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Weiß und rot

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Vier Nonnen kommen auch unter den Krippenfiguren in unserer Weihnachtskiste zum Vorschein. Sie stammen aus Mexiko und sind fein gearbeitet in ihren langen blauen Gewändern. Und natürlich alle vier ganz gleich. Freude drücken die bleichen Gesichter unter den weißen Flügelhauben nicht aus. Der Krippenmacher ist offenbar kein besonderer Freund klösterlicher Lebensweise gewesen.

Wir stellen sie dicht zusammen auf den Markt, der sich zu Füßen des heiligen Paars und seines göttlichen Kindes entfaltet. Je zwei und zwei dicht hintereinander, denn es die Ordensregel gebietet, daß keine Nonne ihren Konvent allein verlassen darf. Kein Wunder, daß ihre Gesichter ernst und ablehnend sind. Laut und fremd bricht das Leben um sie herum auf sie ein, die Marktsände, schon ganz auf Weihnachten ausgerichtet mit ihrem Backwerk, den vielen glitzernden Draht und Blechsternen, Flitterschnüren, spanischem Moos, Feuerwerkskörpern und Krippenfiguren in allen Größen. Wer’s nicht besser weiß, sieht nicht nur Freud-, sondern auch Trostlosigkeit in den kalkweißen Mienen. Aber das wäre ein Mißverständnis. Der mißmutige Ausdruck spiegelt nur die Angst vor dem bunten Treiben um sie herum wider, auch ein Befremden bis hin zu Kritik und Tadel an soviel Weltlichkeit. Die Nonnen sollen die fröhliche Botschaft in diese Weltlichkeit einbringen. Sie stellen jedes Jahr die Marktkrippe auf. Niemand, wohl auch sie selbst nicht, weiß, ob das eine Pflicht oder ein Privileg ihres Konvents ist.

Der erhöhte Verschlag, der den Stall von Bethlehem darstellen soll, ist am Vortag von der Schreinergilde errichtet worden, auch das ein Privileg ferner Herkunft. Als die vier Frauen bei ihm angekommen sind, stellen sie ihre Körbe erleichtert hinter der Absperrung um ihn herum ab, nehmen die in weiße Tücher geschlagenen Krippenfiguren heraus und beginnen sie langsam und vorsichtig auszuwickeln, denn die Figuren sind, wie fast alle, die man auf dem Markt kaufen kann , aus Ton und zerbrechlich, Jedes Jahr müssen einige von ihnen wieder in den Konvent zurückgebracht werden, wo Schwester Amanda schon mit Leimtopf, Pinsel und Farben bereit ist, abgebrochene Finger, Zehen oder sogar Köpfe zu leimen und frisch zu bemalen. Aber es sollten so wenige wie möglich sein, und auf die Ersatzfiguren daheim sollte man möglichst überhaupt nicht zurückgreifen müssen.

Zeremonell geht es nicht zu. Was zufällig zu oberst in den Körben liegt, kommt auch als erstes auf seinen Platz, ohne auf die heilige Familie oder gar das Christkind warten zu müssen. So drängt sich bereits ein Dutzend Schafe ohne Hirte auf der linken Seite der Weihnachtsszene zusammen, ehe Joseph erscheint, und auch er muß lange auf Weib und Kind warten. Natürlich stellen sich Zuschauer ein. Ohne die drahtbespannten Rahmen wäre Schuppen, Nonnen und Krippe sofort von zweifelhafter Menschheit überflutet und alles zerstört. Besonders fest und zuverlässig ist die Absperrung allerdings nicht und vor allem nicht immer geschlossen. Es fehlt an vielem. So hat ein Marktstand das Privileg, das Stroh zu liefern, auf dem das Christkind zu liegen kommen soll, ein anderer eine Handvoll Heu für Ochs und Esel, ein dritter spanisches Moos für das Dach und die Zweige um die Hütte, die ein paar Bäume darstellen sollen. Ein anderer Händler kommt mit einer Handvoll goldener Sterne für die Decke des Stalls über dem Christkind. Kurz, das Gitter, das die Leute draußen halten soll, steht die Hälfte der Zeit über offen. Ein anderer Händler kommt mit einer Handvoll goldener Sterne für die Decke des Stalls über dem Christkind. Kurz, das Gitter, das die Leute draußen halten soll, steht die Hälfte der Zeit über offen. Der jüngsten Nonne, Schwester Cecilia, fällt die undankbare Aufgabe zu, die ständigen Versuche der Kinder abzuwehren, doch näher an die Krippe heranzukommen . Es kostet sie ihre christliche Demut, diese Aufgabe nicht als das zu sehen, was es ist : eine Strafe dafür, daß sie so jung ist.

Die Kinder hinter dem Gitter gehören zu denen, die auf der Straße leben. Das sieht selbst die behütete Schwester Cecilia ihnen an. Fast alle sind Jungens, und mit ihnen fertig zu werden ist Schwester Cecilia nicht gegeben. Sie möchte ihnen etwas über die Geburt zu Bethlehem erzählen, ihnen erklären, wie es dazu kam, daß Joseph seine gebärende Frau in einem Stall unterbringen mußte und wie wichtig es war, daß der Erlöser aller Menschen in dieser schäbigsten aller Unterkünfte das Licht der Welt erblickt hat. Aber schon der Versuch, den Jungens hinter dem Gitter näher zu kommen, läßt wilde Flucht und Gelächter aus, und die ganze Bande sammelt sich an einer anderen Stelle der Absperrung, genau da, wo sie besonders einfach auseinanderzuschieben wäre. Schwester Cecilia eilt dorthin, und die Kinder sammeln sich wieder vor der Krippe.

Unterdessen haben die älteren Schwestern das Christkind aus seiner Hülle gewickelt und auf die neue Schütte von Strohhäcksel gebettet. Sie sind lange nicht zufrieden mit seiner Lage, und auch das Häcksel wird immer wieder herausgenommen und neu aufgeschüttet.

Die Jungens haben das Christkind gesehen, und das scheint ihnen zu genügen. Jedenfalls ziehen sie auf einen Schlag alle ab, und jetzt erst bemerkt Schwester Cecilia die schwarzen Augen eines kleinen Mädchens, das unbeweglich durch den Draht auf das Christkind starrt. Sie ist eine morena, eine dunkelhäutige, wenn Schwester Cecilia auch nicht sicher zwischen dunkler Haut und einer dicken Dreckschicht unterscheiden kann. Den Dreck erkennt sie eindeutig nur an den Händen und Füßen. So dunkelhäutige Wesen sieht sie selten. Im Konvent gibt es keine. Der Orden legt Wert darauf, daß seine Frauen aus der Oberschicht stammen, aus Familien so gut wie rein spanischer Herkunft. Es ist auch nicht unwichtig, daß er nur von diesen eine ziemliche Mitgift erwarten kann. Die Ordensleitung steuert die Aufnahme von Novizen dezent und effektvoll.

