Читать книгу Atlan 649: Freiheit für Bars-2-Bars - Peter Griese - Страница 4
1.
ОглавлениеDie drängende Stimme war von einem Augenblick zum anderen in seinem teilgelähmten Bewusstsein. Sie quälte ihn, forderte Aufmerksamkeit und Bereitschaft zum Zuhören. Sie kam aus einer nicht feststellbaren Richtung, und sie durchdrang alles, was ihn von seiner Galaxis trennte.
Tyar schrie gepeinigt auf. Aber da war niemand, der ihn hören konnte. Er wand sich in seinen Fesseln. Er wollte zurückbrüllen, aber seine Stimme versagte, so wie sie fast immer seit dem Moment versagt hatte, da er in dieses Gefängnis gezwängt worden war.
Irgendwo in seiner Nähe musste »der andere« sein, jenes unbegreifliche Wesen, das sich Prezzar nannte, und dem ein ähnliches Schicksal widerfahren sein musste wie ihm. Konnte es dieser urgewaltige Bursche sein, der da rief? Mit dem Rest seines freien Verstands beantwortete Tyar diese Frage sich selbst. Es war absolut auszuschließen, dass Prezzar ihn rief. Sie beide waren nicht nur gegensätzlich. Sie waren beide auch auf die gleiche Art und Weise Gefangene in einer kaum erklärlichen Situation.
Sie wussten nicht einmal genau, wo sie waren. Bei den wenigen Kontakten, die zwischen Prezzar und ihm auf gedanklicher Ebene möglich gewesen waren, war jeder von ihnen der Ansicht gewesen, in seiner Galaxis, also in seinem »Körper« zu sein. Die Begründung für diese Annahme war einfach. Ohne die unmittelbare Umgebung der heimischen Sterne und Planeten, der Kugelsternhaufen und Kometen, der Asteroiden und intergalaktischen Staubwolken, der Gravitationsfelder und der magnetischen Strömungen, der hyperenergetischen Komponenten und normalenergetischen elektromagnetischen Wellen, war eine Existenz unmöglich.
Einmal waren kleine und völlig fremde Wesen in ihrer Nähe gewesen. Sie hatten behauptet, Bars und Farynt, ihre Galaxien, seien miteinander verzahnt worden, so dass Bars auch Farynt und Farynt auch Bars sei. Vielleicht, so hatte sich Tyar damals gesagt, als er einen lichten Moment gehabt hatte, war dies die Erklärung dafür, dass er sich »zu Hause« fühlte – und Prezzar ebenfalls.
Die unheimliche Stimme meldete sich wieder. Sie schmerzte, und das machte sie unverständlich. Außerdem wies Tyar jeden Kontakt weit von sich. Er kapselte sich dagegen ab, denn er wollte mit niemand sprechen. Tyar, die übergreifende galaktische Intelligenz der Sterneninsel Bars, kannte seine Einsamkeit, seine Isolation. Er hatte sich in einer Weise damit abgefunden, denn wer über Äonen zur Bewegungslosigkeit verdammt war, wer über eine Zeitspanne, die er längst nicht mehr messen konnte, in fast jeglicher Aktion gehindert wurde, der musste wahnsinnig werden oder sich in sich selbst zurückziehen.
Ein einziges Mal war der Unbekannte, der Prezzar und ihn in diese Fesseln geschmiedet hatte, unaufmerksam gewesen. Diese winzigen Augenblicke hatte Tyar damals genutzt, um sich zu wehren. Er hatte durch ein Kräftespiel, in das er unbewusst geraten war, Informationen über ein Wesen erhalten, das ihm vielleicht helfen konnte. Dieses Wesen war ein Gegner dessen, der ihn in dieser Gefangenschaft hielt. Aber es war zu weit von ihm entfernt gewesen, als dass er es hätte erreichen können.
Dieses Wesen hieß Atlan, und auf ihn setzte Tyar seine Hoffnung. Um diesen in die Nähe seines Gefängnisses zu locken, hatte er mit letzter Kraft eine Bewohnerin von Bars so beeinflusst, dass sie Atlan sehr ähnlich wurde. Er hatte ihr den Namen Tyari gegeben und sie mit dem Drang ausgestattet, Atlan zu finden und nach Bars zu locken.
Tyar wusste nicht, ob sich sein Plan wirklich in einen Erfolg umwandeln würde. Zu spärlich waren seine Möglichkeiten, das äußere Geschehen zu verfolgen.
