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Die Matori

Echna und Talin liefen über die Wiese, lachten und imitierten die Grimasse, die Gabo zog, wenn er aß.

Es war ein herrlicher Nachmittag, die Sonne schien vom dunkelblauen Himmel, an dem keine einzige Wolke zu sehen war. Auf der Wiese standen rote, gelbe und blaue Blüten, an manchen Stellen Gruppen von Bäumen und Sträuchern, die ebenso farbenprächtig waren.

Echna war nur drei Tage älter als Talin, sie kannten sich ihr ganzes Leben lang und waren seit jeher die besten Freundinnen.

„Komm, lass uns zum Berg da drüben laufen“, schnaufte Echna außer Atem. „Hast du Lust, Witteln zu pflücken?“

„Ja, wer zuerst da ist!“

Während Talin mit diesen Worten auf den Vorschlag von Echna einging, lief sie los.

„Das ist unfair“, hörte sie hinter sich und antwortete: „Ja und wenn schon, ich bin schneller als du.“

„Warte nur! Ich werde dich einholen.“

Bei den Bäumen angekommen, schnappten sie laut nach Luft und ließen sich auf die Wiese fallen. Eine lange Strähne ihres glänzenden braunen Haares fiel Echna ins Gesicht. Talin streckte eine Hand aus und streifte sie zur Seite. Beide lachten, verschnauften eine Weile und standen dann auf, um Witteln zu pflücken.

Sie waren so groß wie Äpfel, von gelber Farbe, weich, zuckersüß und saftig. Sie wuchsen nur hier, im Schatten des Berges, nicht weit vom Dorf der Matori entfernt. Zweimal im Jahr reifte das Obst heran, und es war total begehrt.

Von den kleinen Bäumen, an denen die Witteln hingen, breitete sich ihr Geruch in der Umgebung aus.

Gierig stürzten sich die beiden auf die Früchte, wobei sie schmatzten und ihnen der Saft an den Mundwinkeln heruntertropfte. Es waren ihre ersten Witteln an diesem Tag. Echna zeigte mit dem Finger auf Talin, nachdem sie bemerkte, dass Saft auf deren Kleid tropfte, und wieder lachten sie.

„Essen wir nicht zu viele davon, sonst sind unsere Mütter gleich verärgert, dass wir keinen Hunger haben.“

„Du hast recht“, sagte Talin, die sich das letzte große Stück ihrer Wittel in den Mund schob.

Sie nuschelte: „Schonst schind wir vollgefreschen.“

Wieder lachten sie, wie so oft, wenn sie gemeinsam etwas unternahmen.

Im Dorf der Matori waren viele damit beschäftigt, Essen zuzubereiten. Auf allen Tischen und in jeder Hütte standen diese leckeren Früchte, wonach die Bewohner wie verrückt waren.

Nubo, der Vater von Talin, reparierte das Dach ihres Häuschens, seine Frau Enna deckte den Tisch.

Die Hütte war aus Holz mit einem Strohdach. Sie hatte je zwei Räume, Türen und Fenster, um Licht in das Innere zu bringen. Glas kannte man hier nicht, und wenn es zu kalt wurde oder regnete, verschloss man die Öffnungen mit einem Holzverschlag. Elektrisches Licht gab es nicht, deshalb legten sich die Matori mit dem Untergang der Sonne zu Bett und standen mit dem Sonnenaufgang wieder auf.

Das Dorf war kaum größer als zwei Fußballfelder, wenn man die Flächen, die die Matori für Anbau von Obst, Gemüse und Baumwolle nutzten, nicht mitrechnete.

Die Hütten in dem Dorf glichen sich. Niemand beanspruchte Luxus. Wer imstande war, arbeitete auf den Feldern mit, was man erntete, war für alle da.

Nubo organisierte die meisten Arbeiten und die Mittel, die dafür notwendig waren. Er war es, der eine Art Pflug erfunden hatte, und er hatte Kenntnis, wo der Boden am besten geeignet war, um darauf etwas anzubauen. Vieles von dem, was er kannte, hatte er schon von seinem Vater gelernt. Im Laufe der Zeit sahen die Leute im Dorf ihn wie einen Anführer an, weil sie ihm vertrauten.

