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3. Die Frömmlerin

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Viele Menschen, besonders Frauen, durchleben Phasen, die von besonderer Frömmigkeit gekennzeichnet sind. Oft beginnt es bei den Katholiken schon in frühester Jugend mit der Erstkommunion. Die kleinen Mädchen werden herausgeputzt wie für eine Hochzeit, und glauben tatsächlich auch, sie seien nun Bräute Christi, weil man ihnen das so im Religionsunterricht beigebracht hat.

Auch die kleine Lisbeth fühlte sich nach ihrer Erstkommunion wie ein Fleisch gewordener Engel, und so trachtete sie danach, diesen Zustand des seligen Schwebens möglichst lange zu erhalten. Mit ihren 8 Jahren entschloss sie sich daher zu einer Art von religiöser Mutprobe. Weil sie auf ihrem täglichen Schulweg immer wieder am erzbischöflichen Palais vorbei kam, läutete sie – einer plötzlichen Eingebung folgend – an der großen, ehrfurchtgebietenden Messingglocke, die golden in der Morgensonne glänzte. Kaum hatte sie mit ihrem kleinen spitzen Finger auf den Knopf gedrückt, da wollte sie am liebsten schnell wieder davon laufen, aber es war schon zu spät, denn ein würdiger Herr, der wie ein schwarz gekleideter Weihnachtsmann aussah, öffnete die Tür. Er fragte freundlich:

„Na, wer bist denn du? Und was möchtest du hier?“

Lisbeth, die sich auf diese Frage innerlich vorbereitet hatte, antwortete wie aus der Pistole geschossen:

„Ich bin Lisbeth Heiger und möchte unbedingt den Herrn Erzbischof sprechen!“

„Also, wenn es so unbedingt sein muss, will ich mal nachsehen, ob er da ist. Setz' dich einstweilen hier hin!“

Er deutete auf eine Bank neben der Tür und entfernte sich. Lisbeth klopfte das Herz bis zum Hals. „Flucht!“ war der einzige Gedanke, den sie fassen konnte, aber sie fürchtete, dass sie mit ihren schwachen Kräften kaum die riesige Portaltür würde öffnen können. Außerdem: Was hätte es für einen Eindruck gemacht, wenn sie jetzt davon gelaufen wäre? Schließlich hatte sie ja dummerweise schon ihren Namen gesagt. So saß sie da und begann auf einmal, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was der Begriff „Arme-Sünder-Bank“ wohl zu bedeuten hätte.

Der würdige Herr in schwarz erschien wieder. Lisbeth musterte ihn kurz und schätzte ihn mindestens als Prälaten ein, denn er sah so aus wie der Mann auf dem Etikett vom „Prälatenwein“, den ihr Vater an Feiertagen zu trinken pflegte.

„Seine Eminenz, der Herr Erzbischof, lässt bitten“, sagte der schwarze Würdenträger freundlich.

Er hielt Lisbeth die Tür zu einem prächtigen Saal auf, an dessen Ende der Erzbischof an seinem Schreibtisch saß und über seine Brille hinweg das kleine Mädchen musterte. Mit der freundlichsten Miene, die sein Gesicht herzugeben vermochte, kam Hochwürden hinter seinen Akten hervor und streckte dem Kind seine alte faltige Hand entgegen:

„Grüß’ dich Gott! Wen haben wir denn da? Was kann ich für dich tun?“

Lisbeth rappelte wieder ihren eingeübten Satz herunter:

„Ich bin Lisbeth Heiger und wollte unbedingt den Herrn Erzbischof sprechen!“

Der Erzbischof hatte gemerkt, dass das kleine Mädchen damit „sein Pulver verschossen“ hatte. Er erkundigte sich daher nun freundlich und mit sichtlichem Interesse nach einigen Einzelheiten aus Lisbeths Leben:

„Wo wohnst du denn?“

„Waaggasse 7“, antwortete Lisbeth und war erleichtert darüber, dass ihr keine Frage aus dem Religionsunterricht gestellt worden war. Der Erzbischof fuhr fort:

„Und was macht dein Vater?“

„Der arbeitet!“

„Und die Mutter?“

„Die kocht gerade das Essen für uns.“

„Für wie viele muss sie denn kochen?“

„Für...für sieben!“ antwortete Lisbeth.

