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MANN ABWERFEN

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Als das Telefon klingelte, zeigte die Uhr neben meinem Bett zehn vor sieben.

"Ja?" sagte ich verschlafen. Es war eine gewöhnliche Männerstimme. Gemessen daran, was sie mir anbot, war diese Stimme sogar unter dem Durchschnitt:

"Wollen Sie zehntausend Mark verdienen?"

"Bitte?"

"Sie können zehntausend Mark verdienen, wenn Sie wollen."

“Wann?”

"Noch heute.“

Aus tiefem Schlaf gerissen, kann ich noch nicht klar denken. Deshalb stimmte ich zu.

"Gut, in einer halben Stunde sind Sie auf dem Flugplatz, betanken das Flugzeug und starten gegen acht Uhr. Bei der Luftaufsicht geben Sie einen Rundflug von etwa einer Stunde dreißig an. Nach dem Start drehen Sie in Richtung Amöneburg. Bevor Sie die Burg überfliegen, schalten Sie das Funkgerät auf hundertzweiundzwanzig Komma acht und warten auf Anweisungen auf dieser Frequenz. Haben Sie alles verstanden?"

"Nein - die Frequenz..."

"Hundertzweiundzwanzig-acht", sagte die Stimme noch, bevor das Freizeichen kam. Mein Spiegelbild gab keinen Anlass zu Euphorie. Unter der Dusche traten Anzeichen einer langsam erwachenden Denktätigkeit ein, denn ich bekam Zweifel an der Richtigkeit meiner schnellen Zusage. Zehntausend Mark. Was sollte ich dafür tun? Wie kann sich jemand mit einem klapprigen, zweisitzigen Flieger zehntausend Mark verdienen?

Krumme Touren, war mein Gefühl, als ich den Wasserhahn zudrehte. Dennoch war ich sicher. dass ich es probieren wollte - in der Überzeugung, die Geschichte ließe sich abbrechen, wenn es brenzlig würde. Rauschgift irgendwo unbemerkt abholen - das würde ich nicht machen. Etwas im Ausland besorgen? In Frankreich? Dafür würde die angegebene Zeit nicht genügen. Was sonst? Jemand aus der Klemme holen? Etwas abwerfen? ich konnte mir die Sache nicht vorstellen.

Aber eines war klar: Ich besaß ein abgeflogenes, uraltes Flugzeug und die Gewissheit, dass mein Gehalt nicht reichte, um auf Dauer die Reparaturen bezahlen zu können. Die angebotene Summe würde mein Budget erheblich entlasten.

Als ich den Flugplatz Schönstadt bei Marburg erreichte, lag bleierner Morgendunst auf dem schon fast graslosen Feld - wie so oft in diesem heißen Sommer sechsundsiebzig. Die Hallentore waren geschlossen und es hatte offensichtlich noch keine Flugbewegungen gegeben. Nur oben im Turm saß schon der Flugleiter. Ich stieg die Stahltreppe hinauf, begrüßte den korpulenten älteren Mann und holte telefonisch die Wetterinformation aus Frankfurt ein. Hochdruckwetterlage in ganz Mitteleuropa, anfangs Morgendunst, später Bodenthermik. Ein Traumwetter zum Fliegen.

Der Flugleiter nickte nur, vertieft in ein zerlegtes Funkgerät, als ich beiläufig erwähnte, einen hübschen Spazierflug machen zu wollen - etwa um den Vogelsberg, jedenfalls nach Süden. nicht länger als eineinhalb Stunden.

Die alte Cessna 140 stand im Freien am Rande des Platzes. Nur im Winter fand sie Unterkunft im Hangar, was die Kosten steigerte. Sie war, und ich weiß das heute besser als damals, ein libidinöses Objekt für mich – eine Grand Old Lady aus Aluminiumblech, voll antiker Funktionalität, von mäßiger Kraft und beständiger Schönheit. Sie hatte bessere Tage erlebt. Die unvollständig geführte Lebenslaufakte gab keine Auskunft darüber, wie das Flugzeug, das 1946 in den USA gebaut worden war, nach Europa gekommen war. Möglich, dass ein Diplomat es mitgebracht hatte oder ein Geschäftsmann. Was für ein Abstieg, der es bis in die Hand eines finanziellen Hasardeurs führen sollte.

Allerdings - sie war bei einem gelandet, der ihre Unpässlichkeiten verstanden hatte und respektierte, der ihre Lebendigkeit im Fluge schätzte und ihre Empfindsamkeit bei der Landung oder beim Rollen am Buden zu nehmen verstand. Sie verzieh nicht, wenn sie sich falsch behandelt fühlte. Davon zeugte eine Reihe von Reparaturen, die allesamt ihren vielen Vorbesitzern zuzuschreiben waren.

