Читать книгу Kleinwalsertal - Peter Häring - Страница 3
In dünner Luft
ОглавлениеKönig Ludwig IV. von Bayern stand oben auf dem Großen Widderstein. Unten, zu Füßen Ludwigs und des Berges, lag in seiner ganzen Pracht das Kleinwalsertal.
Es war im Sommer des Jahres 2026.
Ludwig reiste inkognito. Er hatte sich, ausgerüstet mit Rucksack, gefederten Wanderstöcken, kariertem Hemd und dunkler Sonnenbrille, als Tourist verkleidet unter die echten Touristen gemischt und sich sodann mit der nagelneuen, erst im Mai fertiggestellten Gondel auf den Großen Widderstein bringen lassen. Begleitet wurde er von drei seiner Oberpfälzer Leibgardisten, die sich äußerlich ebenfalls in nichts vom gemeinen Bergtouristen unterschieden, außer vielleicht in ihrem stoischen Gesichtsausdruck, der die draußen vorbeigleitenden landschaftlichen Sensationen mit demselben Enthusiasmus quittierte wie die vernieteten Bodenbleche in der Gondel.
Unter all den Touristen hatte sich König Ludwig gar nicht wohl gefühlt. So viel Volk in solch großer Nähe war nicht gut für einen Regenten. Ein gewisser Abstand, körperlich wie intellektuell, sollte nun mal nicht unterschritten werden. Schließlich wollte das Volk zu seinem Herrscher aufblicken, deshalb gab es ja Burgen und Schlösser, die den Blick des Bürgers ehrfürchtig nach oben lenkten, dahin wo Weitsicht und Weisheit wohnten. Vorhin, in der Enge der Gondel, inmitten des Geplappers und der Ausdünstungen der Leute, war Ludwig drauf und dran gewesen, seinen Leibgardisten zu befehlen, die Gondel zu räumen. Aber er hatte sich eines Besseren besonnen, zum einen, weil die Gondel zu diesem Zeitpunkt in etwa dreißig Meter Höhe über felsigem Terrain schwebte, und zum anderen, weil er sich hier im Ausland befand, was der Ausübung hoheitlicher Macht enge Grenzen setzte.
Noch zumindest war es Ausland.
Dies eben war der Grund, weshalb König Ludwig oben auf dem Großen Widderstein stand. Von hier sah man mit eigenen Augen, dass das Kleinwalsertal unmöglich zu Österreich gehören konnte. In der Mitte der Fluss Breitach, links und rechts und am Talende nur hohe Berge, von dem der Widderstein der höchste war. Und in der Ferne, Ludwig rang mit den Tränen, Bayern, sein Bayern. Nur von dort aus konnte man über Land in das Kleinwalsertal gelangen. Er hatte noch nie verstanden, wie dieses Tal überhaupt in die Fänge der Österreicher hatte geraten können. Ludwig vermutete eine ruchlose Intrige der dahingeschiedenen k.u.k. Monarchie, die mit ihrem Wiener Schmäh einst einen rechtschaffenen Bayernherzog narkotisiert und ihm dann das Tal abgeschwatzt hatte. Sicher, es gab genügend andere Beispiele auf der Welt, die so oder so ähnlich gelagert waren, zum Beispiel Königsberg oder San Marino oder auch Alaska, aber das hatte für Ludwig keine Bedeutung. Er war der festen Meinung, dass das Kleinwalsertal bayrisch sein müsse.
