hielt beide Hände trichterförmig an die Wangen, holte tief Luft und begann aus Leibeskräften zu schreien.

»Frühstückspause! Tee ist fertig!«

Schlagartig war Ruhe.

Während die Dachdecker frühstückten, flüchtete sich Stahnke in den Garten, um die vorübergehende Ruhe auszukosten. Gelingen wollte es ihm nicht, denn das, was sich da vor seiner Nase ausbreitete, sah nicht wie eine Baustelle aus, sondern wie ein Trümmergrundstück. Dort, wo die Balken des alten Daches im Mauerwerk gesteckt hatten, waren die Klinkerwände unregelmäßig ausgezackt wie jahrhundertealte, verwitterte Burgmauern. Der Schuttcontainer quoll über, und längst nicht jeder Stein und jede Pfanne hatten ihr Ziel auch getroffen. Die ausrangierten Dachbalken bildeten dort, wo einmal Rasen gewesen war, einen wirren Haufen, der einen Panzer hätte aufhalten können, und im Vorgarten türmten sich die Reste von Leichtbauwänden und Deckenvertäfelungen. Alles war mit einer dicken, knirschenden Schicht Mörtelstaub überzuckert. Drinnen wie draußen, denn auf die Idee, den Durchbruch der Flurtreppe zum Dachgeschoss abzudecken, waren die Handwerker erst mit einiger Verspätung gekommen.

Stahnke seufzte. Warum nur hatte er sich für die Zeit des Umbaus Urlaub genommen, statt in aller Ruhe Verbrecher zu jagen? Um genau dieses Szenario im Auge behalten zu können, klar. Aber was er sich damit angetan hatte, wurde ihm erst nach und nach klar.

Immerhin ging es nach endlos scheinenden Tagen gefühlter Untätigkeit inzwischen wenigstens voran. Kaum nämlich war das alte Dach abgerissen gewesen, hatten sich die Handwerker immer wieder verflüchtigt wie Morgennebel in der Sommersonne. Regelmäßig hatten sie zwar morgens im halb sieben auf seiner Auffahrt gestanden, lauthals schwadronierend, mit Werkzeugen scheppernd und Hoffnung auf schnelle Baufortschritte weckend – um dann jedoch schleunigst zu anderen Baustellen zu verschwinden, auf denen die Firma Biernoth & Harms andere, offenbar noch ungeduldigere Bauherren bei Laune halten musste. Der Hochsommer war schließlich die Hochsaison im Dachdeckergewerbe, und wenn sich ein deutscher Handwerker auch nicht teilen und auf mehreren Baustellen gleichzeitig präsent sein konnte, so konnte er doch immerhin versuchen, genau diesen Eindruck zu erwecken.

Das Ausmaß dieser Präsenz hing dabei offenbar davon ab, wie überzeugend der jeweilige Bauherr seiner wachsenden Ungeduld Ausdruck verlieh. Als Stahnke das erst kapiert hatte, hatte er sich Biernoth zur Brust genommen. Seitdem ging es richtig voran.

Biernoth selber gehörte zwar nicht zu der vierköpfigen Crew, die sich seither jeden Vormittag zwischen neun und halb zehn in Stahnkes Küche versammelte, um den dort bereitstehenden Tee zu trinken, die mitgebrachten Stullen zu verzehren und dabei die Weltlage zu diskutieren. Dafür aber der dicke Harms, Biernoths Kompagnon, außerdem Marco, der stets lächelnde Tausendsassa, der jedes technische Problem lösen konnte, ohne viel Aufhebens davon zu machen, sowie der schöne Kevin, der zu Latzhose und blonder Lockenmähne immer tief ausgeschnittene Trägerhemdchen trug, und die sommersprossige Annika, Auszubildende im dritten Lehrjahr.

Alles in allem eine schlagkräftige Mannschaft, die in den letzten Tagen dafür gesorgt hatte, dass sich auf Stahnkes Haus, das nach dem Dachabriss wie ein zertretener Schuhkarton ausgesehen hatte, inzwischen schon das helle Balkengerippe des neuen Daches erhob wie ein halb eingelöstes Versprechen. Zwei der vier Handwerker, der dicke Harms und der freundliche Marco, waren schon dabei, Dachlatten anzunageln und alles für das Einpassen der Isoliermatten vorzubereiten, während Kevin und Annika Leichtbauwände für den Innenausbau hochzogen. Alle vier benutzten dabei Nagelgeräte, sogenannte Druckluftnagler, pistolenähnliche Dinger, mit denen sie einfach per Fingerdruck eiserne Stifte in rasender Geschwindigkeit beliebig tief in jede Art von Holz treiben konnten. Und das taten sie ausgiebig. So ausgiebig, dass Stahnke, der sich eingebildet hatte, von Berufs wegen schussfest zu sein, kurz davor war, den Verstand zu verlieren. Denn jeder Nagelvorgang war mit einer heftigen Detonation verbunden.