Mal war ein Fahrwerk eingeknickt und erneuert worden. Ein anderes Mal musste der linke Tragflügel ausgetauscht werden. Beulen und Kratzer fanden sich an unzähligen Stellen, und ich benötigte viel Zeit, um sie zu beheben. Bei einem alten Flugzeug aus Aluminium ist es nicht damit getan, sie einfach mit Spachtelmasse und Lack zu überdecken. Jeder einzelne Kratzer muss exakt geglättet und poliert werden, bevor auf einen speziellen Haftlack die eigentliche Farbschicht aufgetragen werden kann. Und was hatte ich darüber hinaus nicht alles getan, um sie flugtüchtig zu halten! Bald nachdem ich sie für das Eineinhalbfache dessen, was mir jetzt für eine ungewisse Stunde dreißig geboten wurde, erworben hatte, erwies sie sich als fast fluguntauglich. Selbst am Boden ließ sie sich nicht steuern, weil die Seilzüge, Umlenkrollen und Federn ausgeschlagen oder ausgeleiert waren. Das Spornradlager hatte sich eines Tages festgefressen. Ich besorgte ein neues. Bald darauf versagte einer der beiden Zündmagnete. Kosten: Ein halber Tausender. Auspuffrohre erneuert, weil durchgerostet. Angeschafft bei Spezialfirma in USA. Kosten: Immens. Funkgerät reparieren lassen. Kosten: Erheblich. Türen zugfrei eingepasst; dafür hatte ich Türschlösser und Griffe vom 2 CV zweckentfremdet. Kosten gering, doch zwei Wochen Arbeit nach Feierabend. Und so weiter und so weiter. Doch nun befand sie sich schon eine ganze Weile in befriedigendem Zustand.

Ich löste die Verzurrung und schob den rot-weißen Hochdecker die wenigen Meter zur Tankanlage. Die Luft erwärmte sich schnell und es hatte den Anschein, als ob es bald sehr heiß werden würde. Knapp vierzig Liter ließen sich in die Tanks nachfüllen, etwa so viel, wie das Triebwerk in zwei Stunden verbrauchte. Jetzt hatte ich volle Tanks und konnte fast vier Stunden in der Luft bleiben, plus einer weiteren halben Stunde als Sicherheitsreserve. Die Uhr zeigte sieben Uhr fünfzig.

Ich machte die übliche Außenkontrolle, sah nach dem Motoröl und stieg ein. Nach dem Anlassen schnallte ich mich sorgfältiger fest als sonst. Dank der hohen Lufttemperatur dauerte das Warmlaufen nur wenige Minuten. Bis die Öltemperatur fünfunddreißig Grad erreicht hatte, rollte ich in die Halteposition zur Startbahn 22. Mein Magen fühlte sich wie ein Fremdkörper an. Ich drehte den Motor auf Volllast, checkte die Magnete, zog eigentlich unnötig die Vergaservorwärmung und drückte den Mikroknopf: "Marburg Luftaufsicht, DELTA-ECHO-ROMEO-OSCAR-SIERRA in Halteposition 22, fertig zum Start."

"OSCAR- SIERRA, Windstille, frei zum Start."

Ich drücke zweimal kurz den Mikro-Knopf als Antwort und rolle auf die Startbahn. Dann schiebe ich den Gasgriff langsam bis zum Anschlag nach vorn und konzentrierte mich. Neunzig PS dröhnen auf: Knüppel in Normalposition, Fahrt steigt an, sanft Seitenruder rechts, um dem Ausbrechen entgegenzusteuern, Steuerhorn leicht drücken, das harte Rumpeln hört auf, weil das Spornrad freikommt‚ dreißig Knoten, die Maschine wird leichter, Drehzahl steigt auf zweitausendvierhundert, fünfunddreißig, vierzig Knoten, sanftes Ziehen am Steuer- und ich fliege...

Es ist acht Uhr drei, ich notiere es auf dem Knieblock, halte die Nase tief, damit die C140 schneller Fahrt aufholt. Dann mit sechzig Knoten steigen; der Platz verschwindet hinter und unter mir, sanfte Linkskurve - die Luft ist völlig ruhig und damit der Flieger. Nur die Schwingungen des Motors übertragen sich auf meinen Körper und entspannen den Magen. Gleichförmiges Steigen mit achthundert Fuß pro Minute. Ich habe die Drehzahl auf zweitausendvierhundert U/min reduziert und erreiche langsam die Sicherheitshöhe von eintausend Fuß, was etwa dreihundert Meter sind. Es ist doch dunstiger, als ich angenommen hatte.

Vor mir liegt der Vulkankegel‚ wo ich hören soll, wie es weitergeht. Ich raste den Frequenzwahlschalter auf einhundertzweiundzwanzig Komma acht. In den Kopfhörern ertönt das gewohnte leise Rauschen im Kanal. Der Kurs von einhundertfünfunddreißig Grad lässt sich leicht halten, die Nadel meines Fernkompasses scheint festgeklebt zu sein. Genug gestiegen – Horizontalflug! Drehzahl auf zweitausenddreihundert und austrimmen. Ich erreiche jetzt eine Geschwindigkeit von neunzig Knoten, etwa hundertfünfundsechzig km/h über Grund - bei Windstille.

Unten die Schachbrettstruktur der Felder und Äcker. Das Land ist knochentrocken. Die kleinen Rechtecke und Quadrate sind hellgelb oder flachsfarben, manche eingesäumt von Büschen oder kleinen Wäldchen. Die Ohm schlängelt sich durch diese Landschaft und blinkt zuweilen. Dies alles wird bedeckt von einem sanften Schleier; am Horizont zeichnet sich scharf eine gelblich-graue Schicht ab, über der ich fliege.