Obwohl die Sonne von einem wolkenlosen Himmel schien, war es oben auf dem Großen Widderstein kalt. Schnee lag zwar keiner mehr, aber der Wind aus Nordwest blies eisig. Ludwig stand inmitten seiner drei Garde-Oberpfälzer, die ihn sämtlich um mindestens Haupteslänge überragten. Das war nicht schwer, denn Ludwig maß gerade einmal einen Meter dreiundsechzig, glatte dreißig Zentimeter weniger als sein erklärtes Vorbild Ludwig II. Er gab einem der Gardisten einen Wink, woraufhin der seinen Rucksack herunternahm und daraus eine Krone und ein Zepter zu Tage förderte. Eine Reisekrone und ein Reisezepter wohlgemerkt, aus trageleichtem goldbeschichteten Aluminium, nicht die kostbaren originalen Krönungsinsignien, die ruhten auf Samt gebettet und sicher verwahrt auf Schloss Neuschwanstein. Bis vor vier Wochen noch wäre Ludwig niemals eingefallen, sich mit Attrappen abzugeben, auch auf einer Wanderung nicht, doch da war ihm seine Krone auch noch nicht in einen dampfenden Kuhfladen gefallen, wie dann beim Überqueren dieser vermaledeiten Wiese am Fuße des Watzmanns. Ludwig hatte der Kuh sogar noch aus einigen Metern Entfernung bei ihrem Geschäft zugesehen, war beim Weitergehen über einen Maulwurfshügel gestolpert, und schon schmückte die unschätzbar wertvolle Krone statt seines königlichen Haupts den erwähnten Fladen. Wutentbrannt hatte Ludwig die sofortige Exekution der Kuh und des für den Haufen verantwortlichen Maulwurfs angeordnet, es sich aber beim Blick in die Augen der sichtlich erleichterten Kuh anders überlegt und es bei einer belehrenden Einebnung des Maulwurfshügels belassen.
Eben, in der Gondel, hatte Ludwig zwar eingesehen, dass er mitten unter den Touristen weder die Krone aufsetzen noch das Zepter schwingen konnte, aber hier oben auf dem Gipfel zumindest, wo sich die Menge zusehends verlief, wollte er auf seine Insignien der Macht nicht verzichten, wenn auch nur symbolisch, denn noch saßen die Mächtigen im fernen Wien. Liebevoll nahm er aus den Händen des Gardisten seine Aluminiumkrone entgegen und setzte sie sich auf den Kopf. Ganz Majestät drehte er sein bekröntes Haupt von links, dem Hohen Ifen, nach rechts, zum Elfer, und zeigte dabei mit seinem Aluminiumzepter gebieterisch über das Tal hinweg. Ein erhabenes Bild, wie er da so stand in seiner fabrikneuen Wandererkluft, mit einer Krone auf dem Kopf und einem Zepter in der Hand. Nur die dunkle Sonnenbrille wirkte eher mafiös als majestätisch. Manch vorbeiwandernder Tourist runzelte die Stirn angesichts dieses für einen Außenstehenden seltsamen Gebarens, aber Spinner waren ja heutzutage überall unterwegs, also warum nicht ein Wanderer, der sich auf einem Berggipfel eine Krone aufsetzt. Vielleicht hatte der Mann aber gerade auch nur seine fünfhundertste Bergbesteigung absolviert und feierte diesen Moment auf seine eigenwillige Art. Oder man wurde gerade Zeuge von Dreharbeiten für eine Neuverfilmung des Lebens des bayrischen Märchenkönigs, oder des Lebens von Sissi. Letzterer Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass einer von Ludwigs Leibgardisten begann, Aufnahmen von dieser Szene zu machen. Die wären, das hatte sich Ludwig vor seiner Abreise ins Kleinwalsertal überlegt, für spätere Propagandazwecke sicher gut zu gebrauchen.
Als Ludwig seinen Blick so über seinen künftigen Besitz schweifen ließ, dachte er: Warum eigentlich nur das Kleinwalsertal? Da gab es bestimmt noch andere Ländereien, die sich gut im bayrischen Portfolio machen würden. Er konnte zwar gerade keine benennen, aber für so etwas gab es ja Landkarten, oder Google. Da ließe sich bestimmt noch eine geeignete Gegend finden, die gut zu Bayern passen würde. Es musste ja nicht hier im Süden sein. Vielleicht drüben im Osten? Ludwig meinte sich zu erinnern, dass sich zu den Tschechen hin auch ein Gebirge türmte, die Karpaten, oder war’s der Schwarzwald? Er musste sich da wirklich mal schlau machen. Doch zunächst einmal galt es, sich auf das Kleinwalsertal zu konzentrieren. Für den Rest war danach immer noch Zeit.