Das Christkind scheint noch reiner spanischen Blutes zu sein als die Familien der Nonnen. Rosig liegt es in seiner Krippe. Rosig ist sein Leib. Von der gleichen Farbe sind seine Glieder. Selbst die Haare - wo nimmt ein frisches Geborenes so viele Haare her? -, also auch diese Haare sind nicht schwarz wie bei den Landeskindern, sondern von hellem, ein wenig rötlichen Braun. Immerhin hat der Krippenmacher darauf verzichtet, ihm blaue Augen zu geben. Die Augen sind schwarz. Der Mund, ach, der Mund, er ist rosenrot...

Das Mädchen wendet die Augen nicht eine Sekunde von dem Kind in der Krippe ab. Es weiß genau, wie seine rosige Nacktheit zustandekommt. Es hat oft genug zugesehen, wie die Krippenhändler ihre Christkinder nachbemalen, wenn die Farbe auf dem Transport etwas abgerieben worden ist. Man braucht dazu Wasser, ein bißchen Deckweiß und Hellrot. Das alles mischt man, und schon hat man die rosige Farbe. Keine Zauberei, und doch wird es eine, wenn sie auf das Baby kommt. Kein Baby, das das Mädchen je gekannt hat, hatte diese wunderbare Haut. Jedes war braun wie das Mädchen selbst, oder doch fast so braun. Wenn man doch so rosig werden könnte. Oder wenigstens so ein rosiges Baby in den Armen hätte.

Schwester Cecilia spricht das Mädchen an.

"Wie heißt du?"

"María."

Natürlich. Welches weibliche Wesen in diesem Land heißt nicht nach der Himmelskönigin?

"Wo wohnst du?"

Das Mädchen gibt einen unverständlichen Laut von sich.

"Bei deinem Vater?"

"Hab' keinen Vater."

Schwester Cecilia zuckt zusammen. Sie ahnt die Profession der Mutter, so unklare Vorstellungen sie auch davon hat. Sie stammen noch aus dem Elternhaus, bevor sie in den Konvent eintrat.

"Bei deiner Mutter also?"

Das Kind schaut nur das Christkind an und gibt keine Antwort.

"Lebst du bei deiner Mutter?", fragt Schwester Cecilia lauter.

"Hab' keine Mutter mehr." Die Stimme das kleinen Mädchens klingt gleichgültig.

"Wie?" Schwester Cecilia ist entsetzt.

"Krank geworden und gestorben."

"Oh!"

"Wurde immer dünner und ist gestorben."

Schwester Cecilia hat immerhin etwas von AIDS gehört, auch das noch im Elternhaus. Hilflos schaut sie das Mädchen an.

"Die Frau neben uns, die Amalia, ist auch gestorben", sagt das Mädchen.

Schwester Cecilia will der kleinen Waise etwas Gutes tun, ihr Trost spenden, erreichen, daß sie sich auch einmal freut.

"Willst du reinkommen und den kleinen Jesus richtig anschauen? Von nahem?"

Das Mädchen schaut Schwester Cecilia unsicher an. Man sieht, sie denkt, das kann doch wohl nicht wahr sein? Wortlos zwängt sie sich durch die Gitterspalte, die Schwester Cecilia ihr geöffnethat. Blitzschnell schnappt es sich das Christkind, kann plötzlich in höchster Geschwindigkeit zwischen zwei Gitterrahmen durchschlüpfen und ist zwischen den Marktständen verschwunden. Die Nonnen schreien auf. Ein paar Männer jagen dem Mädchen nach. Es ist bereits unauffindbar. Schwester Eulalia, die älteste der vier Nonnen, schaut Schwester Cecilia mit schwer zu deutendem Blick an. Ein guter Blick ist es nicht. Sie schickt Schwester Cecilia zunächst einmal mit einer anderen Schwester in den Konvent, um ein Reservechristkind zu holen. Was ihr sonst noch für die Regung ihres Herzens blüht - war sie christlich oder einfach nur jung? - wollen wir uns besser nicht ausdenken.

Wir gehen lieber dem Christkind nach und mit ihm der kleinen María. Wir finden sie nicht weit von den Nonnen. Die brüllenden Männer sind an ihr vorbeigestürmt und in der Tiefe des Marktes verschwunden. María hat sich zwischen die Zeltwände der nächsten beiden Buden geklemmt, das Christkind fest an sich gepreßt. Freilich gibt sie acht, daß Arme, Beine und Kopf des Christkinds nicht in Gefahr kommen, abzubrechen. Sie weiß, wie empfindlich diese Tonfigürchen sind. Sehen kann sie das Kind nicht, denn die eine Zeltwand liegt ihr direkt auf dem Gesicht. Sie benimmt ihr fast den Atem. Aber María wagt sich nicht zu rühren. Die Budenbesitzer vor und hinter ihr würden sie sofort entdecken. Es ist schon ein Glück, daß sie über dem Geschrei der Nonnen und dem Gebrüll der Verfolger nicht gemerkt haben, wie sie zwischen die Zelttücher geschlüpft ist. María hört, wie sie sich aufgeregt unterhalten.

"Eine Schande ist es, wie es heute zugeht", sagt eine Männerstimme hinter ihr.

"Man ist seines Lebens nicht mehr sicher", ergänzt eine klagende Frauenstimme.

"Naja", meint die Männerstimme wegwerfend, "ein Dieb ist nicht gleich ein Mörder."

"Das sagst du", fällt die Frau über diesen Satz her. "Ich will schon lange nicht mehr hier verkaufen. Ist doch viel zu gefährlich. Und die paar Kröten, die es einbringt. Dafür bringst du mich jedes

Jahr wieder in Gefahr. Die bringen mich noch um. Vor Weihnachten, ausgerechnet vor Weihnachten, bringen die mich noch um, und bloß, weil du so geldgierig bist. Fürs Geld tust du alles. Fürs Geld stellst du deine Frau hier auf den Markt. Hier bitte, eine Frau zum Totschlagen!"