Das Variometer zeigt den Nullbereich. Es ist eigentümlich zu fliegen, wenn die Thermik noch nicht eingesetzt hat; du kannst das Steuer sich selbst überlassen und dich auf das Gelände konzentrieren. Es ist ein bisschen wie der sanfte Trip auf einer bewusstseinserweiternden Droge.

Nach acht Minuten steht meine linke Flügelstrebe über der Kirchturmspitze der Amöneburg, die so altehrwürdig ins Hessische schaut. Vor rund dreizehn-hundert Jahren war hier der Heilige Bonifatius, um die Menschen des Landes zum Christentum zu bekehren.

Im Kopfhörer rührt sich was: "OSCAR-SIERRA‚ mein Rufzeichen ist LOTSE, Ihr Zeichen ab jetzt: ELSTER. Bitte kommen!"

Die mittelmäßige Stimme von heute morgen. Eine klare Anweisung!

"Hier ELSTER, laut und klar!"

"Gut. Radiokontakt beschränken. Ihr Trip ist gut vorbereitet. Drei verschiedene Stimmen werden Ihnen assistieren."

Mein Magen beginnt zu kontaktieren. Ich muss wissen, wohin ich fliegen soll „LOTSE‚ nennen Sie Ziel und Aufgabe!"

Die Antwort kommt unmittelbar und ist lakonisch:

"Nein!"

Dann eben nicht. Der scheint nicht anzuzweifeln, dass ich mich anders entscheiden könnte. Aber einstweilen will ich sehen, was der Morgen zu bieten hat. Ich halte die Navigationskarte bereit und nehme mir vor, Punkt für Punkt meiner Flugstrecke, die Kompass und Uhrzeit bestätigen, in der Karte zu markieren. Dann werden wir ja sehen, wo das Ziel liegt. Nach einer Weile kommt die Stimme wieder:

"Drehen Sie auf null-neun-fünf Grad und achten Sie auf weitere Anweisungen." Ich bestätige durch zweifaches Drücken des Mikro-Knopfes und trage fünfundneunzig Grad in die Karte ein. Mein Navigationszirkel zeigt, dass ich noch achtunddreißig Kilometer bis zur ADIZ zu fliegen habe, jener Linie, hinter der ein etwa dreißig bis vierzig Kilometer breiter Raum bis zur Grenze der DDR bleibt, in den Sportflieger nicht so ohne weiteres eindringen dürfen. Wer das trotzdem will, muss einen genauen Flugplan aufgeben und auf einer bestimmten Frequenz ständig hörbereit bleiben. Eine Viertelstunde noch, und ich werde diese imaginäre, nur in Fliegerkarten verzeichnete Sicherheitslinie erreicht haben. Ob ich in die ADIZ einfliegen soll? Oder weiter...? Alsfeld liegt südlich meiner Kurslinie‚ und ich muss die Autobahn Gießen-Bad Hersfeld in der Nähe von Berfa kreuzen. Ich fliege in rund dreihundert Meter Höhe über die sanften Hügel des hessischen Berglandes; die vor mir aufgestiegene Sonne zerbricht in tausendfachen Strahlen auf dem zerkratzten Plexiglas der Frontscheibe. Es ist schwierig, gegen die Sonne und knapp über dem Dunst, die Karte mit der Landschaft zu vergleichen. Seitlich durch die Fenster kann man noch eine Menge erkennen - nach vorn fast nichts mehr. Langsam beginnt das Gelände anzusteigen, querab rechts liegt Kirtorf, ein Feldflugplatz während des Krieges. Winzig kleine Dörflein ziehen vorbei: Vockenrod, Schwabenrod. Hügel, Wiesen, alles stoppeltrocken, Wäldchen und Sträßchen. Inmitten eines lichten Baumbestandes entdecke ich ein knallrotes Auto - Liebesgehäuse nach einer durchzechten Nacht? Fotoamateure auf der Pirsch?

Dann zieht ein kleiner weißer Punkt unten durch - ein Schwan kreuzt meine Flugbahn. Rechts vorn liegt jetzt Alsfeld. Langsam kommt das helle Band der Autobahn näher, das ich im spitzen Winkel überfliegen werde. Endlose Fahrzeugkolonnen sind unterwegs. Als ich es überquere, ist es acht Uhr einundzwanzig. Achtzehn Minuten bin ich in der Luft und nähere mich einem Ziel, von dem ich nur weiß, dass es im Osten liegt. Nur noch zwei Minuten bis zur ADIZ.

Der Klang der Stimme, die sich im Kopfhörer vernehmen lässt, ist merkwürdig kühl und dennoch absolut entschieden:

"LOTSE an ELSTER, Kurs halten, auf Flughöhe knapp oberhalb Baumspitzen gehen. Weitere Anweisungen in Kürze."

