Читать книгу NOTLANDUNG - Peter Rospert - Страница 5
AM SEIDENEN FADEN
ОглавлениеDas Morgenlicht konnte nichts ausrichten gegen die sibirische Kälte. Ein milchig-blauer Januartag, ohne jede Luftbewegung‚ wie schon die Tage zuvor. Die tiefstehende Sonne hatte Mühe, die eisige Nebelschicht zu durchdringen. Dort, wo vereinzelt Licht durchfallen konnte auf den gefrorenen Boden‚ verlieh es dem gesprenkelten Schnee auf dem Wiesenland ein absurdes Leuchten. Ein guter Tag für den ersten Sprung seines Lebens, das wusste er. Ganz ohne Wind, der abtreiben und tückisch den Springer noch am Schirm hängend über den Boden schleifen konnte. Eiskalte und deshalb dichte, gut tragende Luft, welche die Berührung mit der Erde sanfter machen konnte.
Doch es gab auch etwas, das ihn beunruhigte: Der hartgefrorene Boden. Die paar Quadratdezimeter Auftrittfläche würden keinen Millimeter nachgeben. Das könnte ihn eine Verstauchung der Knöchel kosten, oder er brach sich ein Bein dabei. Einen Tod musst du sterben, dachte er fatalistisch und begrub das flaue Gefühl, das er schon bald nach dem Aufstehen bemerkt hatte, unter einem Schub von Tatendrang. Er rekapitulierte zum hundertsten Male alle Griffe und Handlungen, die für eine sichere Landung notwendig waren, überprüfte den Schirm und die Gurte, den Auslösemechanismus, schnürte die Stiefel neu und war sich schließlich sicher genug, um in die Pilatus Porter zu steigen.
Doch dann wischte er diese Gedanken fort, beobachtete die anderen vier Anfänger, die ebenfalls mit ihren Schirmen beschäftigt waren. Johannes Matussek, ein dreißigjähriger Ingenieur und Freund, der ihn überredet hatte, einen kleinen „Schnupperkurs“ bei den Fallschirmspringern zu belegen. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen und hustete wie ein alter Untertagegaul.
Thea Uebernberg, eine junge Angestellte bei einer Versicherungsgesellschaft, nicht wesentlich älter als zwanzig. In ihren Augen blitzte immer wieder der Wunsch nach Spannung und Abenteuer auf.
Heike Arnd, Hausfrau und Mutter zweier noch nicht schulpflichtiger Kinder, etwa dreißig Jahre alt.
Wolfgang Kugele, ein kräftiger, besonnener Maschinenschlosser, gut über vierzig. Und schließlich war da noch er selbst, Armin Schneider, Lehrer für Kraftfahrzeugtechnik an einer Berufsschule, zweiunddreißig Jahre alt, verheiratet mit einer Kollegin und kinderlos.
Heute Vormittag sollten sie alle gemeinsam ihren ersten Sprung aus dem großen einmotorigen Turbopropflugzeug absolvieren. Der Sprunglehrer hatte einen erfahrenen Springer eingeteilt, den ersten Sprung zu machen, worauf die fünf Novizen folgen sollten. Den letzten Sprung wollte er selber ausführen. Als die Propellerturbine aufdröhnte, wurden die Springer in ihre Sitze gepresst. Nun war es unumkehrbare Tatsache, dass sie in ein paar Minuten das Flugzeug aus tausend Meter Höhe verlassen würden. Nach wenigen Minuten hatten sie den Dunst durchstiegen. Darüber erwartete sie ein kobaltblauer Himmel ohne jede Bewölkung.
Nach dem Start beschrieb das Flugzeug einen weiten, zunächst flachen Bogen nach Westen, gewann aber bald an Höhe, immer in Platznähe kurvend. Nur sehr langsam ließ das penetrante Singen der Turbine nach, und selbst als die Maschine mit bloßem Auge nicht mehr auszumachen war, konnte man sie immer noch hören. Auf dem Flugfeld hatte sich eine Handvoll Menschen versammelt - Mitglieder des Vereines. Der zweite Sprunglehrer, ein paar Hinzugekommene und Neugierige. Sie alle warteten auf die kleinen schwarzen Punkte, die sich bald aus dem Flugzeug lösen würden, auf das Öffnen der Schirme, auf das gemächliche Herabgleiten der Springer und auf die Landung im Feld, hoffentlich nicht zu weit neben der Bahn.