Die Männerstimme bleibt aus. María hört aus der andern Bude, der vor ihr, leises Kichern, auch hier ein männliches und ein weibliches. Solche Querelen kennt sie, von Zuhause, von den Nachbarn, die sie aus dem Kanisterverschlag ihrer Mutter vertrieben haben, und aus Gesprächen, die sie seitdem in der Stadt belauscht hat, immer in der Hoffnung auf ein Geldstück oder etwas zum Essen. Sie schaltet ab. Sie wird erst wieder aufmerksam, als die beiden Paare sich in Phantasien ergehen, was man mit dem Dieb des Christkinds alles machen sollte.

"Eine Schande ist es", leitet eine Frauenstimme diesen Abschnitt der Unterhaltung ein.

"Totschlagen müßte man diese Kerle", sagt einer.

"Aufhängen", empfiehlt ein anderer.

"Sich ausgerechnet an dem heiligen Kind vergreifen."

"Kommt in die Hölle dafür."

"Früher hätte man den Kerl verbrannt."

"Und ganz langsam."

"Ertränken wär' auch eine gute Methode."

"Wenn's ein bißchen dauert, meinetwegen."

"Immer wieder hochziehen und dann wieder runter."

"Warten, bis es genug Haie hat."

María hört die drei anderen lachen. Es klingt gutmütig, ein wenig träge, dieses Lachen. Es hat direkt etwas Gemütliches. Sie mögen am Anfang des Gesprächs empört und verunsichert gewesen sein, voller Haß auf die Straßenkinder, deretwegen sie ständig auf ihr Hab und Gut aufpassen müssen und nicht friedlich vor sich hindösen können, wenn keine Kunden kommen. Jetzt sind die sadistischen Einfälle nur noch dazu gut, sich mit den Nachbarn einig zu sein über die Verkommenheit dieser Welt.

"Ich bin für's Erschießen. Einfach erschießen," nimmt eine Männerstimme den Faden wieder auf. "Das ganze Kroppzeug erschießen, was da zwischen den Marktständen herumläuft."

"Vergasen müßte man sie. Vergasen."

"Oder 'ne Spritze."

"Für das ganze Kroppzeug. Sammelt die Pest ein, bringt sie ins Krankenhaus und jedem seine Spritze."

"Ach, das tut doch gar nicht weh genug."

"Da ist schon wieder so'n Kerl. Mistzwerg, ich sage dir, verschwinde!"

"Der wird's gewesen sein."

"War's nicht ein Mädchen? Ich mein', es wär' ein Mädchen gewesen."

"Bist du verrückt geworden? Ein Mädchen tut sowas nicht. Keine Frau tut sowas. Kann ich Ihnen behilflich sein, gnädige Frau?"

"Nein, nein", sagt eine Stimme mit starkem US-Akzent. "Ich schaue nur."

"Heuer ist aber auch gar nichts los", sagt eine verdrossene Männerstimme nach einer Weile. "Nicht einmal die Touristen kaufen mehr was."

Dieb und Christkind scheinen vergessen.

María war oft Zeuge von dergleichen Gesprächen. Geduldig hat sie die Ausschüttung solch sadistischer Phantasien abgewartet, in der Hoffnung, danach ein Geldstück, ein paar tortillas und vielleicht sogar ein überbratenes, hart gewordenes Stück churrasco zu bekommen. Die halbgares Fleisch verzehrenden Kunden der churrascostände schienen einen besonderen Hang zu derartigen Gedankenspielen zu haben. Die verschiedenen Mord- und Todesarten glitten an María ab wie Wasser an einer Ölhaut.

Aber jetzt, wo sich das alles auf sie bezieht, wird ihr klar, was es bedeutet, und so wenig sie sich Genaues zu den verschiedenen Hinrichtungsarten vorstellen kann, so heftig arbeitet ihre Phantasie und malt jeden Vorschlag in grausigen Einzelheiten aus. Der Druck der Zeltwand auf ihr Gesicht und ihren Unterleib wird zu unerträglichem Schmerz, der Fuß des Christkinds zu einem Messer, das in ihrem Leib hin- und hergedreht wird, der Schweiß, der ihr von der Stirn ins Auge läuft, wird ihr gleich den Atem abschneiden. Sie ist drauf und dran, aus der Spalte zwischen den beiden Buden herauszustürzen. Einen halben Augenblick bevor sie sich rührt, wird ihr klar, daß dann genau das passiert, wovor sie bodenlose Angst hat. Das Wort 'Hai' löst eine solche Panik in ihr aus, daß sich ihr Denkvermögen verflüchtigt. Gestalt und Farbe ihrer Horrorphantasmen, die Worte der Budenbesitzer, alles löst sich auf in einen Nebel. Langsam und unaufhaltsam verliert sie das Bewußtsein. Immerhin bleibt ihr soviel, daß sie sich aufrecht und still verhalten kann.

Sie kommt wieder zu sich, als es draußen still geworden ist. Unheimlich ist die Stille, wenn man in ihr nichts sieht. Langsam drückt sie sich durch die Zeltplanen ins Freie. Die Buden sind zu. Planen sind auch vor den Theken herabgelassen. Alles ist mit Schlössern gesichert. Die Leute sind fort. María hat Hunger. Reinigungswagen und Marktkehrer kommen erst früh am Morgen, das weiß sie. Sie kann beinah ungestört gehen und sehen, ob sie nicht eine schlecht ausgelöffelte Papaya findet oder einen Hühnerknochen, den ein amerikanischer Tourist halb abgenagt weggeworfen hat.

Aber vorher will sie das Christkind wieder in seine Krippe zurückbringen. Sie glaubt, was sie gehört hat. Sie weiß, sie hat sich einen Fluch mit diesem Diebstahl zugezogen. und will ihn so schnell wie möglich wieder loswerden. Vorsichtig schleicht sie sich zur Marktkrippe hin.

Sie späht in den Stall von Bethlehem hinein. Ihr Herz setzt einen Augenblick aus vor Schreck. Ein anderes Christkind liegt in der Krippe. Sie braucht nicht mehr eine Stelle im Gitter zu suchen, durch die oder über die sie in die Absperrung hineinkommt, immer in der Angst, es kommt einer und bringt sie irgendwohin, wo man all das mit ihr macht, was die Budenbesitzer sich ausgedacht haben. Sie kann, nein, sie muß ihr Christkind behalten. Das macht ihr dunkle, kaum bezwingbare Angst - und zugleich wilde Freude.