Das war die zweite Stimme, die sich jetzt eingeschaltet hat. Ich bestätige. Gleich werde ich wenigstens einen Paragraphen der Luftverkehrsordnung übertreten: Unerlaubter Einflug in die ADIZ. Ich drücke ich das Steuerhorn nach vorn und beobachte den Anstieg der Fahrt am Instrument. Die Erde kommt schnell näher, und ich taste mich an das Mögliche heran. Aufpassen: Gibt es dort vorn einen Mast, einen Turm, einen einzelnen Baum, der gefährlich werden könnte? Dumm nur, dass die Sonne so blendet - die Sicht nach vorn ist extrem mies. Immer wieder, in gleichmäßigen Zyklen, kontrolliere ich die jeweils neu aus dem Trüben sich hervorschiebenden Konturen des Landes. Links unten entdecke ich einen einsamen Radfahrer in Schwarz mit Hut auf einem hellen Feldweg zwischen zwei Wäldchen. Kühe sehe ich, alle eigenartig ausgerichtet - keine einzige dreht mir den Hintern zu. Ich hoffe nur, tief genug über dem Boden bleiben zu können, um nicht vom Radar entdeckt zu werden.

Vor mir eine leicht gewundene Straße. Ein Blick in die Karte zeigt, dass sie über Breitbach nach Niederaula und Bad Hersfeld führt. Jetzt bin ich satt in der ADIZ, links querab muss das Autobahndreieck Hattenbach liegen, das ich wegen der geringen Höhe nicht mehr sehen‘ kann.

„ELSTER, gehen Sie tiefer, der Straße folgen!" quakt es in den Kopfhörern. Ich bestätige und drücke die Maschine noch einige Meter tiefer. Jetzt kann man die Ortsschilder deutlich lesen. Eigentlich eine sehr praktische Sache; ich weiß stets, wo ich mich befinde - kein Verfranzen mehr. Aber wehe, wenn ein Hindernis kommt. Oberjossa, Niederjossa ziehen vorbei. Den Ortskernen ausweichen, wegen der Kirchtürme. Die geringe Flughöhe berauscht mich ein wenig. Die Fingerspitzen, die den Knüppel führen, werden feucht. Plötzlich biegt die Straße nach links ab, während die Autobahn quer vorbeihuscht. Jetzt gibt es keine Straßen mehr, nur noch Sträßchen und Wege, die zusehends zu Pfaden werden und sich durch Felder und Waldbreschen schlängeln. Es wird hügeliger, die Landschaft steigt an, was ich am Höhenmesser beobachten kann.

Du solltest besser umkehren, sagt es in mir, es wird Schwierigkeiten geben. Man wird dich bei der Rückkehr mit genauen Informationen über deinen Flugweg empfangen. Gerichtsverhandlung. Verstoß gegen die Luftverkehrsordnung. Lizenzentzug und Geldstrafe. Fliegen ade... Quatsch! Sie werden nichts entdecken. Noch etwas nachdrücken. Die Wipfel der Bäume sind wie die Nägel auf dem Brett des Fakirs. Wie war die letzte Anweisung? Folgen Sie der Straße. Himmel - dann bin ich falsch! Ich bin dem Knick nicht gefolgt, war über das plötzliche Auftauchen der Autobahn so überrascht, dass ich stur fünfundneunzig Grad gehalten habe. Aber mal langsam - hier liegt doch eine Karte auf meinen Knien - kein Grund also, mich überrumpeln zu lassen. Ruhig Mann, bleib ruhig...

"LOTSE an ELSTER, Kurs halten, Waldschneisen möglichst ausnutzen!"

Also stimmt die Richtung doch. Vorn rechts erscheint der Stoppelsberg. Da oben muss er sitzen. Hat einen guten Ausblick - mit dem Fernglas bestimmt dreißig Kilometer. Ich fliege weit unter seiner Höhe, hebe zum Gruß die rechte Fläche, indem ich links in eine Lichtung eindrehe. Noch fünfzehn Kilometer bis zur DDR. Nur noch sechs Minuten. Die Orte sind mir unbekannt. Das Land scheint zu verwahrlosen. Menschen gibt es hier keine mehr. Die Sonne steht über dem Dunst und kann ihn nicht beseitigen. Vorn wabert ein mit dem Auge nicht durchdringbares Blaugrau. Aufpassen! Gleich muss hier eine Hochspannungsleitung meinen Kurs kreuzen. Ich fliege zu tief. Sollte ich besser höher steigen? Man sieht kaum etwas nach vorn. Dieser verdammte Dunst! Da! Da kommt etwas... sanft durchhängende Spinnenfäden glitzern da vorn. Bin ich tiefer oder höher als sie? Ich muss mich entscheiden... ziehen oder drücken? Bleibt die Fliege hängen? Als ich mich zum Ziehen entschlossen habe, bin ich schon drunter durch.

Über den Dächern eines Dörfchens. Vorn rechts die Gleise einer Bahn, ein verlassener Bahnhof. Die Gleise führen nach Osten. Ob da noch Züge fahren?

"LOTSE an ELSTER, sehen Sie die Gleise?"

"Positiv!"

"Folgen Sie ihnen tiefst möglich!"

Gut. Versuchen wir's. Ich drücke noch tiefer und lege die Kiste in eine sanfte Rechtskurve, ziehe knapp über das Bahnhofsgebäude hinweg, kann jedoch das Schild nicht mehr lesen. Alles ist menschenleer, wie eine verlassene Filmkulisse. Immer tiefer tastet sich das Hauptfahrwerk an den Bahnkörper heran. Bahngleise waren schon immer hervorragende Orientierungshilfen für die Fliegerei. Dann fällt mir die alte Aviateur-Regel für Schlechtwetter ein: Linkes Rad - rechte Schiene.

