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Seid bereit! Immer bereit!
ОглавлениеMit sieben Jahren kam ich in die Schule. Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich war ein guter Schüler und bin gerne in die Schule gegangen. Allerdings hatte ich vor Beginn der 1. Klasse Angst, zu versagen. Ich hatte gehört, dass wir Zensuren bekämen – von 1 bis 5 –, und dass die 5 nicht wie in der Sowjetunion die beste Zensur war, sondern die schlechteste. Was wäre, dachte ich, wenn ich immer nur Fünfen bekäme? Dieser Gedanke war angsteinflößend. Aber ich merkte sehr schnell, dass diese Sorge unbegründet war. Die Schule fiel mir eher leicht und ich zählte bald zu den besten Schülern der Klasse. Außerdem lernte ich auf der Musikschule Violine spielen und ging zum Schwimmen in die DHfK – das war die Deutsche Hochschule für Körperkultur. Meine Eltern hatten mich dort für einen Lernkurs im Vorschulalter angemeldet. Schon zwei Jahre später gehörte ich zur Leistungsklasse und holte bei Wettkämpfen viele Urkunden und Medaillen. Doch auch das ging nicht ohne Ängste. Ich brauchte Wochen, um mich zu überwinden, vom 3 Meter-Brett ins tiefe Wasser zu springen; malte Bilder, wo ich auf dem Sprungbrett stehe, mit der Unterschrift: Ich schpringe!
Ja, und das Violinespielen führte dazu, dass ich bei Elternabenden in der Schule für musikalische Untermalung sorgen durfte. Kurzum: Ich war talentiert und genoss alle Vorteile, die mein bürgerliches Elternhaus und der sozialistische Staat mir zu bieten hatten. Die Nachteile – da wie dort – traten erst später zutage. In der Schule waren sie anfangs noch nicht spürbar. Einfach deshalb, weil wir nichts anderes kannten. Es gab nur die Welt, in der wir lebten – die Welt des Sozialismus. Eine andere gab es nicht. Der Kapitalismus war veraltet, ein Relikt der Geschichte, und für uns indiskutabel. Wir wussten zwar, dass man drüben im Wohlstand lebte, dass man alles kaufen konnte, während bei uns Mangelwirtschaft herrschte und man nach Bananen und Apfelsinen anstehen musste, aber edle Ziele verlangten nun mal Opfer. Denn historisch gesehen oder gar ethisch war der Kapitalismus rückständig. Dass sich zum Beispiel die Produktionsmittel in Privatbesitz befinden oder dass wirtschaftliches Wachstum auf einer ständigen Profitsteigerung beruht, und damit auf einer immer größer werdenden Ausbeutung der Arbeitskraft, das konnte doch nicht fortschrittlich sein. Und das leuchtete auch jedem ein. Von daher glaubten wir, der Sozialismus würde den Kapitalismus irgendwann ablösen – wenn auch erst in ferner Zukunft. Aber zumindest glaubten wir daran. Also schleppten wir kiloweise Altpapier in die Schule oder in die SERO-Annahmestellen – SERO war die Abkürzung für Sekundärrohstoffe – weil wir einsahen, dass diese Rohstoffe sonst beim Aufbau des Sozialismus fehlten. Obendrein war es eine Möglichkeit, unser Taschengeld etwas aufzubessern. Nur wenn wir für die Kinder in Vietnam leere Flaschen sammelten, dann war das natürlich ehrenamtlich. Oder wir übernahmen die Patenschaft für ein Pflegeheim der Volkssolidarität. Im umgekehrten Fall hatten wir eine Patenbrigade in einem Betrieb, die uns im Rahmen des Schulfaches ESP Einblicke in den DDR-Betriebsalltag gewährte. ESP war die Abkürzung für Einführung in die sozialistische Produktion. Oder es gab Lernpatenschaften von leistungsstarken Schülern für leistungsschwache. Keiner durfte zurückbleiben, darauf wurde streng geachtet. Jeden Monat wurde ein Rechenschaftsbericht verfasst, in dem alle Ereignisse und Vorkommnisse enthalten waren, die unsere Klasse betrafen. Dazu gab es ein Gruppenbuch, selbstverständlich einen Schriftführer und mehrere Brigadeleiter, die unter anderem die Hausaufgaben kontrollierten und darauf achteten, dass das Hausaufgabenheft immer vorgetragen war. Es gab einen Milchdienst, der immer in der Milchpause die Milch holte, einen Kassierer, der für einen Monat im Voraus