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5. Das Wunder

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Wie muss man eigentlich beschaffen sein, wenn man den Beruf eines Pfarrers ergreift? Betrachten wir hier einmal diejenigen, die sich wirklich aus Berufung dafür entschieden haben, „Arbeiter im Weinberg des Herren zu werden“, wie die Kirche in der ihr eigenen Sprache zu sagen pflegt. Sind diese Menschen nicht ein wenig naiv, wenn sie glauben, dass sie ihren Beruf ein Leben lang ausüben können, ohne jemals an der Existenz Gottes zu zweifeln? Auch wenn ihnen ihr Glaube in jungen Jahren als völlig unerschütterlich erscheint, hält doch das Leben für sie Schicksalsschläge und andere Überraschungen bereit, die alles Bisherige über den Haufen werfen: So ist es bei einem katholischen Priester oft nur eine kleine Frau, die ihn in unlösbare Konflikte mit der Amtskirche bringt. Manchmal kann es aber auch passieren, dass jemand nur so da sitzt, über seinen Gott nachdenkt und sich beispielsweise fragt: Bin ich vielleicht nur Christ, weil ich in Bayern geboren und so erzogen wurde, wie es hierzulande eben üblich ist, und wäre ich nicht mit derselben Überzeugung Moslem, wenn ich in Damaskus aufgewachsen wäre? Und wenn es schon Moslems, Buddhisten, Christen usw. gibt: Ist das nicht Ausdruck der Tatsache, dass der Mensch eigentlich überhaupt nichts weiß und nur Sehnsucht danach hat, sich in seinen Nöten an ein göttliches Wesen wenden zu können? So denkt manch einer wie jener Dichter:

Oh Gott!

Klapperstorch und Osterhase,

Krampusse und Nikolase –

Alle sind sie nur erfunden,

Sind mit der Kindheit mir entschwunden.

Und Lieber Gott, was ist mit dir?

Bist du noch da? Dann zeig es mir!

Und wenn Gott dann kein Zeichen gibt: was tut ein Pfarrer, wenn er Zweifel hat?

Genug der Vorbemerkungen! Schauen wir uns doch einmal an, wie es einem jungen Pfarrer in Schatzburg ergangen ist. In der dortigen alten gotischen Kirche steht eine der „schönen Madonnen“, wie der Fachausdruck für die vollendeten Meisterwerke aus der Blütezeit jener Kunstperiode lautet. Was das Besondere an der Schatzburger Madonna ist: Sie weint an Mariä Empfängnis. Und deshalb pilgern an diesem Tag Tausende von Gläubigen zu ihr, um zu schauen, ob sich das Wunder wiederholt. Für den Fall, dass die Madonna einmal nicht weinen sollte, gibt es die schlimmsten Prophezeiungen: Krieg, Hunger, Seuchen, Krisen...

Besonders fromme Pilger kommen sogar zu Fuß aus Polen, weil ihre Vorfahren hier einmal ihr Geld als Erntehelfer verdient hatten.

Wieder einmal nahte Mariä Empfängnis: Der ganze Ort war in Aufregung, denn jeder war in irgendeiner Form an der Gestaltung des Fests beteiligt. Der katholische Frauenbund schmückte den Altar, der Gartenbauverein stellte am Ortseingang ein großes Tor aus Blumen auf, die Feuerwehr richtete etliche Wiesen als Parkplätze ein... Kurzum: kaum einer stand abseits. Am aufgeregtesten war der junge Pfarrer, der nun zum ersten Mal die große Messe feiern sollte. Er war einer derjenigen, die sich ihren Glauben bis ins Erwachsenenalter so bewahrt haben, wie er ihnen von den Eltern und im Religionsunterricht beigebracht worden war. Daran hatte letztlich auch das Theologiestudium nichts geändert, sondern die intensive Beschäftigung mit den kirchlichen Lehren hatte sogar noch zu einer Vertiefung seiner religiösen Überzeugungen geführt. Der junge Pfarrer hatte daher auch keinen Zweifel daran, dass er an einem echten „Gnadenort“ tätig war, was er dementsprechend natürlich als besondere Gnade Gottes empfand.

Wie es bei Wundern halt einmal so ist: Es gab auch hier rational denkende Wissenschaftler, die mutmaßten, wie das Wunder von Schatzburg zu erklären sei: Sie meinten beispielsweise, die vielen Menschen in der kühlen Kirche würden ziemliche Mengen von Feuchtigkeit ausdünsten und davon würde sich ein größerer Teil an der Madonna niederschlagen, was mit der Bemalung zu tun haben könnte. Der junge Pfarrer hatte dies in einer Predigt vor dem großen Festtag als „Atheistengewäsch“ bezeichnet und darüber geklagt, dass in unserer aufgeklärten Zeit viele Menschen einfach nicht an Wunder glauben wollten, auch wenn sie diese mit eigenen Augen sehen würden. Wie seine Vorgänger hatte auch er es abgelehnt, die Madonna von Experten genauer untersuchen zu lassen:

„Die Madonna gehört in die Kirche, nicht aber in die schmutzigen Hände von Ketzern und Skeptikern.“ Mit diesen markigen Worten beendete er seine Predigt.