Viel Unkraut wächst zwischen den Schwellen, die jetzt im Vorbeihuschen ein Bild aus meiner Kindheit wecken. Wie vertraut mir das ist, wie gut ich dieses hoch aufgeschossene Kraut kenne. Und wie erstaunlich sich meine Erinnerung aus früher Kindheit an die toten Gleise einer verlassenen Fabrik mit den rostigen Schienen deckt, über die ich jetzt husche. Gleich muss die Grenze kommen. Eigenartig, dass ich schon keinen Gedanken mehr daran verschwende, welches Risiko ich eingehe. Mein Lotse ist verdammt wortkarg. Links und rechts steht dichter Mischwald‚ durch den ich mich‚ immer den Schienen folgend, unterhalb der Baumkronen, vorantaste. Ich habe noch nicht das Gefühl, entdeckt zu sein. Das wird aber nur so lange anhalten, wie ich wirklich tief genug über dem Boden bleiben kann. Einstweilen geht's noch. Ich kann nur hoffen, dass der Empfang in dieser geringen Höhe noch funktioniert, dass mein Lotse hoch genug sitzt, damit seine Funkwellen immer an meine Antenne gelangen können.

Dort vorn wird es heller. Die Bahnschneise öffnet sich. Das muss die Grenze sein. Ein kleiner heller Streifen wird sichtbar. Immer näher zieht der Grenzstreifen heran, der plattgewalzte - jener Zaun zuerst, der mit Minen und Selbstschussanlagen gespickt sein soll. Er hat nichts Erschreckendes von hier oben, aus meinen paar Metern Überhöhung; er sieht eher aus wie ein kräftiger Weidezaun, der die dummen Kühe vor einem Unglück abzuhalten vermag.

Die Nase der Cessna zerschneidet die Grenze im rechten Winkel. Kein Mensch, kein Turm, kein Ausguck ist zu sehen. Die Schienen haben aufgehört, sich länger unnötig fortzubewegen. Da endlich meldet sich die dritte Stimme:

"LOTSE an ELSTER, eins-null-null Grad halten!" Ich halte. Ich bin jetzt so tief, dass der Propeller jedem umherlaufenden Menschen gefährlich werden kann. Hart schlagen die Treffer von Insekten an die Frontscheibe, bizarr verlaufen die zerspritzenden blutgefüllten Leiber der Mücken und Schnaken auf dem zerkratzten Plexiglas. Schmetterlinge und größere Insekten hinterlassen gelb-fettige, groschengroße Abdrücke. Das passiert nur beim Tieffliegen, in größerer Höhe gibt es keine Insekten mehr. Der Nadelwald‚ den ich schon längere Zeit beobachte, zieht näher. Der Typ gibt sich keine Mühe mehr:

"Links vorbei, dann in die Lichtung!"

Das kann der Mann nur sagen, weil er hier irgendwo im Wald sitzt; der muss mich voll in der Optik haben. Hart lege ich die 140 zur Seite. Dort ist eine längere Einbuchtung, ich halte hinein, sie wird enger, schmäler. Im Halbdunkel der Schneise flitzt ein Hase über einen Wiesenstreifen - da gibt es keinen Ausgang... das ist eine Sackgasse!!

"Über den Wald ziehen, Kurs halten, nächste Anweisung genau beachten!" Ich denke nicht mehr - handle nur noch. Die Spitzen der Kiefern und Fichten scheinen einer Berührung nicht abgeneigt. Als die Maschine drüber kommt‚ sehe ich, dass dieser Wald so klein nicht ist. Scheinbar kilometerlang erstrecken sich die ohne Symmetrie aneinandergereihten Baumwipfel - ich fliege über eine beständig anhaltende Bedrohung in ganz geringer Höhe. Lichtungen, Verdichtungen kommen. Ich habe meine Uhr vergessen, ich habe meine Karte vergessen. Ich kann nicht mehr sagen, wo genau ich bin. Das ist mir seit Jahren nicht mehr passiert. Schnelle Blicke nach links und rechts überzeugen keineswegs, sie bestätigen eher ein Gefühl, das Orientierungslosigkeit genannt wird. Das sollte einem Flieger nicht passieren. Du hast die einfachsten Regeln nicht beachtet. Hochziehen! Überblick gewinnen und mit Vollgas zurück. Bleib ruhig, gleich wird sich alles ändern.

Wald, so weit ich sehen kann. Nur nicht höher gehen, sonst ist es aus. Fast beunruhigend, wie gleichförmig das Triebwerk brummt. Alle Instrumente, die etwas mit den Motordaten zu tun haben, stehen im grünen Bereich. Dunkles Grünblau kommt, ist sanft und dämpfend, ist dennoch ein rotes Tuch. Zehntausend Mark, hat er gesagt, doch darum geht's schon lange nicht mehr. Um was geht es denn? Ein bisschen um masochistisches Unterordnen vielleicht? Oder um Fühlungnahme mit dem Unkalkulierbaren, da doch sonst alles kalkulierbar ist.

" Kurskorrektur", knackt es in den Hörern‚"zehn Grad nach rechts!"

Einhellig steht Baum an Baum, droht solidarisch dem Ungebetenen. Eine Armada von Hellebarden und Spitzhauben rauscht vorüber.