Vor der Marktkrippe wagt sie 'ihr' Christkind nicht unter der verknauschten Bluse hervorzuziehen. Ihr Hunger wächst ins Ungemessene. Sie umklammert das Christkind unter dem dünnen Stoff fest mit der linken Hand und schleicht sich davon, zu den Ständen mit den Früchten. Und da liegen sie auch schon, von den Marktfrauen am Abend aus ihren Körben und Kisten ausgelesen und achtlos auf den Boden geworfen, wie es des Landes Brauch ist. Ganze Papayas mit einer Druckstelle, Tomaten, die eine dunkle Stelle haben, braune Bananen, die doch viel besser schmecken als die, die noch gelb sind. María sieht sich um, und als sie niemand kommen sieht, legt sie das Christkind sorgsam in den Schatten unter einen Holztisch. Die Dämmerung bricht rasch herein. Selbst das rosige Christkind ist kaum zu sehen. Sie kann sich in Ruhe satt essen. Die Markthüter, das weiß sie, kommen erst gegen Mitternacht, und weil sie trotz ihrer Pistolen Angst haben, machen sie auch immer einen Lärm, den man zehn Stände weit hört.

Auch María hat Angst, so allein in der Nacht zwischen den leeren Holztischen. Aber der Hunger ist größer. Als er endlich gestillt ist, möchte sie ihr Christkind hochnehmen. Aber ihre Finger sind klebrig, und sie weiß, das tut der Farbe des Christkinds nicht gut, und gerade sie ist es doch, die es ihr so lieb und kostbar macht. Sie versucht die Hände an den steifen Zelttuchwänden abzuwischen, was aber nur den Erfolg hat, daß zum klebrigen Saft der Papaya und Bananen noch ein körniger Schmutz kommt, von dem María nicht weiß, wo er eigentlich herkommt (und wir auch nicht). Vielleicht ist es Sand. Aber das interessiert jetzt nicht weiter. Wenn man ihn und das klebrige Zeug nur von den Händen wegbekäme. Es bleibt schließlich nichts anderes übrig, als sie ganz unten am Saum des Rocks abzuwischen, der sowieso schon total verdreckt ist und von dem María ohnehin nicht weiß, wie, wann und wo sie ihn jemals waschen soll. Schon fast im Dunklen greift sie unter den Tisch - möge dort nicht inzwischen eine Spinne oder ein Skorpion wach geworden sein, die mit den Bananenständen auf den Markt gekommen sind. Nein. María ertastet ihr Christkind, legt es sich in den Arm wie ein Baby und eilt zu ihrer Schlafstätte unter dem vorspringenden Dach eines Supermarkts. Hoffentlich liegen die Zeitungen noch dort...

Und alles ist gut. Am nächsten Morgen in der Dämmerung erwacht sie und hat alle Zeit zu verschwinden, eh jemand kommt, dem es einfallen könnte, sie zu verjagen. Das Christkind liegt noch unversehrt an ihrer Seite. Es wird heller, und wie leuchtet die rosige Haut des Christkinds auf Marías braunem Arm. Es ist nicht lebendig. Es regt sich nicht. Aber wie rund und kindlich sind seine Arme und die Beinchen. Es lächelt, nicht hilflos oder etwa mit Augen, die ihre Umwelt noch nicht recht erfassen und ins Leere schauen. Dieses Kind ist eher zu bewußt mit seinem geraden Blick. María nimmt nicht weiter wahr, wie überreif dieses doch angeblich gerade auf dem Stroh geborene Baby ist. Sie dreht es solange hin und her, bis es ihr gerade in die Augen schaut, und läßt sich überfluten von seinen kindlichen Reizen. Überall tippen sie an, wo in ihr mütterliche Reflexe darauf warten, von ihnen angesprochen zu werden, frühe Stufen solcher Reflexe vielleicht, aber doch schon weit herangereifte...

María erlebt Augenblicke des Glücks. Sie steigen in ihr hoch. Sie lassen sie alles um sich her vergessen. Fast ohnmächtig werden.

Sie können nicht ewig dauern. María kommt wieder zu sich. Sie sieht die Straßenjungen vor sich, mit denen sie Markt und Schlafstelle unter dem Kaufhausvordach teilt. Sie weiß, daß sie ihr Christkind riskiert, wenn sie es nicht schleunigst wieder in ihrer Bluse versteckt, und besser wird auch sein, damit so schnell wie möglich aus der Menge zu verschwinden. Erst als sie einen etwas abgelegenen, wenn auch nicht gerade einsamen Winkel erreicht, wagt sie das Christkind wieder hervorzuziehen. Der Rausch mütterlicher Gefühle hat nachgelassen, und sie bemerkt, daß die rosige Haut des Christkinds Fingerabdrücke abträgt. Papayafarbene und bananenfarbene. Einen häßlichen Daumenabdruck auf dem Bauch, und die vier anderen Finger sind deutlich auf dem Rücken und den beiden runden Bäckchen darunter zu sehen. María versucht sie mit einem Blusenzipfel abzuwischen. Ihre Konturen verschwinden. Aber statt ihrer breiten sich große graue Flecken aus. María hat es offensichtlich geschafft, mit den Abdrücken die rosige Farbe abzureiben. Das Grau freilich, das Grau kommt wohl daher, daß sie die Bluse so lange nicht gewaschen hat.

María eilt zum Brunnen in der Mitte des Marktplatzes. Sie taucht einen Finger ins Wasser und versucht mit ihm den Dreck wegzutupfen. Auf dem Babypo zunächst. Aber o weh, das Wasser läuft am Körper des Christkinds entlang, vorn und hinten. Es zieht überall lange Strähnen in die Wasserfarbe. Ehe María es verhindern kann, hat ein Tropfen das Gesicht erreicht. Auge, Braue, Mund, alles löst sich auf in ein paar Schlieren.

Weit fort sind die Momente des Glücks.

Durch ihren Tränenschleier bemerkt María eine Frau, die nicht weit vom Brunnen mit einer Heerschaar von Krippenfiguren am Boden sitzt. Streng militärisch stehen die Figuren da, auf Vordermann gebracht gewissermaßen. Mehrere Dutzend Josephs, daneben mehrere Dutzend Marias, eine Reihe Ochsen, eine Reihe Esel, Reihen von Schafen, Hirten, Heiligen Königen und manches andere, immer eine Reihe schön neben der andern. Die Frau schaut María zu, wie sie ihr Christkind zu waschen versucht. Sie ist dunkelhäutig wie María. Schräge Augen hat sie, hohe, knochige Wangen und breite Lippen mit scharf abgesetztem Rand. Sie könnte eine reine Indianerin sein.