Wieder hämmerte die fremde Stimme in ihn hinein. Er spürte die Ungeduld des Unbekannten. Schließlich erwachte eine natürliche Neugier in ihm. Er öffnete einen Spalt seines Bewusstseins und ließ das Gehörte auf sich wirken. Den Sinn der Mitteilung verstand er auch jetzt nicht. Er interessierte ihn auch nicht, denn er wollte nur wissen, wer sich da erdreistet hatte, ihn auf so ungebührliche Weise zu belästigen.
Es war nicht Prezzar. Es war nicht der, der für seine Gefangenschaft verantwortlich war, und auch nicht der, der sie übernommen hatte. Es war auch nicht Tyari, und es war nicht Atlan.
Damit bestand kein Zweifel mehr daran, dass ein ihm vollkommen unbekanntes Wesen seine Gedanken an ihn richtete. Gegen Fremdes hatte er aber schon immer eine Abneigung gehabt, denn nur die Materie der Sterneninsel Bars, die ihn hervorgebracht hatte, war ihm angenehm.
»Du stellst dich wieder stumm und taub, du Narr!« Das war Prezzar, der nun sprach. Mit gelindem Erstaunen registrierte Tyar, dass er diese Worte mit ungewohnter Deutlichkeit empfing. Normalerweise war seit Beginn der Gefangenschaft eine Kommunikation mit dem rüden Burschen unmöglich gewesen.
Es hatte sich etwas verändert, folgerte er. Nicht nur ein Fremder ist aufgetaucht. Auch Prezzar kann plötzlich deutliche Mitteilungen machen.
»Antworte!«, herrschte ihn der mehr aus Instinkt bestehende Mitgefangene an. »Dein Schweigen führt dich in den Tod! Der Untergang ist nah. Spürst du das nicht, Unterentwickelter?«
Aus den gelegentlichen Kontakten hatte sich Tyar ein Bild über Prezzar formen können. Dieser war froh, launisch, grob oder primitiv. Daher vermochte er auch nicht zu glauben, dass Prezzar etwas Ähnliches war wie er selbst, das übergreifende Bewusstsein einer Sterneninsel. Seine beleidigenden Äußerungen prallten daher an ihm ab. Automatisch war damit verbunden, dass er Prezzars Worten auch inhaltlich kein Gehör schenkte. Er ließ ihn zetern und schimpfen, bis er wieder schwieg.
Auch der Fremde machte sich nun nicht mehr bemerkbar. Tyar spürte aber (trotz der Fesseln und Abschirmungen!), dass etwas in der Nähe war. Dieses Etwas tastete sich weiter an ihn heran. Furcht empfand Tyar dabei nicht, denn mit der Möglichkeit eines persönlichen Endes rechnete er nicht. Er würde existieren, solange die Sterne von Bars strahlten.
Er war uralt, so alt, dass er sich kaum noch zur Gänze an sein früheres Dasein erinnern konnte. Durch einen natürlichen Mechanismus war er als begreifende Intelligenz seiner Sterneninsel entstanden. Er war allgegenwärtig in jedem Staubkorn von Bars, in jedem Lebewesen, das sich irgendwo regte und bewegte. Sein Körper war Bars. Er war Bars. Er war diese Sterneninsel des Universums.
Tyar zuckte zusammen, als er begriff, dass er in Träume der Vergangenheit zu versinken drohte. Die Realität war gänzlich anders.
Er war ein Gefangener, ein Opfer, ein Willenloser. Er war eingeengt in eine unbegreifliche Fessel, die sein eigentliches Ich von Bars fast vollständig trennte. Er verstand nicht, warum ein mächtiges Wesen ihn in dieser Weise vergewaltigt hatte, denn er erkannte keinen logischen Sinn in dieser Tat.
Die friedvollen Zeiten der fernen Vergangenheit waren lange vorbei. Sein derzeitiger Zustand war schon jetzt Vergangenheit, obwohl er unvermindert andauerte. Tyari, seine aus Verzweiflung geborene Schöpfung, war schon Vergangenheit. Der Bann der ewigen Fessel schnürte ihn schon so lange zusammen, dass die Bilder aus dem Davor zu verschwimmen begonnen hatten.