"Zur Landung vorbereiten!" kommt es unvermittelt aus dem Funk. Ruckartig das Ansteigen meines Herzschlages, die Finger werden so feucht, dass ich sie an der Hose abwischen muss. Da ist nichts zu sehen außer Wald. Wo soll ich denn da landen? Nichts! Nichts als Wald. Die Vergaservorwärmung ziehen.

"Achtung: Etwa drei Grad links halten... Hand ans Gas... etwas mehr links...zu viel! so... ja, so! Höhe halten... Achtung: j e t z t Gas raus!"

Erst in diesem Moment erkenne ich die Bresche im Wald. Seine Position ist gut. Er hat, zum Teufel, mich exakt herangeführt. Das Treibwerk beginnt hohl zu leiern, das Flugzeug neigt sich auf den Kopf. Indem die Nase unter den Horizont sinkt, bessert sich die Sicht nach vorn. Dort unten befindet sich ein Wiesenstreifen, mitten im Wald.

Ich unterschätze die Planer meines nur noch zur Ausführung degenerierten Fluges keineswegs, bekomme aber das Gefühl, dieses Stückchen Wiese könnte zu kurz sein, um sicher darauf zu landen. Was passiert, wenn ich nicht mehr die notwendige Ausrollstrecke zur Verfügung habe? Hinten winkt der Waldsaum.

Meine Maschine hat zwar Landeklappen, trotzdem lege ich sie in einen scharfen Slip. Da geht sie wie ein Fahrstuhl abwärts. Der Fetzen Wiese nähert sich irre schnell, ich sinke ins Dunkle. Die Wiese scheint frisch gemäht zu sein. Da ist nichts weiter - außer Gras. Meter, wenige Meter nur noch, nicht zu spät den Side-Slip beenden, Ruder in Normalstellung, halten, etwas ziehen...das Feld ist unebener als erwartet... etwas höher mit der Nase, so, so muss es. gehen, noch warten... rhappadamm! ... rhabomm! … radamm! Seitenruder rechts … bumm! Ruder links … wabumm! …wumm! Rechts und links hasten die Kieferstämme vorbei, werden langsamer, werden bedächtig - und ich stehe...Acht Uhr neununddreißig. Sechsunddreißig Minuten Flugzeit. Während der Propeller im Leerlauf gegen das diffuse Licht oszilliert, wischen meine Hände ihre feuchten Innenseiten an die Hosenbeine. Nicht abstellen. Gleich muss einer kommen. Draußen steht der Wald, Duft von frischem Gras dringt herein, von morgenfeuchtem Gras. Das Augenpaar, das mich plötzlich anstarrt, befindet sich unmittelbar neben mir, ist nur durch die Plexiglasscheibe getrennt. Es signalisiert weder Angst noch Bedrängnis oder eine ähnliche Regung. Ich bin verdutzt, starre ebenfalls einige Sekunden reglos zurück, deute dann mit der Hand nach hinten und beschreibe eine kreisende Bewegung. Er soll nicht vorn herum, sondern um das Leitwerk zum rechten Einstieg kommen. Es ist schon manch einer in Hast in den rotierenden Propeller gerannt.

Der Mann steigt ein, breitet sich neben mir aus. Er reicht mir einen geschlossenen Briefumschlag, den ich in die Tasche des Hemdes schiebe. Gas geben. Unwillig kommen sechshundertdreißig Kilo Masse in Bewegung. Hätte ich vermuten können, dass ich hier jemanden rausholen soll? Auf keinen Fall! Ich hätte mich auch nicht darauf eingelassen, doch jetzt ist es zu spät für einen Rückzieher.

Jetzt gilt es, möglichst viele Meter zu gewinnen für den Start; so nah wie möglich an den schmalen Saum heran, der diesen Streifen vom Wald trennt. Dort wenden – und dann muss es gehen. Es ist vorteilhaft, dass das Gelände in dieser Richtung leichtes Gefälle hat. Schlecht nur‚ dass der Wald an Ende der Startstrecke sehr dicht steht, und dort kein Ausweichen in eine Bresche oder Schneise möglich ist, falls ich nicht rechtzeitig ausreichend Überhöhung haben sollte. Ich taxiere meinen Mitflieger: Achtzig bis neunzig Kilo mag er wiegen. Eine Menge Gewicht für das Streifchen Wiese. Schweißperlen stehen auf dem Gesicht rechts neben mir. Ein einzelner salztrüber Tropfen hängt unter seiner Nase und kommt nicht los. Gas, mehr Gas geben, die letzten Meter bis zum Waldrand sind steil. Seitenruder und Bremse links. Rumpelnd kommt die Kiste herum, richtet sich schwerfällig in die gedachte Startrichtung. Meinen Passagier festschnallen. Das massige Gesicht ist starr und bleich. Bremsen treten, langsam das Gas vorschieben bis auf Volllast - Bremsen lösen: Nur träge kommt der Flieger ins Rollen, schaukelt und stampft; das bisschen Gras kann die harten Stöße nicht dämpfen. Höhenruder nachgeben, etwas drücken, damit das Heck hochkommt - whomm! - wabomm! - wumm!-whamm! Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass die Hände des alten Mannes nach einem Halt tasten. Nur nicht ziehen! Sie muss mehr Fahrt haben als gewöhnlich, um über den Wald zu kommen. Mit fünfundvierzig Knoten und fast zwei Drittel der Bahnlänge bin ich frei... Ganz dicht am Boden bleiben! Zum Rein-hämmern einladend kommt das Schwarzgrau der mannstarken Fichtenstämme rasch näher. Warten... Jede Sekunde mehr, in der ich im Horizontalflug Geschwindigkeit aufholen kann, verbessert meine Chancen, über den Wald zu kommen. Der dicke Alte ist beunruhigend unruhig, seine Arme fahren hin und her. Noch warten...