Er blickte zur Uhr. Schon kurz vor halb zehn, gleich würde die Ballerei wieder losgehen. Vielleicht sollte er einen Spaziergang einlegen. Oder eine Radtour. Irgendwas, bloß eine Weile weg von dieser Knallerei.

Auf der Einfahrt quietschte ein Fahrrad. Etwa schon die Post? Ach nein, Gaby. Stahnke konnte ihre schwarze Mähne gerade noch hinter der Hecke verschwinden sehen. Wie jeden Tag hatte sie Kevin das Frühstück gebracht. Gegen halb zwölf würde sie noch einmal auftauschen, das hatte Stahnke schon spitzgekriegt, und ihrem Kevin den Ostfriesischen Kurier bringen, die Lokalzeitung aus Norden, die sie sich extra mit der Post schicken ließ, denn Kevin war gebürtiger Norder und hing an seiner Heimatstadt. Die Ostfriesen-Zeitung, die man in Leer las, war für ihn kein Ersatz.

Wirklich praktisch, wenn das eigene Haus samt Ehefrau nur zwei Straßen weit weg vom aktuellen Arbeitsplatz lag und man sich dermaßen bedienen lassen konnte. Obwohl – was waren das für Kerle, die nicht einmal in der Lage waren, sich die eigenen Stullen zu schmieren?

Als der Hauptkommissar seine Küche betrat, lief er direkt in ein Sperrfeuer stummer Blicke aus vier Augenpaaren hinein. Bleiernes Schweigen lag über einem Stillleben, das komponiert war aus fleckigen Bechern, Teerändern und Krümeln auf der hölzernen Tischplatte, leeren Tupperdosen, zerknüllten Butterbrotpapieren und vier Menschen mit geröteten Wangen. Stahnke räusperte sich. Das hier sah nach mühsam unterdrücktem Krach aus. Etwas, das er auf seiner Baustelle überhaupt nicht gebrauchen konnte.

Der schöne Kevin begann zu pfeifen. Es klang wie Paint it black, eine alte Stones-Nummer, die gerade durch einen Werbespot mal wieder populär geworden war. Mit provozierend gespitztem Mund verschränkte Kevin die Arme. Die Gesichter der beiden anderen Männer verfinsterten sich noch weiter. Annika schlug die Augen nieder.

Stahnke klatschte in die Hände und blickte betont frohgemut in die Runde. »Na, alles klar? Darf ich den Herren noch etwas bringen? Oder der Dame?«

Die vier Dachdecker erhoben sich wortlos.

Die Sache mit der Fahrradtour war wohl doch keine schlechte Idee, fand Stahnke.

Als er gegen Mittag zurückkehrte, sonnendurchglüht und ausgepumpt, standen nicht nur der Biernoth-Bulli und die Wagen der Bauarbeiter vor seinem Grundstück, sondern auch ein Streifenwagen der Polizei. Außerdem ein unauffälliges Zivilauto, das ihm wohlbekannt war, und ein Leichenwagen. Vor der Panzersperre im Garten stand sein Kollege Kramer, flankiert von zwei Uniformierten. Oben auf dem Balkenhaufen lag der schöne Kevin. Die Reihe kleiner roter Flecken, die über die gesamte Breite seiner Stirn verlief, nahm sich aus wie eine exotische, wenn auch etwas einfallslose Tätowierung. Seinem guten Aussehen tat sie kaum Abbruch. Das tat schon eher die Tatsache, dass der schöne Kevin tot war.

»Etwa zwanzig Stahlstifte hat er im Hirn«, sagte Kramer, nachdem der Tote abtransportiert worden war und sich die beiden Kriminalbeamten auf der Terrasse niedergelassen hatten. »Welcher davon der tödliche war, wird die Obduktion erweisen.«

Wieder einmal musste Stahnke das Gefühl unterdrücken, veräppelt zu werden. Kramer hatte nicht etwa einen schlechten Witz gemacht, Kramer war eben so. Unglaublich effizient und mörderisch humorlos.

»Die Stahlstifte entstammen einem Druckluftnagler«, fuhr Kramer fort. »Vermutlich einem Gerät der Marke Haubold, denn alle Arbeiter hier auf der Baustelle tragen baugleiche Geräte dieses Typs, auch der Tote.« Bei der Nennung des Fabrikats verzog Kramer keine Miene.

