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ОглавлениеDie Familie Grund
In einem kleinen Reihenhaus am Rande der Stadt lebte Helena Grund mit ihren Kindern Jens und Marlene. Sie war halbtags in einem Frisiersalon beschäftigt und unzufrieden mit ihrem Job. Ihr Chef war ein tyrannischer Arbeitgeber, der sich verständnislos zeigte, wenn Helena zu Hause blieb, weil ihr Nachwuchs erkrankt war. Wegen des Geldes sah sie sich auf die Arbeit angewiesen und gezwungen, sich mit ihrem Chef abzufinden.
Sie war eine Mutter, die alles im Griff hatte und wie ihr Freund fand, apart. Die beiden waren seit zwei Jahren ein Paar.
Klaus hatte eine eigene Wohnung nicht weit von der Familie Grund entfernt. Wann immer es möglich war, verbrachte er seine Freizeit bei Helena und den Kindern.
Klaus war Möbeldesigner, der am liebsten musizierte. Vor einigen Monaten hatte er mit der Band, in der er Bass spielte, seinen ersten öffentlichen Auftritt, bei dem Helena, Jens und Marlene anwesend waren.
Klaus freute es, wenn die drei mit zu den Proben kamen, denn die anderen Bandmitglieder hatten ebenfalls Familie, die sie oft mitbrachten. Es wurde nicht nur musiziert, sondern Kaffee getrunken, Kuchen gegessen, erzählt und gelacht.
Klaus beschäftigte sich und sprach gerne mit den Kleinen, da er keine eigenen Kinder hatte. Bevor er Helena kannte, war es ihm fremd, sich vorzustellen, selber Nachkommen zu haben.
Jens war dreizehn und Marlene elf Jahre alt. Beide waren aus dem Gröbsten raus und besuchten dieselbe Schule.
Klaus war beeindruckt davon, dass die Sprösslinge einerseits manierlich erzogen und höflich, andererseits keine Duckmäuser waren, die sich alles gefallen ließen. Wenn ihnen etwas nicht passte, sagten sie das. Oft diskutierten sie mit ihrer Mutter, weil sie empfanden, ungerecht behandelt worden zu sein, oder wenn ihnen etwas verboten wurde.
Helena ließ ihren Kindern Freiraum, manchmal hielt sie es für erforderlich, streng zu sein und durchzugreifen, sofern ihre Sprösslinge es zu weit trieben. Das geschah vor allem, wenn sie miteinander spielten, was oft damit endete, dass die Kleine weinte, weil Jens seiner Schwester wehgetan hatte. Dann sorgte Helena wieder für Ruhe und Ordnung.
Marlene verhielt sich sozial, schätzte ihre Umgebung realistisch ein und gab sich fürsorglich, Jens hingegen war verspielt, kreativ, immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Das Mädchen half gerne freiwillig im Haushalt, der Junge dagegen kam kaum auf die Idee, von sich aus etwas zur Hausarbeit beizutragen.
Weil deshalb immer wieder gestritten wurde, hatte Helena von einer Bekannten eine Idee aufgegriffen, mit der sie Jens dazu ermunterte, einzukaufen, zu saugen und den Müll wegzubringen.
Für die verschiedenen Tätigkeiten gab es Punkte, die auf einem Blatt Papier notiert und am Ende des Monats in zusätzliches Taschengeld umgerechnet wurden. Das war für Jens ein echter Anreiz, und so wetteiferten die Kinder darum, Punkte zu sammeln.
Am Samstagmorgen erwachten Helena und Klaus gegen neun Uhr, da Marlene in ihr Zimmer eintrat.
„Mama, was machen wir heute?“, erkundigte sie sich.
Das war die Frage, die sie am häufigsten stellte. Helena hielt die Decke hoch und forderte die Kleine auf, sich zu ihnen zu legen.
„Na, du“, sagte Klaus, der den Kopf anhob, um Marlene zu begrüßen.