„Dann hast du also 4 Geschwister?“

„Ja!“

„Und verstehst du dich mit deinen Geschwistern gut oder gibt es schon mal hin und wieder Probleme?“

„Mal so, mal so, aber es geht schon.“

Lisbeth beantwortete diese Frage zögernd und ein wenig ängstlich, weil sie fürchtete, nun in eine Art Beichtgespräch verwickelt zu werden. Aber dann beendete der Erzbischof das Gespräch:

„Ich glaube, du solltest jetzt aber schnell heim gehen, damit sich deine Eltern keine Sorgen um dich machen!“

Lisbeth war hoch erfreut darüber, dass ausgerechnet Seine Eminenz solchen Anteil an ihrem Leben nahm, und verabschiedete sich höflich mit einem tiefen Knicks, bei dem sie die Ehrenbezeigung nachzuahmen versuchte, die sie kürzlich in einem Märchenfilm gesehen hatte. Dabei verlor sie beinahe das Gleichgewicht. Aber dann erhob sie sich und sauste davon.

Sie war stolz auf sich. Zu Hause berichtete sie von ihrer „Heldentat“. Ihre Mutter war allerdings weniger begeistert:

„Um Gottes Willen! In dem Gewand warst du beim Erzbischof? Was soll der von uns denken? Man zieht sich doch fein an, wenn man einen solchen Besuch macht.“

„Ach weißt du, Mama, der Liebe Gott schaut auf die Seele, nicht auf das Gewand.“

So lebte Lisbeth ein einfaches, frommes Leben bis sie 16 Jahre alt wurde und ihr etwas passierte, das sie zutiefst beunruhigte. Nein, es war keine Männergeschichte! Es war vielmehr etwas, für das es in ihrem Vokabular kein Wort gab, das je über ihre Lippen gekommen wäre. Fest stand nur eines: Es war eine Sünde gewesen und die musste gebeichtet werden:

Als Lisbeth abends nach dem Sporttraining nach Hause ging, stand das ehrwürdige Gebäude des Domes wie ein großes Bollwerk auf ihrem Heimweg. Sie wollte gerade das Gebäude wie immer eilig durchqueren, aber da fiel ihr auf, dass merkwürdigerweise entgegen den sonstigen Gepflogenheiten im fast dunklen Kirchenschiff die Lampe an einem Beichtstuhl eingeschaltet war. Dieses Licht ist für die Gläubigen ein Zeichen, dass sie hier bei einem Priester ihre Sünden bekennen können. Lisbeth stutzte, als sie den erleuchteten Beichtstuhl bemerkte. Sie trat ein, kniete nieder und begann zu flüstern:

„In Demut und Reue bekenne ich...“ Sie hatte ihre Augen schamhaft gesenkt, so dass sie nicht sah, mit wem sie es zu tun hatte.

Im Beichtstuhl hatte sich auf dem Platz des Priesters ein Obdachloser nieder gelassen, dem es draußen in der winterlichen Stadt zu kalt war. Erst hatte er sich im Dom ein wenig aufgewärmt und heimlich aus der Rotweinflasche getrunken, die er mit seinen Habseligkeiten in seinem Rucksack verwahrt hatte. Dabei war ihm aufgefallen, dass die Tür eines Beichtstuhls nur angelehnt war. Versehentlich war sie von einem Priester nicht richtig versperrt worden, denn der Riegel des Schlosses war außen vor dem Türrahmen zu sehen, wie der Obdachlose sachverständig festgestellt hatte. Er hatte dies als Einladung des Lieben Gottes betrachtet, hier die Nacht zu verbringen. Nachdem er kurz eingeschlafen war, wurde er durch Lisbeths Beichte geweckt:

„Mir ist etwas passiert..., ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich glaube, ich habe die Kirche entweiht. Ich habe einen Flatus nicht zurückhalten können.“

Lisbeth hatte sich in einem medizinischen Lexikon vergewissert, wie man eine dem Darm entwichene Blähung einigermaßen anständig umschreiben konnte.