»Fundort gleich Tatort?«

Kramer nickte: »Davon ist auszugehen, sagen die Kollegen von der Spurensicherung. Keinerlei Hinweis auf einen Transport.«

»Kann man feststellen, aus welchem, äh, Nagler genau die Projektile stammen?«, fragte Stahnke weiter. Geschosse aus Gewehren oder Pistolen waren ziemlich genau zu identifizieren, weil die Läufe der Waffen sogenannte Züge aufwiesen, die den Kugeln den nötigen Drall verliehen und ihnen dabei zugleich eine Markierung verpassten, die so individuell war wie ein Fingerabdruck.

Kramer schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Jedenfalls hat noch keiner ein entsprechendes Verfahren für diese Nagler entwickelt. Es gibt zwar unterschiedliche Nagelgrößen, aber ansonsten keine speziellen Kennzeichen. Einer ist wie der andere.«

»Einer wie der andere«, sinnierte Stahnke, »und das zwanzigmal. Einer neben dem anderen. Wie lange dauert das eigentlich, einem zwanzig Nägel durch die Stirn ins Hirn zu knallen?«

»Kommt drauf an«, sagte Kramer, der natürlich wieder umfassend informiert war. »Man kann diese Dinger auf Dauerfeuer stellen, wie Sturmgewehre oder Maschinenpistolen. Dann hauen die zwanzig Schuss in einer Sekunde raus. Und so, wie die Treffer sitzen, sieht mir das ganz danach aus. Die Durchschlagskraft war vermutlich auf Maximum eingestellt. Eine kurze Bewegung aus dem Handgelenk, und schon ist das Lochmuster gestanzt.«

»Maximale Durchschlagskraft.« Stahnke schauderte. »Braucht man für derart gefährliche Werkzeuge eigentlich eine Sondergenehmigung?«

Kramer schüttelte den Kopf. »Nein, braucht man nicht. Ebenso wenig wie für Hammer, Kreissäge, Axt und Schlagbohrer. Die können auch allesamt tödlich sein.«

»Na schön, so viel zum mutmaßlichen Tathergang«, sagte Stahnke. »Wer aber war nun der Täter?«

Der dicke Harms, der freundliche Marco und die sommersprossige Annika saßen um den immer noch teefleckigen und vollgekrümelten Küchentisch herum, als hätten sie ihre Frühstückspause niemals unterbrochen. Nur dass der Stuhl zwischen Marco und Annika jetzt leer war. Dafür stand Polizeihauptmeister Rieken mit verschränkten Armen und ausdruckslosem Gesicht neben der Spüle.

Kramer bat die Handwerker einen nach dem anderen heraus auf die Terrasse.

Gefunden hätten sie den Toten quasi gemeinsam, sagten alle drei übereinstimmend aus, nachdem Harms mehrmals vergeblich nach Kevin gerufen und dann alle nachschauen geschickt hatte. Beobachtet haben wollte keiner die Tat. Begangen natürlich erst recht nicht.

So weit die Gemeinsamkeiten in den Aussagen. Interessanter aber waren die abweichenden Informationen.

»Marco war neidisch auf Kevin«, sagte Annika. »Biernoth wollte Kevin zum Kolonnenführer machen. Auf diesen Posten hat Marco seit Jahren hingearbeitet. Klar, dass er blind vor Hass war, als heute früh die Nachricht kam.«

»Harms hatte Stress mit Kevin«, sagte Marco. »Kevin hat ihm heute Morgen unterstellt, er würde Baumaterial unterschlagen und verschieben. Wollte angeblich Biernoth umgehend davon berichten. Harms ist nur Juniorpartner, der wäre ruckzuck draußen gewesen aus der Firma.«

»Kevin hat Annika bedrängt«, sagte Harms. »Wollte dauernd was von ihr, dabei ist er verheiratet, und Annika hat einen festen Freund, der allerdings nur am Wochenende hier ist. Annika hat ihn gewarnt, aber Kevin ist so ein Typ, der kein Nein akzeptiert, jedenfalls nicht von einer Frau.«

»Na super«, schnaubte Stahnke, als er wieder mit Kramer alleine war. »Drei Motive, eins schöner als das andere. Warum gibt es denn nicht mal ein Motiv, so ein richtig fettes, ein sonnenklares, allein auf weiter Flur? Aber nein, es müssen ja gleich drei sein.«

Kramer zuckte die Achseln. Harte Fakten wurden davon, dass man sie beklagte, auch nicht weicher.