Als die Baumwipfel über die Frontscheibe hinauszuwachsen beginnen, ziehe ich das Horn mit sanfter Gewalt an den Bauch. Ich erklimme Ast um Ast, Zweig um Zweig dieser Bäume. Ich muss den Fahrtmesser im Auge behalten. Die Nadel wandert langsam zurück - bei fünfzig Knoten drücke ich kräftig nach... Wir fliegen - noch... Langsam stabilisierte sich die Sache irgendwie. Mein Passagier hat sich beruhigt, sitzt entspannt zurückgelehnt. Da ist keine Angst mehr auf seinem Gesicht, eher ein Hauch von Erstaunen.

Als ich merke, dass er tot ist, habe ich ihn schon über die Grenze geschafft. Da meldet sich der Magen wieder. Es ist wieder das Gefühl, einen Klumpen im Oberbauch zu haben, der die Manöver des Flugzeugs nicht mitmachen will. Heiliger Strohsack! Ich habe einen Toten an Bord, den ich bei einem unerlaubten Einflug in das Gebiet der DDR noch lebend abgeholt habe, und den ich nun in diesem unvertrauten Zustand, in unverantwortlicher Flughöhe, heraushole.

Ob er doch nur ohnmächtig ist? Ich kann mich nicht voll auf ihn konzentrieren, muss den Weg finden und auf die Höhe achten. Was soll ich mit ihm anfangen? In Marburg landen und bei der Flugleitung erklären, es sei eine Leiche an Bord meiner Cessna? Man solle ein Bestattungsinstitut beauftragen, damit sie ihn holen? Fragen würden gestellt werden. Alles würde auffliegen.

Nichts, gar nichts weiß ich von dem Toten, für den das ganze Leben in einem kurzen Moment geendet hat. Nicht mal rechtzeitig bemerkt habe ich, dass er einfach aufgehört hat zu leben. Kein Wort haben wir gewechselt. Was mag hinter diesem entlebten Gesicht stecken, welche Biographie? Was mochte ihn bewogen haben, in seinem Alter noch diesen Sprung zu wagen? Er hat alles auf eine Karte gesetzt und verloren.

Er trägt einen schäbigen grauen Anzug und ein hellblaues Hemd. Der Hemdkragen ist über die Jacke geschlagen, was den Anschein eines in die Sommerfrische reisenden Pensionärs in den Sechzigerjahren erweckt. Kein Gepäck. Nicht einmal eine Tasche. Nichts. Er ist mit leeren Händen gekommen. Wie erbärmlich wenig einer benötigt, wenn er abtritt.

Soll ich meinen Lotsen informieren? lch versuche es:

"ELSTER an LOTSE - bitte kommen!" Keine Reaktion. "ELSTER an LOTSE bitte kommen!" Sanftes Rauschen auf der Frequenz. Schöne Scheiße! Die melden sich einfach nicht, weil sie jetzt kein Risiko mehr eingehen müssen. Der alte Mann ist herübergeschafft, und wenn ich irgendwo lande, so ist das mein Problem. Einen Toten unbemerkt irgendwo hinzufliegen ist ungleich schwerer als einen Lebenden. Für mich wird klar, dass ich ohne ihn landen muss. Aber wie?

Kurz und hart setzt der erste thermische Schlag dieses Tages ein. Die Sonne hat die Erdoberfläche genügend erwärmt, um warme Aufwinde abzustrahlen. Immer wieder kreuze ich solche Thermikblasen und werde heftig durchgerüttelt. Die Arme des Alten sind zwischen seine Knie gesunken, und seine Hände, die leicht nach unten hängen, schwingen im Rhythmus der Stöße auf und ab. Der Kopf hängt nach vorn und zieht den Oberkörper in die Gurte. Ich muss ganz sicher gehen, dass er nicht doch noch lebt: Mit der rechten Hand ergreife ich sein linkes Handgelenk und versuche, den Puls zu tasten. Zu dumm, dass ich so wenig von den Grundfunktionen des menschlichen Organismus verstehe; sicher gibt es eine viel einfachere Methode, Tod oder Leben festzustellen. Nur, ich kenne sie nicht. Kein Puls zu fühlen. Vielleicht finde ich ihn nur nicht? Die Halsschlagader! Das geht aber nicht so einfach, wenn man angeschnallt ist. Es kostet einige Verrenkungen, bis meine Finger seinen Hals abtasten können. Auf einmal kommt mir der Gedanke, ein Dritter könnte diese merkwürdige Szene beobachten.