das Milchgeld kassierte, und es fand jede Woche ein Pioniernachmittag zu einem bestimmten Thema statt. Manchmal wurde auch ein Arbeiterveteran aus einem Patenbetrieb eingeladen, der etwas aus seinem Leben erzählte, oder ein Parteisekretär, der uns über die Parteiarbeit aufklärte. Zum 1. Mai bastelten wir immer rote oder weiße Nelken aus Krepppapier oder klebten Wandzeitungen. Und es gab zu jedem erdenklichen Anlass Fahnenappelle. Zum Beispiel, wenn Ernst Thälmann Geburtstag hatte, wenn Tag der Nationalen Volksarmee oder Republikgeburtstag war, oder irgendwelche schulischen Höhepunkte, Sportereignisse und dergleichen. Irgendwas war immer. Dann mussten wir mit Halstuch und Käppi auf dem Schulhof antreten – oder bei schlechtem Wetter in der Aula – und in Reih und Glied Aufstellung nehmen. Wenn Ordnung herrschte, wurde die Pionierfahne gehisst, ein Gelöbnis gesprochen und schließlich der Appell begonnen mit dem Gruß der jungen Pioniere. Meist trat ein ausgezeichneter Pionier hervor und rief: „Für Frieden und Sozialismus seid bereit!“ Darauf antworteten alle im Chor: „Immer bereit!“. Diese Zeremonie war für uns schon zum Ritual geworden. Es war uns so selbstverständlich wie das tägliche Auf- und Untergehen der Sonne. Und der blaue Himmel, das war für uns die Frösi, die Zeitung für die jungen Pioniere. Frösi war die Abkürzung für „Fröhlich sein und singen“. Darin wurde uns erklärt, welche Beeren oder Pilze man sammeln konnte und welche nicht, und dass es für die Forstwirtschaftsbetriebe wichtig war, dass wir Eicheln und Kastanien sammelten. Nämlich um die Erträge zu steigern und auf diese Weise mitzuhelfen, den Sozialismus aufzubauen. Die Forstwirtschaftler, und überhaupt die Arbeiter und Bauern, sollten sich auf die jungen Pioniere verlassen können. Schließlich war es unser großes Glück, dass wir in Frieden und Sozialismus aufwachsen durften, und Not und Hunger nicht am eignen Leib verspüren mussten. Aber der Kampf um den Frieden war noch längst nicht ausgefochten. Der Imperialismus drohte ständig damit, die Errungenschaften des Sozialismus zunichte zu machen, sprich: die DDR einzuverleiben und die alten Grenzen von 1937 wiederherzustellen. Dementsprechend war das Bild, das uns von Westdeutschland vermittelt wurde: Offiziell bestand es nur aus unterdrückten und ausgebeuteten Arbeitern, Lehrern mit Berufsverbot, Mietwucher oder Massenentlassungen. Und wenn die Wandzeitung über den armen Lehrer aus Westberlin, der Berufsverbot bekommen hatte, nicht rechtzeitig zum Termin fertig wurde, dann war das genau das, worauf der Klassenfeind wartete. Das würde die Gefahr eines Atomschlags geradezu heraufbeschwören. Deshalb gelobten wir immer wieder, unser ganzes Wissen und Können für die Verwirklichung der Ziele des Sozialismus einzusetzen. Seite an Seite mit dem Arbeiter an der Werkbank, dem Bauern in der LPG – der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft – oder dem Volkspolizisten.
Und so war der größte gesellschaftliche Höhepunkt die Jugendweihe. Jetzt waren wir Jugendliche und wurden in die große Gemeinschaft der Werktätigen aufgenommen. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir in der Aula den Gang in Vierergruppen auf die Bühne probten, das Überreichen der Blumen und Urkunden. Alles wurde schon Wochen vorher geplant und durchgespielt. Wir gelobten, uns immer für die große Sache des Sozialismus einzusetzen, den Bruderbund mit der Sowjetunion zu vertiefen – denn es hieß immer Von der Sowjetunion lernen heißt Siegen lernen! – und im Geiste des proletarischen Internationalismus zu kämpfen. Die entscheidende Waffe in diesem Kampf war die marxistisch-leninistische Weltanschauung, zugleich das hervorstechendste Merkmal einer allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit. Denn Der Marxismus-Leninismus ist allmächtig, weil er wahr ist! So stand es in großen Lettern über der Tafel unseres Staatsbürgerkundekabinetts.