Der rüde Prezzar hatte damals seine Tat verfolgen können. Der Urinstinkt dieses fremden Wesens hatte schnell reagiert. Als Prezzar eine kleine Phase der geistigen Freiheit empfunden hatte, hatte er auch ein Geschöpf erzeugt, allerdings aus sich selbst heraus, also nichts Wirkliches. Mjailam hatte er es genannt, und Tyar hatte diesen Versuch mit einem Anflug von Belustigung zur Kenntnis genommen. Mjailam war so grobschlächtig geraten wie sein Erzeuger. Prompt hatte er sich auch auf Nimmerwiedersehen abgesetzt, als er sich seiner Existenz bewusst geworden war. Dass Prezzar bisweilen noch an ihn dachte, war für Tyar nur ein weiterer Beweis für dessen Primitivität.
Zu einem eigenen Gedanken ist er unfähig, dachte Tyar, wenn er sich an Mjailam erinnerte. Prezzar kann nur kopieren, aber selbst das nur unvollkommen.
Er verglich seinen Mitgefangenen mit einem wilden Tier. Mehr war er nicht, auch wenn er konzentrierte Gedanken ausschicken konnte. Eine Ansammlung der wilden Instinkte seines Herkunftsbereichs, eine Abscheulichkeit, sagte sich Tyar.
Er fühlte plötzlich, wie sich die Fesseln etwas lockerten. Neue Impulse gelangten zu ihm. Sie kamen von draußen. Begierig nahm er sie in sich auf, obwohl sie verwirrend und unverständlich waren. So gewann er nur eine kleine Erkenntnis.
Etwas veränderte sich tatsächlich.
»Ich will dich warnen!«, flüsterte eine Stimme. Sie war leise und behutsam, aber unter dem Wegfall der harten Fesseln konnte Tyar sie identifizieren. Es war der gleiche Fremde, der ihn zuvor bedrängt hatte. Jetzt jedoch konnte er sich leichter mitteilen.
Noch zögerte er mit einer Antwort, denn es erschien ihm absurd, dass ihn jemand außer Prezzar überhaupt hören konnte. Nie hatte es während der ganzen Zeit der Gefangenschaft einen Kontakt nach draußen gegeben.
»Ich muss dich warnen, Tyar!«
Er wurde also tatsächlich angesprochen. Wieder vergingen mehrere Pulsschläge des Kosmos, in denen Tyar untätig blieb.
»Öffne deine Gedanken, Tyar!«, wisperte es weiter in ihm. »Nur wenn du die Gefahr siehst, die auf dich und Prezzar zukommt, kannst du ihr vielleicht noch begegnen.«
Er kannte die Verzweiflung und die Isolation, aber er kannte keine Furcht. Mehr als die ewige Gefangenschaft konnte ihm niemand antun. Wovor sollte er also gewarnt werden?
»Ich möchte einmal so dumm sein wie du!«, brüllte Prezzar dazwischen. Auch seine Mentalstimme klang jetzt deutlicher denn je. »Die Dinge beginnen sich zu verändern, und du willst es nicht wahrhaben, du Ausgeburt der Stumpfsinnigkeit!«
Er sah wieder von einer gezielten Antwort ab, aber er gestand sich ein, dass tatsächlich eine Veränderung eingetreten war. Er besaß zwei Gesprächspartner, Prezzar und den Fremden. Da er immer besonnen und weise reagiert hatte, versuchte er auch jetzt, sich ein genaueres Bild zu machen. Die gelockerten Fesseln erlaubten es ihm zwar auch jetzt nicht, sein zusammengeballtes Bewusstsein zu bewegen oder gar von diesem Ort des ewigen Schreckens zu fliehen, aber er konnte vielleicht ein wenig nach draußen tasten.
Ganz behutsam streckte er einen Fühler aus und versuchte damit zu verstehen, wer der Fremde war. Er war irgendwo in der näheren Umgebung, aber er ließ sich nicht lokalisieren. Tyar versuchte ihn zu erfassen und sein Ich zu begreifen. Ein paar winzige und symbolhafte Fetzen gerieten in seine Fänge.
Er entzifferte mühsam das erste Fragment dieses Gedankens und kam zu dem Schluss, dass er »C« lautete. Was das bedeutete, wusste er nicht. Von dem Rest war nur ein weiteres, etwas größeres Bruchstück deutlich. Es klang »RA«. Was dazwischen und dahinter lag, war eine Überlegung verschiedener Symbole. Das Gemenge war so dicht, dass Tyar es nicht auflösen konnte.