Sie amüsiert sich über María. María ist verzweifelt. Immer mehr Farbe geht ab von ihrem Christkind oder verwandelt sich in eine häßliche Tunke. Die Frau lacht.

"Komm her! Ich male deinem Christkind ein neues Gesicht", sagt sie.

María schaut die Frau voller Panik an. Sie ist drauf und dran, davonzulaufen.

"Ich nehm' dir das Christkind nicht weg", sagt die Frau. "Schau, hier ist Rot, hier ist Weiß, und hier das Schwarz für die Augen. Du holst mir Wasser am Brunnen, und dann machen wir dein Christkind wieder schön." Damit streckt sie María eine verbeulte Konservendose hin.

"Kannst dein Christkind hier hinlegen oder nimm's mit." Kopfschüttelnd sieht die Frau María nach, wie sie zum Brunnen geht, ihr Christkind fest in der Hand.

Zehn Minuten sitzen die beiden nebeneinander hinter dem Heer der Krippenfigürchen und María schaut zu, wie die Frau Rot und Weiß mischt. Sie hat das Christkind zunächst mit einem vielfarbigen trockenen Lappen abgerieben, der auch schon einiges durchgemacht hat, mit einem nassen Pinsel die letzten Farbflecken weggetupft, bis nur die graubraune Keramikfarbe blieb, und jetzt geschieht das Wunder. Aus dem rotweißen Gemisch im Deckel des Farbkastens wird die unerreichbar helle, unwirkliche, atmende Babyhaut.

Das Baby darf auf der Matte der Krippenfrau trocknen, damit sie noch das blonde Haar und die Gesichtszüge auftragen kann. Die Frau zieht eine feine Augenbraue über das linke Auge und schaut María ins Gesicht.

"Das ist das Christkind aus der Marktkrippe, nicht wahr?" stellt sie mehr fest, als sie fragt.

María will wieder davonstürzen. Aber die Frau hält sie mit eisernem Griff fest.

"Nun renn doch nicht weg! Wir müssen doch noch das andere Auge malen und den Mund. Du bekommst das Christkind schon wieder. Da!" Sie schiebt María ein blau-rot karriertes Tuchbündel hin. "Nimm dir eine tortilla! Meinetwegen auch zwei!"

María schlägt das Tuch auseinander. Es muß der Tagesvorrat der Malerin sein. Fünf tortillas. Sie sind noch warm. María wagt nicht, zwei zu nehmen. Sie ißt eine und zieht die zweite in zwei Hälften auseinander. Die Frau besteht nicht darauf, daß sie die zweite Hälfte nimmt. Sie scheint eher erleichtert zu sein.

"Die Nonnen haben genug Christkinder", murmelt sie nur noch. So leise, daß die kauende María es nicht hört.

Sie nimmt ihren feinen Pinsel wieder auf und malt das kleine Tongesicht fertig.

"Halt! Halt! Ist doch noch gar nicht trocken!"

Sie legen es gemeinsam auf die Matte, und nach einer Weile darf María es wieder nehmen und gehen.

"Paß aber jetzt gut auf!" ruft die Frau ihr nach. "So oft kann man den kleinen Jesus nicht wieder richten."

María rennt durch die Reihen der Marktstände, auf die Straße hinaus, wo es schon einsamer ist, bis zu einem kleinen Platz zwischen niedrigen, ebenerdigen Häuserfronten, zwischen denen sich, wie sie weiß, um dieses Tageszeit kaum jemand herumtreibt. Dort kann sie sich in aller Ruhe dicht an die Plakette eines wilden Generals aus dem neunzehnten Jahrhundert drücken und das neue Gesicht des Christkinds betrachten.

Es läßt sich nicht leugnen, die Frau mit dem indianisch geschnittenen Gesicht hat dem Christkind feine Gesichtszüge gegeben, viel feinere, als es vorher besaß. Ein Gesicht aus spanischem Hochadel gewissermaßen, wenn der je so feine besessen hat. María könnte zufrieden, ja glücklich sein. Aber sie ist es nicht. Sie hatte das alte, gröbere Gesicht des Christkinds liebgewonnen. Dieses Gesicht war in den paar Stunden, in denen sie es im Arm halten konnte, ihr Kind geworden, und das ist nun endgültig verschwunden. Sie weiß, daß die Krippenmalerin nichts dafür kann, daß sie selbst das liebe Gesicht von der Krippenfigur heruntergewaschen hat, und doch regt sich Haß in ihr gegen die Frau, die ihrem Christkind ein fremdes Gesicht verpaßt hat.

Sie spuckt in die Richtung der Krippenmalerin, nicht ohne ihre ganze Verachtung und ihren Abscheu darin zum Ausdruck zu bringen. So eben, wie sie es von den Jungens auf der Straße gelernt hat. Das gehört dazu, und María wäre höchst erstaunt gewesen, hätte ihr einer gesagt, daß dieser theatralische Aufwand auf dem leeren Platz völlig umsonst sei. Nicht einmal der wilde General über ihr nimmt ihn zur Kenntnis.

Lassen wir ihr zwei Tage, um sich an das neue Gesicht des Christkinds zu gewöhnen und vielleicht auch ein bißchen an ihm zu freuen. Sie könnte ein Versteck suchen, wo sie es lassen kann, wenn sie etwas zu essen sucht oder wenn sie am Brunnen nicht weit vom wilden General Hände und am vollen Mittag einmal Gesicht oder Beine wäscht - morgens ist es zu kalt -, aber das traut sie sich nicht. Es ist nicht immer einfach, mit der einen Hand das Christkind unter der Bluse festzuhalten und mit der andern das Notwendige zu verrichten, und geben wir es zu : die große Zehe des linken Fußes und der kleine Finger an jeder Hand hat das Christkind schon am zweiten Tag verloren, rechts sogar Ring- und Mittelfinger, ohne daß María sagen könnte, wann und wo das geschah, gar nicht zu reden davon, die winzigen Stücke wiederzufinden. Und so sehr María sich auch hüten mag, das Christkind mit der bloßen Hand anzufassen, und wenn, dann nur, nachdem sie sie gewaschen und eine ganze Weile in der Sonne getrocknet hat, es zeigen sich schon wieder graue Flecken auf seiner rosigen Haut, einer sogar mitten auf der Brust. Ist Marías Glück mit dem Baby schon durch das andere Gesicht nicht mehr so groß wie am ersten Tag, so lassen die Flecken glückliche Augenblicke noch weniger aufkommen.