An Mariä Himmelfahrt läuteten wieder einmal alle Glocken und riefen die Gläubigen zum Gottesdienst. Tausende strömten herbei. Weil die Kirche den Ansturm gar nicht fassen konnte, standen die meisten draußen und verfolgten an den Lautsprechern den Ablauf der Messe.

Der junge Pfarrer, der sich zur würdigeren Gestaltung des Ereignisses zwei frühere Kommilitonen zum Konzelebrieren eingeladen hatte, stand am Altar im Nebel des Weihrauchs, der aus der Schar von Ministranten aufstieg. Unverwandt starrte er auf die Madonna, die mit ihrem Kind über dem Altar thronte und kühl – oder sollte man sagen: entrückt – auf ihn herab lächelte: von Tränen keine Spur.

Der Pfarrer hatte zwei Predigten vorbereitet je nachdem, ob die Madonna weinen würde oder nicht. Nun also befasste er sich mit den vielen Bedrohungen, denen die Menschen ausgesetzt seien und warf die Frage auf, welche von diesen sich nun nach dem Ausbleiben des Wunders realisieren würde: Da helfe nur noch beten, beten und nochmals beten, sagte er zum Schluss. Die Menschen waren bedrückt und gingen – Gebete murmelnd – in einer langen Schlange an der Madonna vorbei, um zu schauen, ob nicht vielleicht doch eine Träne...

Im nächsten Jahr brach tatsächlich eine große Wirtschaftskrise über das Land herein, die auch den einzigen größeren Arbeitgeber in Schatzburg mit in den Abgrund riss. Und sogar die überregionalen Zeitungen berichteten darüber, dass diese Katastrophe von der „Jungfrau von Schatzburg“ voraus gesagt worden sei.

Inzwischen arbeitete der junge Pfarrer an einem Buch mit dem Titel: „Das Wunder von Schatzberg“. Er durchforschte die alten Aufzeichnungen der Pfarrei, in denen genau aufgezeichnet war, wann das Tränenwunder stattgefunden hatte und wann es ausgeblieben war. So hatte sich beispielsweise der 2. Weltkrieg dadurch angekündigt, dass die Jungfrau nicht geweint hatte.

„Merkwürdig!“ dachte der junge Pfarrer: „Eigentlich hätte es doch umgekehrt sein müssen: Warum weint die Gottesmutter nicht gerade dann, wenn sie damit eine Katastrophe ankündigen will?“

Noch merkwürdiger kam der Pfarrer aber vor, dass die Jungfrau im Verlauf der Jahrhunderte langen Geschichte bei zwei seiner Vorgänger keine einzige Träne vergossen hatte. Das Volk führte das darauf zurück, dass die Gottesmutter die beiden nicht leiden konnte, und so hatte man im Lebenswandel der beiden so lange gesucht, bis man glaubte, die Ursache dafür gefunden zu haben. Daher war den beiden jeweils nur eine kurze Amtszeit in Schatzberg beschieden. Das Volk wollte sein Wunder wieder haben und erreichte es beim Bischof, dass diese beiden Priester jeweils alsbald von einem Nachfolger abgelöst wurden.

Eines Morgens, als der junge Pfarrer die Kirche für die Besucher aufsperrte, kamen drei Männer auf ihn zu. Sie stellten sich vor und erklärten, sie kämen vom Amt für Denkmalpflege und wollten sich ein Bild davon machen, ob und in welchem Umfang die Restaurierung des Gotteshauses erforderlich sei. Der Pfarrer war von der Idee begeistert, dass seine Kirche vielleicht bald in neuem Glanz erstrahlen würde, bemerkte aber doch:

„Lassen Sie bitte aber unsere wundertätige Gottesmutter in Ruhe! Die Leute lieben sie so, wie sie ist.“

„Gerade auf die haben wir es auch abgesehen. Sie ist eine der schönsten gotischen Madonnen in unsrem Lande und muss natürlich in ihrem Zustand erhalten werden. Sie glauben ja gar nicht, was wir oft bei unseren Arbeiten entdecken. Die letzte alte Mutter Gottes, der wir uns gewidmet haben, war innen total von Würmern zerfressen und wurde praktisch nur noch von der Bemalung zusammen gehalten.“

„Für meine Madonna lege ich die Hand ins Feuer!“ lachte der junge Pfarrer.

Nach einiger Zeit rückte die Mannschaft der Restauratoren an. Gerüste wurden aufgestellt. Die alten Figuren, darunter die Madonna, wurden sorgfältig verpackt und in die Werkstatt der Denkmalschützer abtransportiert. Für den Pfarrer war es eine schreckliche Zeit, seine Kirche in so verwüstetem Zustand zu sehen, aber dann erlebte er doch mit großer Freude, wie alles viel herrlicher wurde als vorher. Tag für Tag erstrahlte wieder ein weiteres Stück frisch aufgetragenen Blattgolds in der Morgensonne.

Nur die Madonna fehlte noch.