»C-RA!«, formulierte er einen ersten gezielten Gedanken. »Was willst du von mir?«
»Beim nächsten Versuch einer Kontaktaufnahme antwortest du gefälligst etwas schneller, Tyar«, antwortete C-RA frech und mit gänzlich anderer Stimme. »Es könnte sonst sein, dass du dein Dasein schnell beenden musst.«
»Du drohst mir? Das ist lächerlich. Ich bin zwar bewegungsunfähig, und ich kann auch nicht auf meinen Körper wirken, aber das besagt nichts.«
»Ich will mich nicht mit dir streiten.« C-RA lachte. »Ich will dir helfen. Du musst die augenblickliche Situation nutzen, denn lange kann ich deine Fesseln nicht lockern. Beobachte deine Umgebung! Vertraue nicht allein auf Tyari oder Atlan, so wie Prezzar sich nicht vorbehaltlos auf Mjailam abstützen kann. Er und du, ihr müsst selbst etwas tun, sonst ...«
Der Fremde, den er in Ermangelung eines besseren Namens C-RA genannt hatte, und der dies offensichtlich akzeptiert hatte, schwieg unvermutet. Die Bande der Fesseln zogen sich augenblicklich wieder enger zusammen. Sie erreichten aber nicht die frühere Festigkeit.
»C-RA!«, rief Tyar. »Sprich weiter! Was ist wirklich geschehen?«
Er bekam keine Antwort, aber wenig später vernahm er einen Grunzlaut, mit dem sich Prezzar meldete.
»Er ist weg, du Held!« Seine Stimme triefte vor Hohn. »Hast du das nicht kapiert?«
»Ich beabsichtige nicht, mit dir zu sprechen«, lehnte Tyar schroff ab.
»Du sprichst doch schon mit mir.« Wieder grunzte Prezzar wie ein zorniges Tier. »Und wenn du bemerkt hast, was da draußen geschieht, wirst du es wieder tun, du Narr. Die Zeit ist knapp, aber ich will warten, bis du zur richtigen Einsicht gekommen bist. Vielleicht findest du dich dann auch damit ab, dass mein urwüchsiger Farynt-Instinkt deinem intelligenten Gehabe in mancher Hinsicht überlegen ist.«
Tyar zog es vor zu schweigen. Er kapselte sich in seiner Enge ab und dachte nach. Dann tastete er vorsichtig nach den ewigen Fesseln und schob seine Fühler durch die winzigen Löcher nach draußen, die seit C-RAS Auftauchen entstanden waren.
Er spürte seit Äonen wieder etwas von dem Hauch seines wahren Ichs, etwas von Bars. Mit freudigen Empfindungen nahm er die wenigen und winzigen Regungen in sich auf.
Zufällig berührte er ein paar Körper in seiner Nähe. Er ließ sie nur kurz auf sich wirken. Dann zuckte er unter einem gewaltigen Schmerz zusammen und brach jeden Kontakt nach draußen ab.
Seine Gedanken wirbelten durcheinander und fanden keinen Weg mehr zur Besinnung. Etwas Unfassbares bahnte sich an.
Dort draußen war etwas, was es nicht geben konnte.
Es war etwas, das nur ein Ziel kannte, nämlich ihn zu töten.
Das Entsetzliche daran war, dass Tyar gespürt hatte, dass es diesem Etwas tatsächlich möglich war, das Vorhaben durchzuführen.
Sein ganzes Bild über sich selbst brach zusammen. Zurück blieb ein wimmerndes Knäuel aus Gedanken und Materieresten, die sich in ihrer Hilflosigkeit und Verzweiflung aneinanderklammerten.
Wenige hundert Meter von Tyar entfernt regte sich das Instinktbewusstsein Prezzars in den gleichen Empfindungen. Das Produkt Farynts war nicht weniger betroffen, denn es sah auch keinen Ausweg. Seine reinen Intellektanteile waren gelähmt, aber sein überragender Instinkt arbeitete unbeirrt weiter. Der Instinkt war es auch, der in diesem Augenblick die Erkenntnis gewann, dass Tyar kein Gegenspieler oder Feind sein konnte, wie er es bislang als selbstverständlich angenommen hatte. Die plötzlich existierende Not, die Todesangst und der Existenzwille entwickelten ein neues Gefühl.
Tyar war ein Leidensgenosse, ein Gefährte, dem man helfen musste. Allerdings ließen sich diese Vorstellungen nicht in Wirklichkeit verwandeln.
Und so schwieg auch Prezzar.