„Hallo“, erwiderte sie und kuschelte sich unter die Decke.
„Wann sind wir denn heute aufgestanden?“, erkundigte sich die Mutter.
„Um zehn nach acht“, antwortete sie.
„Dann hast du ja lange geschlafen“, meinte Klaus.
„Und Jens, ist er schon wach?“, fragte Helena.
„Ja. Gehen wir heute schwimmen?“
In der Rangfolge der am häufigsten gestellten Fragen von Marlene kam diese an zweiter Stelle.
„Nein, du warst doch gestern erst im Schwimmbad“, meinte Helena.
„Was machen wir denn heute?“, nervte sie mit der wiederholten Frage.
„Ich habe keine Ahnung. Was macht Jens?“
„Der sitzt vor dem Fernseher.“
Mit diesen Worten stand Marlene wieder auf und verließ das Zimmer.
An der Tür fragte sie: „Kommt ihr?“
„Ja, wir stehen gleich auf. Holst du Brötchen?“
„Nö, ich habe sie das letzte Mal geholt.“
Marlene hatte schon fast die Tür geschlossen, da rief Ihre Mutter hinterher: „Frag bitte Jens, ob der zum Bäcker fährt!“
Helena und ihr Freund blieben ein paar Minuten liegen, und Klaus imitierte die Kleine: „Was machen wir denn heute?“
Beide lachten, worauf sie vorschlug: „Wir haben lange nicht mehr den Tierpark besucht.“
„Die Tiere zu beobachten und über das Gelände zu laufen macht uns allen Spaß. Ich nehme den Fotoapparat mit.“
Helena stützte sich auf den Ellbogen, küsste Klaus und sagte: „Ich gehe zuerst duschen“, dann stand sie auf.
Eine halbe Stunde später saßen sie am Frühstückstisch. Jens hatte Brötchen geholt und für sich drei Punkte auf dem Blatt notiert, das Helena eigens dafür mit Tesafilm an die Wand geklebt hatte. „Wir haben uns überlegt, den Tierpark zu besuchen“, verkündete Helena, worauf ein spontanes „au ja“ von Marlene ertönte.
„Schon wieder?“, fragte Jens fast zeitgleich.
„Wieso, das ist doch lange her.“
„Mama! Das ist höchstens drei Monate her“, protestierte ihr Sohn erneut.
„Freue dich doch, dann wirst du deine Brüder wieder sehen“, scherzte Klaus und schaute den Jungen erwartend an.
Er war sich sicher, dass Helenas Sohn diese Anspielung nicht verstehen würde, und Jens guckte ihn fragend an: „Hä?“
„Im Affenkäfig“, erklärte Klaus.
Marlene kicherte, und ihr Bruder trat nach ihr.
„Hör auf!“, rief sie.
Helena schaute ihrem Sohn streng in die Augen, wie sie immer reagierte, wenn er seine Schwester traktierte.
„Lass das!“, befahl sie. „Wir besuchen den Tierpark, falls du nicht mitgehst, steht es dir frei, dich mit Hacki zu verabreden.“
„Darf ich ihn anrufen?“, fragte er ungeduldig.
„Sobald wir mit dem Frühstücken fertig sind.“
„Oh, Mann!“
„Ich bin kein Mann“, erwiderte seine Mutter.
„Dafür bin ich dankbar“, meinte Klaus.
Helena warf ihm einen Kussmund zu.
„Wenn Jens nicht mitkommt, dann nehmen wir Christine mit, oder?“
Die Kleine kuckte erwartend ihre Mutter an.
„Von mir aus, ja. Erkundige dich bei ihren Eltern, ob sie mitkommen darf. Und Jens, du rufst gleich Hacki an. Wenn klar ist, dass du hier nicht die ganze Zeit alleine bist, bin ich einverstanden.“
Klaus stand auf, nahm die Kaffeekanne von der Kaffeemaschine und schenkte Helena und sich nach.