Da rührt sich nichts. Die halb geöffneten Augen sind eigenartig klar, aus ihnen kann ich ohnedies nichts ablesen. Da fällt mir etwas ein, das ich im Kino ge-sehen habe und ich beschließe, dass dies meine letzte Untersuchung sein soll:

Ich halte das Ziffernblatt meiner Armbanduhr vor die Nase und atme ein und aus. Es beschlägt sofort. Nun mache ich diesen Versuch auch bei ihm: Nichts! Er ist tot. Seltsam, wie warm sich seine Haut noch anfühlt, und dennoch lebt er nicht mehr. Es ist gar nicht so erschreckend, neben einem Toten zu sitzen. Langsam entspanne ich mich.

Der .Kompass schwankt jetzt sanft zwischen zweihundertsiebzig und zweihundertachtzig Grad. Die Autobahn zieht unten durch. Je weiter ich nach Westen komme, umso drastischer steigt der Gedanke auf, dass ich den Alten loswerden muss. Und zwar schnell! Am liebsten wäre es mir, ich hätte diesen idiotischen Flug nie gemacht. Die Tür auf seiner Seite vibriert stark- ob sie nicht richtig verriegelt ist? Ich versuche, an den Griff zu gelangen, doch das verwehrt mir sein massiver Körper.

Einen Moment…! Habe ich nicht soeben einem Bürger der DDR zur Flucht in die Bundesrepublik verholfen? Habe ich nicht mein Leben dafür eingesetzt, dass ein Deutscher in die Freiheit des Westens gelangt? Das kann doch nicht strafbar sein, auch wenn dafür ungewöhnliche Methoden eingesetzt wurden! Vorn glitzert ein kleiner Stausee. Querab liegt Alsfeld. Wie wäre es‚ wenn ich ihn ins Wasser…? Aber das darf keiner beobachten. Ich muss mich erst vergewissern, ob die Luft rein ist.

Etwas links halten - der See kommt rasch näher -, einen Kilometer lang mag er wohl sein und halb so breit; er liegt quer zur Anflugrichtung. Noch etwas weiter nach links ausholen, will ihn östlich versetzt längs abfliegen.

Gleich geht er unten weg - hart rechtes Querruder, damit ich beide Längsufer beobachten kann. Sind da Boote? Angler, die das hier beobachten können? Ganz tief bleiben - da vorn kommt eine Waldung. Alles ist gut zu übersehen und ich kann nichts Auffälliges entdecken.

Über dem Wäldchen eine Hundertachtzig-Grad-Kehre, zurück über den See‚ auf die Mitte zuhalten, ihm die Gurte lösen und darauf achten, dass er nicht über das Steuer fällt. Mit dem Knacken des sich öffnenden Schlosses sinkt er in sich zusammen. Fast die Hälfte des Sees ist überflogen, noch etwas tiefer gehen - jetzt: Ein kurzer Griff nach rechts, der die Tür öffnet - der Fahrtwind schlägt sie sogleich zurück, Gas geben, Fahrt überhöhen: neunzig-fünfundneunzig – einhundert - einhundertfünf Knoten - rechte Fläche hängen lassen und sanft ins linke Seitenruder. Die Fliehkraft bewegt den Mann; er rutscht nach rechts, mit Kopf und Schultern voran, fließt schließlich wie eine dickflüssige Masse aus der widerwillig sich öffnenden Tür. Ich sehe vom Fahrtwind gepeitschte, rotblonde schüttere Haare, dahinter eine tiefgraue Wasseroberfläche, in die dieses gewichtige Stück Unleben gleich eintauchen wird. Die Beine, denen blankgeputzte schwarze Schuhe folgen, rutschen nach. Bevor der Fahrtwind die Tür wieder an den Ausstieg presst, sehe ich noch seine Schuhsohlen - erdverkrumte Hartgummisohlen.

Ich ziehe westlich tief über den See, überspringe das Uferwäldchen und halte Kurs auf Schönstadt. Nur nicht mehr umdrehen. Dort gibt es nichts mehr zu sehen. Im Südosten blendet die Sonne.

Als ich um neun Uhr vierundzwanzig die C-140 in Marburg-Schönstadt aufsetze, fühle ich mich hohl und zerschlagen. Was für ein schöner Morgen -was für ein sinnloser Tag... Auf dem Abstellplatz lasse ich das Triebwerk im Leerlauf den Wärmestau der Zylinderköpfe abbauen.

"DELTA OSCAR SIERRA"‚ sagt die Stimme des Flugleiters in den Kopfhörern, "kommen Sie doch mal zum Turm herauf!"

Aus…! Sie wissen es…! Sie haben schneller Wind von dieser nebulösen und konspirativen Aktion bekommen, als ich es für möglich gehalten hätte. Ich habe wacklige Beine und zittrige Hände, während ich die Eisentreppe hinaufsteige. Stehen dort unten an der Halle nicht eigenartig unauffällige Fahrzeuge? Blicken die beiden Männer nicht verstohlen zu mir hoch?

In der Glaskuppel des Flugleiters hängt beißender Zigarrenrauch, der mir die Luft nimmt. "Wie war's?" fragt er, indem er die Zigarre in den linken Mundwinkel schiebt und mich aus seinen wasserhellen Augen aufmerksam mustert. Ich erwarte jeden Augenblick einen gnadenlosen Anschiss und das Versprechen einer Anzeige beim Regierungspräsidium. „Sie haben“, sagt er und fixiert mich scharf, „Ihre Kraftstoffrechnung vom letzten Monat noch nicht bezahlt!“

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