»Drei Motive«, murmelte Stahnke.

Welches wog am schwersten?

*

Vom Treppenabsatz her wirkte Stahnkes neues Dach wie die Innenansicht eines Wal-Skeletts. Teilweise jedenfalls. Konnte man an vielen Stellen zwischen den rippenartigen Balken hindurch noch den blauen Himmel sehen, so verstellten anderswo bereits senkrechte Streben, Türrahmen und Wände den Blick. Das Obergeschoss war im Werden begriffen, Gott sei Dank. Lange genug hatte es ja schon gedauert.

Und wie lange es jetzt noch dauern würde, stand in den Sternen. Nicht zuletzt hing es vom Resultat der laufenden Mordermittlung ab.

Überall lagen Holzabschnitte und Sägemehl, Nägel und Schrauben, nach denen sich heutzutage offenbar keiner mehr bückte, Werkzeuge und Kabel herum. Dort stand eine ganze Batterie von Ladegeräten für die Akku-Schrauber, etwas weiter hinten surrte der Kompressor, mit dem die Druckluftnagler ausgeladen wurden. Auch da gab es einen Mehrfachstecker und ein Kabel, das um die nächstgelegene Leichtbauwand herum führte. Stahnke folgte dem schwarzen Geringel.

Das Zimmer, das hier entstand, hatte sogar schon eine Decke. Es ging nach Westen hinaus, würde einmal schönes Abendlicht haben, und im Sommer würde man von hier aus die Sonne untergehen sehen, falls der Grundstück schräg gegenüber nicht eines Tages doch noch bebaut wurde. Hier würde er später einmal sitzen, hinter einem hohen zweiflügeligen Fenster, das sich im Sommer wie eine Terrassentür öffnen ließ, hier würde er gute Bücher lesen und dazu Musik hören, wann immer ihm der Job Zeit dazu ließ. Ach ja, Zukunftsmusik.

Oder vielleicht doch nicht, korrigierte er sich, als sein Blick auf den staubigen CD-Player fiel. Anscheinend fanden auch die Dachdecker, dass sich dieser Platz hervorragend als Musikzimmer eignete. Nun ja, warum auch nicht. Gegen Musik bei der Arbeit war ja nichts einzuwenden.

Neben dem CD-Player, in der Zimmerecke, die der Fensteröffnung gegenüber lag, leuchtete gelbe Mineralwolle, hochwertiges, dickes Isoliermaterial, Symbol für die nächste Ausbaustufe. Nur lag es da nicht in Rollen, so wie es geliefert worden war, sondern flach, in drei Schichten übereinander. Darüber ein Stück Plastikplane. Und oben drauf eine Wolldecke.

Stahnke pfiff leise durch die Zähne. Von »Musik bei der Arbeit« konnte hier wohl nicht die Rede sein. Das hier sah stark nach einem Liebesnest aus. Eins, in dem auf seine Kosten …

Der Hauptkommissar grinste wider Willen. Auch, weil ihm plötzlich die Doppeldeutigkeit der Begriffe »Nageln« und »Decken« in den Sinn kam. Vor allem aber, weil er sich an seine eigene Schul- und Ausbildungszeit erinnerte. Ein richtiger Casanova war er zwar nie gewesen, aber wenn sich mal die Gelegenheit bot … zum Beispiel in dem Lager des Möbelhauses, für das er einige Zeit lang als Auslieferungsfahrer gejobbt hatte. Da gab es eine Verkäuferin, Monika hieß sie wohl, handfest und sommersprossig, ja, dieser Annika gar nicht einmal so unähnlich. Zwei, drei Jahre älter und erfahrener als er. Die hatte genau gewusst, was sie wollte, hatte ihn gelegentlich abgepasst, wenn er eine Lieferung abzuholen hatte, und dann war immer alles vorbereitet gewesen. Matratze, Wolldecke, ja, auch der Kassettenrekorder zum Übertönen verräterischer Geräusche stand bereit. Immer mit derselben Musik drin. Abba, ach herrje, was waren das für Zeiten! Nachher war er immer froh gewesen, dass er im Führerhaus seines Siebeneinhalbtonners alleine war und niemand seine geröteten Wangen sehen konnte. Und immer hatte er Super Trooper vor sich hin gepfiffen, den Song, der genau an der Stelle der Kassette kam, wenn sie beide …

Er bückte sich. Der CD-Player stand auf Pause. Stahnke drückte auf Start.

Paint it black, röhrte Mick Jagger.