Nachdem sie mit dem Frühstück fertig waren, fragte der Sohn langsam und gewählt: „Ist es jetzt genehm?“
„Ja, ruf an!“
Wenige Minuten später war alles geklärt. Hacki würde zu Jens kommen, die Erwachsenen würden mit Marlene den Tierpark besuchen. Christine war schon verabredet.
Klaus und Helena saßen gemütlich in der Küche und tranken ihren Kaffee aus, die Kinder waren nach oben gegangen. Es dauerte nur zwei Minuten, dann hörte man Jens und Marlene wieder streiten. Kurz darauf weinte die Kleine.
Helena verdrehte ihre Augen, riss die Tür auf und rief in den Flur: „Was ist los?“
„Der Jens hat mich gestoßen.“
„Die Blöde ist auf mein Schwert getreten.“
„Ich habe dir verboten, deiner Schwester wehzutun!“ „Die hat angefangen.“
„Das stimmt überhaupt nicht, das war keine Absicht“, beschwerte sich Marlene.
„Hört jetzt auf! Jeder bleibt in seinem Zimmer!“
Helena schloss die Küchentür und stellte verärgert fest: „Immer das Gleiche.“
„Rege dich doch nicht auf, so sind Kinder.“
„Ja, aber ich habe das jeden Tag um die Ohren.“
Klaus stellte sich vor Helena, umarmte sie und sagte: „Ich verstehe dich, es ist nicht leicht.“
Kurz darauf deckten sie zusammen den Tisch ab, er begab sich dann ins Bad, um sich zu rasieren, Helena räumte derweil das Wohnzimmer auf.
Eine halbe Stunde später klingelte Hacki, Klaus öffnete ihm die Tür.
„Hallo, wie geht es?“
„Danke gut. Wie ist dein wertes Wohlbefinden?“
„Prima, schau mal, ein neues Schwert!“
„Da steckt viel Arbeit drin, das sieht man, hast du das selbst angefertigt?“
„Ja“, antwortete er mit strahlenden Augen.
Hacki überreichte Klaus das Holzschwert, das er genau inspizierte.
„Es gefällt mir.“
Hacki nahm sein Schwert wieder an sich und sagte: „Danke, ich gehe rauf.“
„Klar, mach nur!“
Hacki polterte die Treppe hinauf, da kam ihm Marlene entgegen. Die beiden begrüßten sich mit einem kurzen „Hallo“. Am oberen Treppenabsatz wartete Helena, die danach trachtete, nach unten zu gelangen.
„Hallo Hacki, das ist ja ein reger Verkehr hier.“
„Guten Morgen“, antwortete der Junge. „Ich habe Vorfahrt.“
„Ich bin aber älter.“
„Ich bin aber schneller.“
Mit diesen Worten huschte er an ihr vorbei in das Zimmer seines Freundes, mit dem er schon seit dem Kindergarten befreundet war. Helena liebte Hacki wie ihren eigenen Sohn, da er eine unbefangene und kesse Art hatte, mit ihr umzugehen.
Die Erwachsenen und Marlene zogen ihre Schuhe und Jacken an. Klaus fiel auf, dass er den Fotoapparat nicht dabei hatte.
„Die Knipskiste habe ich vergessen.“
„Die liegt im Wohnzimmer“, sagte Helena.
„Knipskiste“, wiederholte Marlene spöttisch.
Klaus betrat den Flur und fragte: „So, seid ihr soweit?“
Helena antwortete singend: „Ich steh hier schon seit Stunden und drehe meine Runden...“
„Quak, Quak, Quak“, tönte Klaus.
Helena gab den Jungs Bescheid: „Wir sind weg!“
Die riefen fast zeitgleich: „schö-ö“.
Die drei verließen das Haus, Jens und Hacki blieben allein zurück.