Solch erbauliche Gedanken und Aussichten erwiesen sich als sehr appetitanregend, wie Ludwig feststellte. Zeit für eine Brotzeit. Eine windgeschützte Senke war schnell gefunden. Dass sich dort bereits ein silberhaariges Wandererpärchen niedergelassen hatte und genüsslich an seinen dick belegten Broten mümmelte, focht Ludwig nicht an. Er schickte zwei seiner Leibgardisten vor, um den Picknickplatz kurzerhand zu annektieren. So ein kleines bisschen Machtausübung in der Fremde tat einfach gut und konnte sicher nicht schaden. Außerdem waren die beiden Platzhalter hörbar berlinerischer Abstammung, was ihren Anspruch auf das Plätzchen noch einmal drastisch beschnitt. Auf eine körperliche Auseinandersetzung mit den Oberpfälzer Gardisten ließen sie es natürlich gar nicht erst ankommen, und da selbst niederträchtigste Beleidigungen und die Drohung, Anzeige zu erstatten, an Ludwigs Leibwache abperlten wie Regen auf einer dreifach handpolierten Motorhaube, gaben die Zivilisten schließlich klein bei, packten ihre Habseligkeiten ein und zogen um.
Ludwig war zufrieden. Übung macht den Meister, das hatte schon sein Vater bei jeder Gelegenheit zu ihm gesagt, wenn auch nicht im Zusammenhang mit der Vertreibung hilfloser Rentner. Aber egal. Muskeln brauchten Training.
Der für den Proviant zuständige Gardist zauberte eine ordentliche Brotzeit aus seinem Rucksack hervor, mit Brot und Speck und Käse, und trug sie in der annektierten Senke auf einer mitgebrachten Picknickdecke auf. Ludwig und seine drei Begleiter langten herzhaft zu und stießen mit goldenem bayrischen Bier auf die goldene bayrische Zukunft des Kleinwalsertals an.
Eine halbe Stunde später war es an der Zeit, wieder den Rückweg ins Tal anzutreten. Ludwig nahm seine Krone ab und reichte sie zusammen mit dem Zepter dem Gardisten zwecks Aufbewahrung und Transport. Das Gedränge vor und in der Gondel war bei weitem nicht so schlimm wie am Vormittag, als sie heraufgefahren waren. Mit leisem Surren rollte die Gondel auf ihrem Tragseil von Pfeiler zu Pfeiler. Gottseidank, dachte Ludwig, würde dieses Tal bald ihm gehören, dann musste er sich nicht mehr unters Volk mischen, schon gar kein fremdes Volk, sondern hätte seine eigene angemessen möblierte Gondel, oder flöge gleich mit dem Helikopter auf den Gipfel. Ludwig hatte das Wort Gipfel kaum zu Ende gedacht, als die Fahrt abrupt stoppte. In der nächsten Sekunde telefonierte der Gondelführer mit der Leitstelle, brummte ein paar missmutige Worte in den Apparat, legte dann auf und sagte zu den Passagieren:
„Glei geht’s weiter. Oben am Berg hat wohl der Blitz eigeschlaga. Isch aber koi große Sach.“
Von wegen koi große Sach, dachte Ludwig. Bis noch vor ein paar Minuten war er da oben gestanden mit einer Aluminiumkrone auf dem Kopf. Als royaler Blitzableiter. Aber schließlich konnte man als König von übergeordneter Stelle schon eine gewisse Vorzugsbehandlung erwarten. Trotzdem merkte sich Ludwig vor, für künftige Ausflüge in derart exponierte Lagen eine Kunststoffkrone anfertigen zu lassen, und natürlich ein Kunststoffzepter.
Zwei Minuten später ging es tatsächlich weiter. Unten angekommen, stieg die königliche Reisegruppe in einen bereitstehenden dunkelblauen VW Touran mit dem amtlichen Kennzeichen OA-KL 4. Das Kennzeichen war der Minimalkompromiss, auf den sich Ludwig eingelassen hatte. Schweren Herzens, aber durchaus einsichtig, hatte er auf Standarten und Wimpel am Fahrzeug verzichtet, ebenso wie auf das üblicherweise per Außenlautsprecher übertragene Pferdegetrappel, das dem Volk das Nahen ihres Königs signalisieren sollte.
Gleich hinter der Grenze, auf bayrischem Staatsgebiet, wartete ein Helikopter und brachte die Reisegruppe zurück ins Schloss Neuschwanstein.
Es war Zeit zu handeln.