Der Hauptkommissar trat in die Fensteröffnung, die bis zum Zimmerboden reichte. Keinerlei Geländer oder Absperrung, und genau darunter auf dem Rasen befand sich der Balkenhaufen, auf dem die Leiche des schönen Kevin gelegen hatte. Hier oben also war der Mord geschehen, nicht dort unten. Hier, wo der schöne Kevin den Song als Begleitmusik gehört hatte, den er anschließend unwillkürlich vor sich hin pfiff. Verräterisch für jeden, der den Zusammenhang kannte.

Warum aber wurde Kevin getötet? Hatte Annika sich gewehrt, als er sie mit Gewalt auf die gelben Matten zerren wollte? Oder war sie zwar zunächst seinem Charme erlegen, hatte dann aber genug von ihm gehabt? Wollte er sie erpressen, hatte er gedroht, sie bei ihrem Freund anzuschwärzen? Gründe genug, und der Druckluftnagler war immer zur Hand.

Vielleicht aber war auch der freundliche Marco heimlich in Annika verliebt gewesen. Zu schüchtern, um etwas zu sagen, hatte er sich aufs Gucken beschränkt, hatte die beiden überrascht und war ausgerastet. Zack, zwanzig Nägel.

Oder gar der fette Harms. Ja was denn, auch dicke Dachdecker waren zu Seitensprüngen fähig. Oder mochten sich zumindest welche wünschen. Und jähzornig sein konnten sie bestimmt auch.

Verdammt, alles war möglich. Nach wie vor kam jeder der drei überlebenden Handwerker als Täter in Frage.

»Alle drei«, grummelte Stahnke vor sich hin. »Mist. Warum denn nicht mal einfach nur einer?«

Er drehte sich langsam um, schlurfte weg von der Fensteröffnung, zurück zum Treppendurchbruch, zurück zu Kramer und dem ungelösten Fall, die dort unten auf ihn warteten.

Sein Fuß stieß gegen etwas, das zwischen all dem herumliegenden Dreck kaum zu identifizieren war. Erneut bückte er sich.

Eine Streifbandzeitung. Ganz neu, von heute, ungeöffnet. Der Ostfriesische Kurier. Name und Anschrift des Abonnenten waren aufgedruckt.

Er kniff die Augen zusammen und korrigierte sich: Name und Anschrift der Abonnentin.

»Sie ist noch ein zweites Mal gekommen, wie jeden Tag«, erklärte Stahnke, als alles bereits erledigt war. »Eher als sonst, denn die Post war ungewöhnlich früh dran, und sie ist sofort los, weil sie noch einkaufen wollte. Und weil sie Kevin am Morgen pfeifen gehört hatte. Schließlich kannte sie ihn ja gut genug – ihn und den Song. Männer wechseln selten ihre Vorlieben. Wie auch immer. Harms und Marco waren oben auf den Balken, Dachlatten annageln. Kevin war in seinem Liebesnest, den Werkzeuggürtel noch nicht wieder angelegt. Vögelchen Annika war vermutlich schon wieder ausgeflogen, aber der CD-Player lief noch. Paint it black, der Song, den Kevin immer vor sich hin gepfiffen hat. Für Gaby war die Situation eindeutig. Tja.« Er nickte versonnen. »Bei all der Ballerei ringsumher fiel ihre Extra-Nagelsalve nicht weiter auf.«

»Woher wusste sie denn, wie so ein Druckluftnagler zu bedienen ist?«, fragte Kramer, als gäbe es noch etwas zu klären.

Stahnke machte eine wegwerfende Bewegung: »Handwerkerfrauen wissen so etwas. Außerdem hat sie gestanden, also, was willst du?«

»Die anderen drei sind also unschuldig. Da hast du ihnen ja ganz schön unrecht getan.«

»Beinahe unrecht, bitteschön. Beinahe. Das ist ein Unterschied.« Im Wohlgefühl seines Triumphs nahm Stahnke die Stichelei seines Kollegen gelassen hin. »Obwohl, wäre ja ganz schön gewesen, wenn der dicke Harms der Mörder wäre. Der ist mir irgendwie unsympathisch. Außerdem – vielleicht unterschlägt der ja wirklich Baumaterial. Mein Baumaterial!«

Kramer zuckte die Schultern: »Ach was. Der dicke Dachdecker deckt dir doch dein Dach. Drum dank doch dem dicken Dachdecker, dass der dicke Dachdecker dir dein Dach deckt.« Sprach’s, wandte sich um und schlenderte davon.

Stirnrunzelnd blickte Stahnke ihm nach. Auch als Kramer längst außer Sicht war, wollte das Gefühl, gründlich veräppelt worden zu sein, einfach nicht abklingen.

Kurz und schmerzlos

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