Der Heilige Abend rückt näher, und mit ihm überschwemmen Touristen den Markt. Sie halten sich vor allem zwischen den Ständen mit den Krippenfiguren, Kerzen und Blechsternen auf. Aber einige gehen auch zu den Garküchen am anderen Ende des Platzes, und das ist gut für María. Niemand läßt soviel Fruchtfleisch an den Schalen und soviel Gebratenes an den Knochen, und daß die Touristen ihren Abfall, anders als bei ihnen zu Hause, hier einfach auf den Boden werfen dürfen, lassen sie sich nicht zweimal sagen. María hat Angst vor ihnen, vor der gräßlichen Sprache, die klingt wie das Gekreisch der schwarzen Geier, die nicht selten einen Knochen wegtragen, eh María oder einer der Jungens sich ihn geschnappt hat, und schlimmer noch vor der lauten Lache, die sie so oft herdenweise anstimmen. Was gibt es hier auf dem Markt bloß so viel zu lachen?

An den churrascoständen riecht es so gut. Die Roste laufen auf Hochtouren. Scharenweise stopfen Touristen das Fleisch in sich hinein, das wegen zu hoher Chemiebelastung nicht in ihr Heimatland exportiert werden durfte.

Aber die churrascos riechen so gut. Wenn bloß die vielen Leute vor den Rosten nicht wären. Eine Horde Männer fällt María besonders ins Auge. Sie stopfen nicht nur kiloweise das fette Fleisch in sich hinein. Sie sind auch selber fett. Manche bekommen ihr buntes Hawaiihemd offenbar nicht mehr zu. Die Brust- und Bauchwülste schwabbeln zwischen Knopf und Knopfloch auf und ab. Wenn nicht davon, daß die Männer mit ihren Zähnen gigantische Stücke von den churrascos abreißen, dann davon, daß sie nach vertilgtem churrasco in gemeinsames brüllendes Gelächter ausbrechen.

Aber die churrascos riechen so gut. Und die abgenagten Knochen fallen wie Regen um die schrecklichen Lacher. Sie bilden schon einen regelrechten Ring um sie. María drückt ihr Christkind an sich und schleicht näher. Einige Jungens waren schon kecker und sind längst mit saftig klebrigen Fingern davongelaufen. Halbe churrascos lassen diese Touristen fallen. Es ist nicht zum Ansehen. Und vor allem nicht zum Warten. Die dicken Touristen kümmern sich nicht um die Jungens, die zwischen ihren Füßen nach dem Fleisch grapschen. María faßt Mut. Sie läuft zu ihnen hin.

Leider ist sie ein Mädchen. Ein unreifes noch, aber wir wissen ja alle, daß es auch für solche viele, zuviele Liebhaber gibt. María hat mit diesen noch keine Bekanntschaft gemacht, und völlig unerwartet kommt ihr, was ihr jetzt widerfährt. Alle Augen über den glänzenden, fettriefenden Kinnen wenden sich ihr zu. Ein kurzes Wort in der gräßlichen Sprache, und die ganze Herde bricht wieder in dröhendes Gelächter aus. Wirklich dröhnendes. María meint die Fußstangen der Roste im Hintergrund beben zu sehen. Ein besonders Dicker beugt sich zu ihr herunter.

"Rock hoch!" schreit er und reißt an dem schäbigen Tuch, das María sich um die Hüften geschwungen hat.

Wahrscheinlich ist das alles, was er von der Landessprache kann, und das einzige, dessentwegen er hierher gekommen ist. Der Mann am churrascorost wagt nichts zu sagen. Er braucht diese Kunden, wenn er heute abend noch in die Apotheke gehen und Medikamente für ein krankes Kind kaufen will. Und ein paar tortillas. Er preßt nur die Lippen fest zusammen und wünscht, es wäre vorüber. María aber will fort. Der Dicke hält sie fest. Er umklammert ihre Bluse mit dem Christkind darunter. Erst als sie ihm in den Arm beißt, läßt er los. Während sie davonschießt, fängt er an zu schimpfen.

"Diese miserablichten Kinder, man sollte sie alle totschlagen", sagt der Mann am Rost, um zu verbergen, wie froh er ist.

Der Dicke versteht ihn nicht. Er wiehert wieder los, um dem Spott seiner Kumpel zuvorzukommen, und die Herde fällt ein.

Wir brauchen es erst gar nicht mitzuteilen. Ein Bein des Christkinds ist bei dem Gerangel abgebrochen. Es ist irgendwo zwischen die churrascoknochen gefallen, und María wird nicht die Courage aufbringen, es zu suchen. Wozu auch? Man kann es nicht wieder ankleben. Sie jedenfalls nicht, und mit dem vielen Schmutz und Fett, in dem es jetzt herumliegt, ist es sowieso nicht mehr brauchbar.

María aber gewinnt das einbeinige Christkind wieder lieb. Es ist, als ob das fehlende Bein die Fremdheit des Gesichts auslösche. So etwas wie Mitleid und Erbarmen mit dem kleinen Krüppel regt sich in ihr. Stundenlang sitzt sie unter dem wilden General und versucht das Baby über den Verlust hinwegzutrösten. Sie zeigt ihm, was es ihrer Ansicht nach an Sehenswerten in der Stadt gibt. Sie geht auch mit ihm in den Park, wo sich gerade eine Mariachikapelle produziert. 'Wenn sie uns lassen, werden wir uns lieben unser Leben lang', singt der Sänger...

Es geht immer schneller auf das Weihnachtsfest zu. Bald wird alles hier auf dem Markt zu Ende sein. Ein churrascobrater wird an seinem Stand bleiben, aber er wird warten müssen, bis einmal einer vorbeikommt und auf Gebratenes Lust hat, und vor allem auf das Geld dafür, manchmal stundenlang. Es werden keine schlecht ausgelöffelte Papayas herumliegen. Die Einheimischen nehmen die Früchte mit und essen sie zu Hause. María weiß es. Sie wird wieder hungern und betteln müssen. Stundenlang umsonst. Aber noch hat sie ihr Christkind, einbeinig wie es ist und nicht mehr ganz vollständig. Sie hat es lieb und teilt mit ihm ihre Gedanken und ihr Herz.