Ein rotes Blinklicht am vorderen Spant vor dem Durchgang zum Cockpit zeigte das Erreichen der Absprunghöhe an. Der Vorspringer hob die rechte Hand als Zeichen für die Vorbereitung zum Sprung.
Schneider war der Dritte, der zu springen hatte. Er spürte jetzt doch Beklemmung; sein Magen verkrampfte sich zu einem festen Kloß. Er hätte viel dafür gegeben, wenn dieser Sprung vorüber wäre. Durch die geöffnete Absprungtür im Heck des Flugzeugs strömte eisige Luft. Der Vorspringer hatte sich an der Tür postiert und grinste breit. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Dann beugte er sich leicht nach vorn, als wollte er den Flugplatz ausfindig machen. Er drehte sich den blassen Gesichtern zu, hob wieder die rechte Hand, streckte den Daumen nach oben - und fiel plötzlich, immer noch grinsend, rückwärts kopfüber aus der Tür.
Jetzt wurde das Abstrakte konkret. Keine romantisierenden Betrachtungen über den vogelgleichen Flug. Jetzt standen der harte Fall ins Nichts und der heftige Ruck des sich öffnenden Schirms bevor.
Ob er sich öffnet? Was passiert, wenn er es nicht tut? Wie viele Sekunden dauert es dann, bis du merkst, dass er sich nicht auffalten wird? Und wie viel Zeit verbleibt dir, mit vollem Bewusstsein dein Ende entgegenrasen zu sehen? Hoffentlich werden dann die Sekunden nicht zu lang! Er sagte sich, dass die Statistik keinen Anlass zu Ängsten gab. Eine Sache, wie über die Straße zu gehen. Wer hat deshalb schon Bedenken?
Dann sprang das Mädchen. Sie trat ruhig und konzentriert an die Luke, warf einen kurzen Blick zurück auf die anderen und ließ sich fallen. Es folgte Johannes Matussek. Er prüfte gewissenhaft noch einmal Schirm, Gurte und die Reißleine. Er trat einen Meter zurück, brachte einen tiefen gutturalen Schrei hervor und gab sich einen Ruck. Er kam nur bis zur Tür, an der er sich festklammerte. Die Gesichter der anderen konnte er nur schemenhaft wahrnehmen. Fahrig fingerten seine Hände am Sprungzeug. Aus weiter Ferne hörte er die markigen Sprüche des Sprunglehrers. Die Tiefe war trüb wie von einem Sandsturm. An Skispringen musste er für eine Sekunde denken, an die Mutlosigkeit des Springers auf der Schanze. Und dann stieß er sich doch ab.
Am Boden hatten sie beobachtet, wie sich drei Punkte aus dem Flugzeug lösten, Schirme sich öffneten, sanft, ohne abzutreiben, fast vertikal herabsanken. Als der dritte Punkt erschien, sahen sie die Unregelmäßigkeit. Dem Punkt folgte etwas - ein Wabern von Tuch. Flackernd wie eine Flamme schlug es hinter dem Spornrad des Flugzeugs zusammen. Es straffte sich ruckartig zu ganzer Länge, wirbelte den dunklen Punkt, festgemacht an haardünnen Fäden, hinter sich her im Kreis; wippte ihn auf und ab in nachlassenden Oszillationen.