„Sie kommt nächste Woche mit einem Spezialtransport“, kündigte einer der Restauratoren telefonisch an.

Da hatte der Pfarrer eine Idee: Man würde die Madonna feierlich in einer Art Wallfahrt heim holen. Und so geschah es auch: Die Figur der Gottesmutter wurde in Schatzberg auf einen festlich geschmückten Wagen umgeladen und kehrte hoch oben unter einem Baldachin thronend in ihre Kirche zurück. Das Volk klatschte und sang Marienlieder. Selbstverständlich gab es abends einen Gottesdienst in der überfüllten Kirche. Anschließend hatte der Geistliche die Restauratoren zu einem Abendessen in den Pfarrhof eingeladen. Bei dieser Gelegenheit schöpfte man zwischendurch ein wenig frische Luft in dem alten Garten, der einmal zu dem dort befindlichen Kloster gehört hatte. Der Leiter der Restaurationsarbeiten erzählte dem Pfarrer von der Schwierigkeit verschiedener Techniken, die man angewandt habe, und sagte dann plötzlich:

„...und auch auf noch etwas sind wir gestoßen. Sie wissen, was ich meine. Wir haben alles so gelassen, wie es ist, und sind natürlich verschwiegen!“

Der Pfarrer war so konsterniert, dass sein Begleiter nochmals nachfragte:

„Sie wissen doch, von was ich rede: von der Madonna.“

„Ja und? Was ist mit ihr? War vielleicht auch bei ihr der Wurm drin?“

„In gewisser Weise: ja! Wir beide wissen doch Bescheid.“

„Sie schon, ich nicht!“ erwiderte der Pfarrer.

Die Art, wie der Pfarrer redete, zeigte dem Denkmalpfleger ganz deutlich, dass der junge Mann keine Ahnung hatte, denn er war offensichtlich nicht der Typ eines guten Schauspielers.

„Also“, begann der Denkmalpfleger, „Ihr Marienwunder ist gar keines. Die Marienfigur hat eine Krone auf dem Kopf, in die Wasser gegossen wird. Durch einen feinen gebohrten Kanal fließt dieses Wasser tröpfchenweise bei den Augen der Madonna wieder heraus.“

Der Pfarrer holte tief Luft:

„Ich könnte das niemals glauben, wenn nicht gerade Sie als Denkmalpfleger es mir gesagt hätten. Ich habe wirklich nichts davon gewusst. Deshalb ist ja auch im letzten Jahr das Wunder ausgefallen. Ich werde selbstverständlich das Notwendige veranlassen.“

„Wir sind ja als Beamte zur Verschwiegenheit verpflichtet. Wir würden nichts sagen. Es könnte also alles so weiter laufen wie bisher. Die Menschen brauchen ja so etwas für ihren Glauben.“

„Mit mir nicht. Für mich haben Glauben und Betrug nichts miteinander zu tun.“

„Als Atheist sage ich lieber nichts dazu.“

Nach diesem Gespräch war für den Pfarrer nichts mehr so wie vorher. Sollte er mit dem Bischof reden? Am einfachsten wäre es halt, die Verantwortung auf andere abzuschieben. Oder sollte er selbst entscheiden, wie es wohl auch zwei seiner Vorgänger getan hatten, bei denen die Wunder ausgeblieben waren?

Anscheinend war das Geheimnis des Wunders von seinen früheren Kollegen in der Generationenfolge immer weiter gegeben worden. Nur bei ihm hatte es nicht funktioniert, denn sein Vorgänger war schon in jungen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

Nach einigen schlaflosen Nächten entschloss sich schließlich der Pfarrer, seinen Bischof brieflich über die Entdeckung des Amts für Denkmalschutz zu informieren und zu erwähnen, dass das Wunder in Zukunft ausfallen würde.

Kaum hatte er den Brief fertig gestellt, plagten ihn Gewissensbisse. Wie viel ärmer würde das Leben im Ort sein ohne die große Wallfahrt. Manch einer war auf die Einkünfte aus dem großen Ereignis angewiesen. Wie viele Menschen fanden Trost und Hoffnung vor der Madonna! Konnte er seinen Beruf nicht auch so auffassen, dass er sich als eine Art von Seelenarzt betätigte, wie er es oft im Beichtstuhl getan hatte? Und wäre es da nicht hilfreich für die vielen Verzweifelten, etwas zu haben, an dem sie sich festhalten konnten im „Meer der Verzweiflung“, wie es in einem Gebet hieß? Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort fand. Er legte den Brief an den Bischof in eine Schublade seines Schreibtisches und dachte an einen Ausspruch seines Vaters:

„Es gibt Dinge, über die man länger nachdenken sollte. Trotzdem fällen die meisten Menschen ihre Entscheidungen ganz spontan.“

Damit müssen wir den Pfarrer allein lassen mit seinen Problemen. Als diese Geschichte aufgeschrieben wurde, hatte er sich noch nicht entschieden. Wenn Sie wissen wollen, wie es weiter gegangen ist, müssen Sie schon selbst nach Schatzberg fahren und nachschauen.

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