Ebenso gut hätte man hinschreiben können: Der Himmel ist schön, weil er blau ist! Diese Sprüche waren typisch für das Prinzip der leeren Worthülsen. Hauptsache, man benutzte möglichst viele schwülstige Politikbegriffe, meist standardisierte Formulierungen, die schon so abgedroschen waren, dass keiner mehr den Sinn hinterfragte. Es gab aber auch gute Sprüche, zum Beispiel Mach mit, mach’s nach, mach’s besser! Das war der Titel einer Volkssportsendung im Fernsehen. In der DDR kam ja gleich hinter der Politik der Sport, um nicht zu sagen: Sport war Politik. Er war die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Gemeint war natürlich die Politik der SED, des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Ich glaube, es gab kein anderes Land der Welt, das bei Olympischen Spielen erfolgreicher war – abgesehen von der UdSSR und den USA. Aber selbst die Amerikaner, die beim Schwimmen immer unangefochten an der Spitze standen, wurden irgendwann von der DDR verdrängt. Das kam natürlich nicht von ungefähr. Dahinter steckte eine streng durchorganisierte, staatliche Sportförderung, die schon im Vorschulalter begann. Beispielsweise nach dem Typus der KJS, der Kinder- und Jugendsportschule oder der DHfK. Weiterführende Leistungszentren markierten dann den Weg zu den Kaderschmieden der Sportelite. Das war gewissermaßen das Fundament, auf dem sich das ganze Gebäude – beziehungsweise der ganze Turm – des DDR-Spitzensports aufbaute. Aber auch dieser hatte seine Schattenseite. Was damals keiner wusste, ja nicht einmal ahnte: Vielen Leistungssportlern wurden Hormonpräparate verabreicht wie Kindern Hustensaft. Bei den Gewichthebern fiel das nicht weiter auf, aber bei den Schwimmerinnen schon. Man wollte eben um jeden Preis den Spitzenplatz im Weltmaßstab behaupten. Wenn schon nicht ökonomisch, dann wenigstens sportlich. Aber machen wir uns nichts vor, heute ist das Gang und Gäbe. Und es fliegt höchstens dann einmal auf, wenn irgendein Tour de France-Fahrer eigenmächtig seine Dosis verdoppelt. Aber für damalige Verhältnisse war das schon ziemlich gewagt.
Jedenfalls kämpfte auch unsere Schule um einen sportlichen Spitzenplatz. Sie gehörte, was den traditionellen Leipziger Staffellauf anging, zu den besten der Stadt. Ich weiß noch, welch erhebendes Gefühl es war, wenn wir uns für den 4 x 100 Meter-Staffellauf qualifiziert hatten. Ich lief die 100 Meter in der 9. Klasse in 12,9 Sekunden. Das war ziemlich gut. Damit gehörte ich zur Schulstaffel, die unsere Schule im Zentralstadion beim LVZ-Staffellauf vertreten durfte. Unser Sportlehrer war Rudi Damm, vorher Leistungstrainer beim SC Leipzig. Das merkte man ihm auch an. Er verlangte nicht nur viel von uns, sondern er forderte Höchstleistungen. Aber gerade das war es, was uns anspornte. Ich werde nie seinen Gesichtsausdruck vergessen, wenn er beim 60- oder 100-Meter-Lauf mit der Stoppuhr in der Hand im Ziel stand und uns über zehn, zwanzig Meter zurief: „Laufen!“ Seine Miene verfinsterte sich dabei wie die eines Heerführers und die Halsschlagader trat hervor als würde sie jeden Moment platzen. Diese Gestik und vor allem der Zuruf – der mehr ein Schrei war als ein Ruf – bewirkte, dass wir förmlich über uns hinauswuchsen und auf den letzten Metern mindestens drei, vier Zehntel schneller wurden. Bei ihm fühlten wir uns ernstgenommen. Wir holten zweimal Gold und einmal Silber. Allerdings war das Gold nur Blech, hingegen die Silbermedaille immerhin aus einer Silberlegierung bestand.
Aber geliebt und verehrt habe ich Herrn Kühn, unseren Klassenlehrer. Ich hatte ihn nur anderthalb Jahre, bis zur 6. Klasse, aber das Vertrauensverhältnis war so, als hätte es schon viele Jahre bestanden. Er verstand es wie kein anderer, den Unterricht interessant zu machen, uns zu motivieren, vor allem durch seine souveräne und umgängliche Art. Er war authentisch – nicht nur Lehrer, sondern gleichermaßen Mensch. Deshalb liebten wir ihn.
Und es gab nichts, womit er nicht fertig wurde, selbst mit dem schlimmsten Schüler der Klasse, mit Frank Thrun. Ich weiß noch, wie Thrun einen Klassenlehrertadel bekam, weil er Kondome zu Luftballongröße aufgeblasen hatte und sie hatte fliegen lassen. Alle waren schockiert – Schüler und Lehrer gleichermaßen. Nur Kühn nicht, der vor versammelter Klasse Thrun ermahnte, er möge in Zukunft zuhause lassen, was in Vaters Nachtschrank gehört. Darauf ein riesen Gelächter und der Fall war erledigt. Thrun brachte nie wieder Kondome mit.