Vom Dach aus beobachtete Nubo seinen Sohn Gabo, der auf dem Boden mit einer Wurzel spielte. Der Kleine war vier Jahre jung. Er schien darüber nachzudenken, was man mit so einem Stück Holz alles anfangen konnte. Er hielt es in der Hand und studierte es genau, drehte es und drückte dagegen.

Nubo schmunzelte, dann rief er nach seiner Frau: „Enna, wo ist Talin, sie versprach mir, bei meiner Arbeit zu helfen?“

„Ich habe sie länger nicht gesehen, sie ist mit Echna unterwegs. Du kennst doch die beiden, sind sie zusammen, vergessen sie alles.“

„Die Unzertrennlichen. Hoffentlich richten sie keinen Unsinn an.“

„Unsere Tochter doch nicht.“

Sie und ihr Mann hatten Echna gern, da sie höflich, hilfsbereit und für ihr Kind die beste Freundin war.

Nubo kletterte vom Dach, um seine Arbeit zu unterbrechen, weil bald Zeit war für das Essen. Er setzte sich zu Gabo auf den Boden, der sofort seine Wurzel beiseitelegte und sich auf seines Vaters Schoß niederließ.

„Wenn ich groß bin, werde ich ein Haus aus Wurzeln bauen.“

„Und was wirst du für das Dach benutzen?“

„Steine“, antwortete Gabo. „Das hält immer.“

„Das ist eine gute Idee“, lobte Nubo.

Er versuchte, sich vorzustellen, ob es möglich wäre, eine derartige Überdachung zu bauen.

Er drehte seinen Sohn zu sich und fragte ihn: „Hast du keinen Hunger?“

„Nein.“

Der Kleine stand auf und fing an zu hüpfen. Nach ein paar Hopsern hielt sich Gabo mit beiden Händen an Nubos Hals fest und zog seinen Vater abwechselnd zur linken, dann auf die rechte Seite. Es erforderte von Nubo Kraft, um nicht umzufallen. Das ließ er sich einige Male gefallen, packte Gabo an der Hüfte und hob ihn hoch.

„Bist du schwer“, sagte er mit gepresster Stimme und stellte seinen Sohn auf den Boden.

Nubo richtete sich auf und begab sich zum Tisch, der draußen stand. Er nahm einen Becher, füllte ihn mit Wasser und trank den Inhalt leer, ohne abzusetzen. Er bemerkte, dass sein Sohn ihn beobachtete, und schenkte ihm ein. Gabo versuchte, seinen Vater zu imitieren, und schickte sich an, das Wasser in einem Zug zu trinken. Das misslang ihm, Flüssigkeit tropfte über sein Kinn hinunter auf das Hemd.

„Ha“, lachte Nubo, streichelte Gabos Kopf und lief in die Hütte zu seiner Frau.

In der Ecke des Wohnraums standen viele Körbe, in denen Vorräte aufbewahrt wurden. Enna legte Witteln in ein Körbchen, um es bei Tisch zu verwenden.

Die Früchte hatte Enna mit Echnas Mama Molia am Vormittag gepflückt. Meistens waren es die Mütter mit ihren Kindern, die mit großen Körben zum Berg wanderten, um die Witteln zu ernten.

„Gleich essen wir“, verkündete Enna Nubo, die ihn anlächelte. „Jetzt warten wir nur noch auf Talin.“

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, hörte man von Weitem ein Kichern.

„Das werden die beiden sein“, vermutete Nubo, und er hatte recht.

Seinen Kopf aus der Hütte streckend sah er Echna und Talin, wie sie vor Echnas Haus standen, um sich für später zu verabreden. Er winkte ihnen zu, die zwei Mädchen grüßten zurück.

„Die warten schon mit dem Essen, bis gleich.“

„Wir sehen uns später“, erwiderte Echna.

Im ganzen Dorf saßen die Familien zu dieser Zeit an ihren Tischen, um zu speisen.

Dann geschah Seltsames. Vor Einbruch der Nacht veränderten sich die Bewohner. Sie waren sich dessen nicht bewusst. Die Leute schrien sich an und stritten, es wurde immer lauter.

Die sonst so friedfertigen Matori benahmen sich wie Wilde. Sie gingen aufeinander los, beschimpften und schubsten sich gegenseitig. Sie waren nicht mehr sie selbst.