Wenn es nur nicht regnete. Ein eisiger Nieselregen fällt auf die Stadt, auch er stundenlang. Selbst unter dem Vordach des Supermarkts werden Marías dünne Kleider klamm und feucht. Ab und zu treibt sie auch der Mann, der die Einkaufswägelchen zusammenzusuchen hat, in den Regen hinaus, und bis sie hinter ihm wieder unter das Dach schlüpft, ist sie wieder ein Stück feuchter und kälter geworden. Dem Christkind kann das auch nicht gut bekommen. Hier, neben den ein- und ausströmenden Supermarktkunden, traut sich María nicht, nach ihm zu schauen. Bis sie ein 'Knack' in ihrer Hand verspürt. Da weiß sie, daß dem Christkind ein Arm oder noch ein Bein abgebrochen ist. Hoffentlich nicht der Kopf. Gerade in diesem Augenblick geht dicht vor ihr ein heftiger Regenguß nieder. Es bleibt nichts als zu warten.

Am nächsten Morgen weiß María nichts anders als zu der freundlichen Indianerin zu gehen und ihr wortlos die hoffnungslosen Trümmer des Christkinds hinzuhalten. Das heißt, so schlimm ist es vielleicht gar nicht. Nicht alles ist abgebrochen, nur eine Hand und ein Bein vom Knie ab. Das kann man vielleicht kleben. Der Regen hat freilich auch das ganze feine Gesicht wieder heruntergewaschen und das Blond der Haare mit Rot, Weiß und Schwarz des Gesichts zu einem ekligen graugelben Gemisch verschmiert. Aber das kann man abwaschen und dem Christkind ein neues Gesicht malen.

Aber María kommt an die Falsche.

"Hast du's so schnell ruiniert?" schreit die Frau. "Für dich brauch' man wirklich nix zu tun. Hau ab!"

María bleibt stehen. Einfach weil sie nicht weiß, was sie tun soll. Ihr Blick fällt auf die lange Reihe der Christkinder unten auf der Matte, die nach wie vor rosig sind und alle zwei Arme und zwei Beine haben. Die Frau interpretiert Marías Blick falsch, weil sie ihn bei anderen Straßenkindern schon so oft richtig interpretiert hat. Sie springt auf. Plötzlich hat sie eine Peitsche in der Hand.

"Ich kenn' euch", schreit sie. "Diebsgesindel, verdammtes! Du glaubst wohl, du kannst dir bei mir ein neues Jesulein stehlen. Da hast du dich geschnitten. Hau ab! Verschwinde, verdammte Kröte, oder ich schlage dich zu Brei!"

María die Peitsche sehen und davonschießen ist eins. Sie hört noch drei Reihen Stände weiter das wilde Geschimpfe der einstigen Wohltäterin, die aller Welt mitteilt, wieviele Hundert Krippenfiguren ihr auf diesem Markt durch das 'Gesindel' schon abhanden gekommen seien.

Was wird wohl aus den Trümmern des Christkinds geworden sein?

"Schaun Sie nur, was sie mit unserem Jesuskindlein machen!" hört sie die Frau in der Ferne schreien. "Alles kaputt! Schaut euch das Bein an! Und da liegt noch 'ne Hand! Soll mich nicht wundern, wenn wir noch den Kopf finden. Unser Jesulein! Vermaledeite Nuttenbrut!"

María treibt es, zurückzukehren und einzusammeln, was vom Christkind vor der keifenden Frau liegt. Aber wie soll sie das? Sie wird gar nicht bis zu der Stelle gelangen, wo Hand und Bein liegen. Sie hat auch Angst, furchtbare Angst, nicht so sehr vor ihrer ehemaligen Helferin als vor den Menschen, die sich um sie versammelt haben. Leute, die sie nicht kennt. Böse Leute. María malt sie sich dunkel aus, groß, bös und unzugänglich, und wahrscheinlich hat sie sogar recht. Dort erwartet sie nichts Gutes. Bein und Hand des Christkinds sind weit und unerreichbar. Verloren. María macht, daß sie weiterkommt, ab in die Nebenstraße, wo es zu ihrem kleinen Platz unter dem wilden General geht. Dort ist es zwar feucht und kalt, aber María kann sich hinsetzen und ungestört nachsehen, was von ihrem Christkind noch übriggeblieben ist.

Es ist nicht mehr viel, und das bißchen ist wenig ansehnlich. Beide Beine fehlen und die rechte Hand. Nun, das wußte María schon, auch, daß der anderen Hand mehrere Finger fehlen. Schlimmer ist, daß dem Christkind auch die Nase aus dem Gesicht gebrochen ist. Wo mag sie liegen? An ihrer Stelle breitet sich im Gesicht ein Fleck der Brühe aus, die den Kopf und fast die ganze Brust bedeckt. Nirgends glänzt das graugelbe Gemisch so scheußlich wie hier.

An diesem Christkind ist nicht mehr viel zu liebzuhaben. María spürt nichts mehr von der Wonne, die kleine Puppe im Arm zu halten. Sie ist nicht unglücklich. Sie fühlt sich nur leer, und in diese Leere dringen langsam die bösen Worte ein, die sie überall in den letzten Tagen gehört hat. Sünde ist ein Wort, das sie kennt, ohne ihm eine genaue Bedeutung geben zu können. Jedenfalls ist es mit Strafe verbunden, und einer Strafe, die bedrohlich ist, ungeheuer, vernichtend und endgültig, wenn man nicht schleunigst etwas dagegen tut. Jedenfalls muß sie diese Trümmer von einem Christkind loswerden. Nicht irgendwo hinschmeißen. Das wäre wahrscheinlich wieder eine Sünde und eine viel schlimmere noch als der Diebstahl.

Die Nonnen. Wenn sie ihnen das Christkind zurückbringt, kommt sie vielleicht noch einmal davon.

Und die Nonnen sind bei der Marktkrippe. Heute ist der vierundzwanzigste, und die Hirten sind bei der Krippe angekommen. Es ist den Nonnen so wichtig wie den anderen Bewohnern des Landes, daß die Weihnachtsgeschichte in allen Einzelheiten in der Krippe dargestellt wird. Die Schwestern sind wieder mit ihren Körben erschienen. Diesmal wickeln sie kniende Hirten aus den weißen Tüchern, jeden mit seiner Gabe. Käse, ein Fell - das dem Christkind gut täte, denn es ist bitter kalt, könnte man es nur von der Figur des Hirten lösen -, ein Lämmchen, das ein Hirtenknabe in Marías Alter im Arm hält, eine Flöte...