Der halbverschlafene Mann war mit dem Problem total überfordert. Einerseits wollte er sich nicht als Fehlbesetzung zu erkennen geben, denn dann hätte das Mädchen, das da vor ihm kniete, sicher eine Szene gemacht und womöglich die Polizei gerufen. Andererseits konnte er als Laie auch nicht einfach die Beichte abnehmen. Außerdem hatte er nicht verstanden, über was das Mädchen gesprochen hatte, und so kam ihm plötzlich der rettende Einfall:

„Also die Entweihung der Kirche übersteigt meine Zuständigkeit“, begann er und war stolz darauf, einen Satz gefunden zu haben, der immerhin nicht ganz die Unwahrheit enthielt. „Sie sollten dem Erzbischof schreiben, zu dessen Aufgaben ja schließlich die Weihe der Kirchen gehört. Er wird entscheiden, was zu geschehen hat, und damit ist die Sache erledigt.“

Lisbeth betrachtete dies als Absolution unter der Bußauflage, den Erzbischof in Kenntnis zu setzen.

So machte sie sich am nächsten Tag an die schwierige Aufgabe, den Brief an den Oberhirten zu verfassen. Gott sei Dank war es ein Sonntag, denn sie brauchte viele Stunden, um den in ihren Augen unbeschreiblichen Vorfall einigermaßen in Worte zu kleiden. Erleichtert warf sie abends ihr anonym verfasstes Schriftstück in den Briefkasten.

Als der Sekretär des Erzbischofs die eingegangene Post durchsah, öffnete er zuerst den mit zarter Hand geschriebenen anonymen Brief, der von Lisbeth stammte. Meist waren derartige Schreiben eine willkommene Abwechslung im täglichen Einerlei des Berufs, denn in der Regel enthielten sie irgendwelche Pikanterien wie Liebesverhältnisse von Priestern oder dergleichen. Dieser Brief jedoch war vom Thema her und in seiner gewundenen Ausdrucksweise so einmalig, dass der Sekretär in lautes Lachen ausbrach, ein Lachen, das nicht enden wollte. Der Erzbischof, der im Nebenzimmer saß, hörte dies, obwohl die Tür zwischen beiden Räumen an sich schalldicht sein sollte. Neugierig fragte er, was denn so lustig sei.

Der Sekretär, der in der einen Hand den Brief hielt und sich mit der anderen die Tränen aus den Augen wischte, sagte:

„Da, lesen Sie einmal!“

Der Erzbischof überflog die Zeilen und stimmte in das Gelächter ein. Dann las er den Brief noch einmal laut vor, wobei er einzelne Sätze besonders deklamierte:

„...bin ich nur eine schwache Frau mit dementsprechend schwacher Muskulatur, besonders an der Stelle, auf die es hier ankommt: Der Druck im Darm war einfach stärker, was ich zutiefst bedaure und zu entschuldigen bitte. Ich hoffe, dass Ihnen die nun erforderliche Neuweihe des Domes keine zu großen Umstände bereitet...“

Laut lachend ließ der Erzbischof den Brief sinken und prustete::

„Mein Gott, wenn wir jedes Mal bei so etwas die Kirchen neu weihen müssten, dann kämen wir aus dem Weihen gar nicht mehr heraus. Auch ich habe gestern beim Hochamt, als die Orgel mit allen Registern...Ach, lassen wir das, wir sind ja nicht im Beichtstuhl.“

„Vielleicht sind ja gerade auch deshalb die Orgeln erfunden worden.“

Die beiden lachten wieder und der Erzbischof meinte:

„Ich glaube, wir bräuchten heute noch eine Beerdigung, damit wir wieder den notwendigen Ernst aufbringen können.“

„Eher im Gegenteil: Glücklicherweise steht heute nichts Ernstes im Programm, denn ich hätte Angst davor, plötzlich laut lachen zu müssen.“

Am nächsten Sonntag begann der Erzbischof seine Predigt mit einem bekannten Lutherzitat, obwohl ihm als feinsinnigen Katholiken solche derben Aussprüche völlig fremd waren. Wie ein Paukenschlag klang daher der Satz durch den gewaltigen Dom:

„Aus einem traurigen Arsch kommt kein fröhlicher Furz.“

Er predigte über die Verpflichtung der Gotteskinder, fröhlich zu sein und sich nicht mit kleinlichen Sündengefühlen das Leben zu vermiesen. Die Besucher der Messe fanden hinterher, dass es eine der besten Predigten war, die ihr Erzbischof je gehalten hatte, und Lisbeth, die auch in der Kirche gewesen war, ging getröstet und natürlich auch fröhlich nach Hause.

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