Wie verrückt liefen sie umher, Echna und Talin verhielten sich ebenso. Es schien, als ob sie versuchten, Aggressionen loszuwerden.

Nach einer Weile ließen sie von einander ab und fingen an, sich zu Gruppen zusammen zu schließen. Einige davon verließen das Dorf in Richtung der Gegend, wo die Witteln wuchsen. Sie liefen weiter um den Berg herum und waren an einem See.

Mittlerweile hatten sich alle zu einer einzigen Gruppe vereint. Inzwischen waren sie nicht mehr fähig zu sprechen, stammelten, brabbelten und gestikulierten, um sich zu verständigen.

Einer hatte auf dem Weg hierher einen ein Meter langen Ast vom Boden aufgehoben, mit dem er auf die gegenüberliegende Seite des Sees zeigte, es war Nubo. Die anderen begriffen und gemeinsam sprangen sie ins Wasser, um den See zu durchqueren. Sie erreichten eine Stelle, da war es nicht mehr möglich zu laufen. Sagan, der Mann von Molia, hatte nie schwimmen gelernt. Er bemerkte, dass er nicht fähig war, die andere Seite zu erreichen, und erzeugte ein weinerliches Geräusch.

Nubo zeigte mit dem Stock auf die Stelle, von der sie gekommen waren, und Sagan watete von zwei Dorfbewohnern begleitet wieder zurück ans Ufer.

Die drei standen eine Weile da und beobachteten den Rest der Gruppe. Sie gaben Laute von sich, protestierten, nicht dabei zu sein. Doch Nubo und seine Gefolgschaft kümmerten sich nicht weiter darum, weshalb die drei Männer zum Dorf zurückkehrten.

Nach wenigen Minuten hatte die Gruppe das andere Ufer erreicht. Zielstrebig liefen sie auf ein Waldstück zu, das sie zügig durchquerten. Offenbar waren sie am Ziel, denn sie wurden immer aufgeregter und lauter. Vor ihnen lag das Dorf der Dancken.

Kinder liefen unbekümmert umher und spielten, die Erwachsenen saßen vor ihren Hütten. Ohne Vorwarnung wurden sie durch Laute wie von Tieren aufgeschreckt.

Eine Gruppe von etwa dreißig Wilden kam drohend, schreiend und gestikulierend auf sie zu. Sie schienen bereit zu sein, Gewalt anzuwenden. Die Kinder liefen zu ihren Eltern, von denen sie sofort angewiesen wurden, sich in den Hütten zu verstecken.

„Da sind sie wieder, diese Wilden“, rief einer.

Die Erwachsenen griffen nach Stühlen, Werkzeugen oder anderen Gegenständen, mit denen sie sich verteidigten, und stellten sich den Matori.

Nubo und seine Leute verteilten sich im Dorf, jeder von Ihnen bedrohte willkürlich die Dancken, die zurückwichen.

Mit hochgehaltenen Armen, Schreien und Zähne fletschen drängten die Matori die Dorfbewohner in alle Richtungen, ohne sie zu berühren oder mit ihnen zu kämpfen.

Die Wilden drohten nur, doch das war für die Dancken schon furchterregend genug, da sie sonst nie Kontakte mit Fremden hatten und friedlich lebten. Nach wenigen Minuten war der ganze Spuk vorbei.

Ohne ein Zeichen von Nubo zogen sich die Matori aus dem Dorf zurück und begaben sich wieder auf den Heimweg.

Der Schrecken war den Dancken anzusehen, sie wirkten wie versteinert. Mit blassen Gesichtern und zittrigen Knien standen sie da und langsam, mit gesenkten Köpfen, liefen sie zurück zu ihren Häusern und Kindern.

Ein solches Verhalten war ihnen nicht bekannt, deshalb meinten sie, Wilden begegnet zu sein. Es war nicht das erste Mal, dass sie derart von diesen Menschen bedroht wurden. Sie waren ratlos, weshalb sich die Fremden so benahmen.

Vor Sonnenuntergang waren alle Matori zurück in ihrem Dorf. Allmählich kehrte hier wieder Ruhe ein. Niemand erinnerte sich an die letzten Stunden, so legten sich die Dorfbewohner hin und schliefen bald ein.

Die Legende vom Spiegel

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