Auch Schwester Cecilia ist mitgekommen, als einzige von denen, die die Krippe vor drei Tagen aufgestellt haben. Sie muß wieder den Zugang zur Absperrung zu bewachen. Es ist eine von den vielen kleinen Strafen, die die Schwester Oberin ihr zugedacht hat. Nicht nur sie, auch andere Schwestern haben die arme Schwester Cecilia in den letzten drei Tagen wissen lassen, was für eine Sünde sie zugelassen und damit auf sich geladen hat. Für die Nonnen ist das tönerne Christkind nicht weniger der Leib des Herrn als die Hostie im Tabernakel, und Schwester Cecilia wisse doch, wie sorgfältig der Priester nach der Messe auch den geringsten Rest der Hostie entferne, damit niemand damit Mißbrauch treibe. Padre Alfonso, der Beichtvater des Klosters, hat der kleinen Cecilia zwar erklärt, das sei Blödsinn, und Krippenfiguren hätten nicht das Geringste mit der Hostie zu tun, auch wenn sie unsern Herrn selber darstellten. Richtig ärgerlich ist Padre Alfonso geworden. Aber Padre Alfonso ist ein Flame und Ausländer, und im Konvent zu bestimmen hat die Schwester Oberin.

Schwester Cecilia hat Angst vor dem Wächteramt gehabt, aber natürlich nicht gewagt, Schwester Oberin zu bitten, ihr es zu erlassen. Furchtsam und grimmig steht sie zwischen den auseindergeschobenen Drahtrahmen. Sie scheint um Jahre gealtert in den drei Tagen. Aber kaum ein Straßenjunge zeigt sich. Der kalte Nieselregen hält sie wohl ab. Plötzlich sieht Schwester Cecilia María durchnäßt und mit strähnigem Haar vor sich stehen. Sie erkennt sie sofort wieder und erstarrt vor Schreck. Ohne sich zu rühren stehen María und Schwester Cecilia sich stumm gegenüber. Beiden erscheint es eine Ewigkeit.

Dann greift María unter ihre Bluse und zieht das demolierte Christkind hervor. Wortlos reicht sie es Schwester Cecilia hin. Schwester Cecilia braucht einige Augenblicke, um zu erkennen, was dieses Stück Schmutz einmal war. Sie wird rot, vor Schreck, Angst, Empörung. Sie weiß nur eins : sie muß unter allen Umständen verhindern, daß dieses Jesuskind weiter mißhandelt wird, daß es noch weiter verkommt. Sie reißt es an sich und sieht sich scheu um. Sie hat eine große Tasche in ihrem Habit. Ihr Rosenkranz ist darin. Wird es eine Sünde sein, dieses verdreckte Stück zu ihm in die Tasche zu stecken? Und was wird geschehen, wenn im Konvent offenbar wird, was mit dem Christkind alles geschehen sein muß? So Nonne ist Schwester Cecilia noch nicht, daß sie das auf sich nehmen könnte.

Ein Gully fällt ihr ins Auge. Die Aufschrift ist fremd. ACIERIES GENERALES LIEGE liest Schwester Cecilia auf dem Gitterdeckel. Er muß eine weite Reise gemacht haben, bevor er hier zu liegen kam. Erinnerungen aus Kindertagen fallen Schwester Cecilia ein. In solche Gullys hat sie manches gestopft, was die Eltern und Geschwister nicht sehen durften, Murmeln, die ihr ein Straßenjunge geschenkt hatte, ein Briefchen vom dicken Juan aus dem Gynmasium, ein Gedicht. Es ist Schwester Cecilia, als ob Gott selbst ihren Blick auf die fremde Inschrift des Gulligitters gelenkt hätte. Hätte sie nachgedacht, hätte sie sich vielleicht vorgestellt, was den Dingen unten im Gulli alles widerfährt, vielleicht hätte sie doch nicht getan, was sie jetzt tut. Aber nachdenken ist nicht, worauf man im Konvent Wert legt.

Sie hockt sich rasch nieder und stopft die Reste des Christkinds zwischen die Gitterbögen. Sie sind zu dick, und sie muß kräftig drücken, damit sie zerbrechen und ein Brocken nach dem andern hinunterfällt. Der Wasserspiegel tief unten bewegt sich, und Schwester Cecilia weiß, daß dieses Christkind jedenfalls von niemand mehr zu irgendwelchen heidnischen Scheußlichkeiten mißbraucht werden kann.

Als sie sich wieder aufrichtet, steht María immer noch vor ihr. María schaut ihr ins Gesicht, aber Schwester Cecilia weiß nicht, ob sie wahrnimmt. Marías Augen sind völlig ausdruckslos.

"Geh!" sagt Schwester Cecilia leise.

'Geh mit Gott' hatte sie sagen wollen. Einen Segen hatte sie dem Mädchen mitgeben wollen, wenigstens einen kleinen, damit die Sünde des Christusdiebstahls ihr nicht allzusehr angerechnet werde. Sie ist doch noch ein Kind. Aber Schwester Cecilia bringt den Namen Gottes nicht über die Lippen.

María rührt sich nicht.

"Geh doch!" ruft Schwester Cecilia so laut, daß die drei Schwestern an der Krippe hochschauen.

Langsam dreht sich María um. Langsam geht sie davon.

Nun hat sie wieder nichts mehr als ihren braunen Körper und die paar Tücher, mit denen sie ihn verhüllt. Der Körper wird ihr schneller Freier bringen, als sie und Schwester Cecilia sich träumen lassen. Der fette churrascofresser war ein böses Zeichen, ein früher Bote von Gewalt, Leid und einem Leben in ständiger Furcht - und wie soll sie der Krankheit entkommen, an der ihre Mutter gestorben ist?

Das Christkind hat es gewußt, als es die Kinderschuhe vertreten hatte. 'Wer da hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, von dem wird man nehmen, auch was er hat.' So steht es bei Markus geschrieben, im vierten Kapitel Vers Fünfundzwanzig. Und anderswo in den Evangelien. Ich mag gar nicht aufzählen wo.

Nein, diese Geschichte endet nicht mit einem Täubchen, das vorüber fliegt, mag es auch in Marías Land Brauch sein, mit versöhnlichem Taubenflug abzuschließen, was man mitzuteilen hat. Wenn Schwingen rauschen zum Schluß dieser Weihnachtsballade, der Geschichte von María, vom geraubten Christkind, von Schwester Cecilia und von der Indianerin, die so lieb und hilfreich war und so rasch die Geduld verlor, dann sind es die Flügel des Schutzengels, der María verläßt. Für immer.

Krippenfiguren und Masken

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