Unten stellten sie nüchtern fest, dass der Springer sich mit seiner Schirmkappe am Heck des Flugzeuges, vermutlich am Spornrad, verheddert hatte, und nun wie ein Fisch am Haken durch die Luft gezogen wurde. Das Triebwerk dröhnte lauter, spuckte plötzlich rauere Töne. Die Lage des weißen Vogels veränderte sich, was deutlich gegen die milchige Schicht zu sehen war. Eines war ihnen schnell klar: Der Mann würde sich nie aus eigener Kraft befreien können, ohne den Fallschirm aufzugeben. Kugele, der Maschinenbauer, sollte nach Matussek springen. Er trat unmittelbar hinter ihm an die Öffnung, durch die scharfer, kaltbeißender Fahrtwind hereinströmte. Irgendwie hatte er es noch beobachtet. Die gelinde Panik auf dem Gesicht des Mannes. Den Absprung, gefolgt vom Wegtauchen unter den Rumpf, und plötzlich das Auflodern von Tuch für den Bruchteil einer Sekunde. So früh? dachte Kugele, warum öffnet sich der Schirm denn so zeitig? Im nächsten Moment wusste er als erster an Bord, dass etwas schiefgelaufen war. Alle hatten sie den Ruck bemerkt, doch Kugele allein wusste, dass der Springer ihn ausgelöst hatte.
"Der Schirm!" rief er, schrie er gegen den Triebwerkslärm an, "Der Schirm hat sich zu früh geöffnet!"
Der Ausbildungsleiter verstand die Worte nicht sogleich, er legte die gekrümmten Handflächen wie Richtantennen an die Ohren. Doch dann, als das Triebwerksgeräusch sich änderte, das Flugzeug sich aufbäumte unter der schweren Last weit hinter dem Heck, schien er zu begreifen, dass dieser Sprung nicht so verlaufen war wie Tausende von Absprüngen, die er begleitet hatte im Laufe der Zeit.
Schnell wurde auch den anderen klar, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste bei dieser Premiere; es beruhigte sie keineswegs, dass sie nicht sehen konnten, was es war. Es gab keine Fenster nach hinten, einzig die Absprungluke ließ vielleicht einen Blick in diesen Bereich zu. Kugele klammerte sich am Rande der Öffnung fest und versuchte, den Kopf weit herauszubekommen. Da sah er ihn hängen: Matussek wurde, an seinen Schirmgurten hängend, durch die eisige Luft gezogen wie ein angehängtes Segelflugzeug im Schlepp. Dabei schien er auf den Boden zu starren, die Hände in die Gurte verkrampft. Was tun, dachte Kugele. Was tun? Ans Spornrad zu kommen war eine unmögliche Sache. Wohl auch der sichere Absturz bei einer solchen Hecklast. Der Flugzeugführer hatte bemerkt, dass die Nase des Flugzeugs nach dem Ruck ansteigen wollte. Er hatte Mühe, die Höhe einzuhalten, geriet eng in den unsicheren Bereich der Fahrtanzeige, schob Gas nach, um Höhe zu halten und Fahrt. Zunächst konnte er sich nicht erklären, weshalb die Maschine so zickte. Doch dann rief der Turm über Funk in hastigem Wortfall, ein Springer hinge mit seinem Schirm am Flugzeug fest. Verdammt - er musste die Maschine kopflastig bekommen! Deshalb gab er dem Ausbildungsleiter Zeichen, alle Springer nach vom zu schicken.
Heike Arnd und Armin Schneider, vom Ausbilder gefolgt, begaben sich sofort ganz nach vorn. Dort klammerten sie sich am Spant und an den Pilotensitzen fest. Als der Josef Bachtler feststellte, dass sich die Flughöhe mit mehr Antriebsleistung und der Trimmung am vorderen Anschlag halten ließ, atmete er auf. Seine Augen wanderten systematisch von Instrument zu Instrument, konnten aber keine Auffälligkeiten entdecken. Doch dann blieben sie am Kraftstoffvorrat hängen. Der Zeiger stand im Reservebereich.
Er schätzte zunächst, rechnete dann und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass noch etwa eine halbe Stunde Flugzeit zur Verfügung stand. Danach würde das Triebwerk stehen bIeiben‚ einerlei‚ was mit dem Mann am Schirm geschah. Es gab ganz plötzlich eine Menge zu tun: In weniger als dreißig Minuten das Anhängsel loswerden, ohne dieses oder sich selbst zu gefährden. Die zur Verfügung stehende Zeit hätte auf vierundzwanzig oder sechsunddreißig Stunden lauten können - eine Lösung konnte er sich nicht vorstellen. Elf Uhr dreizehn zeigte die Borduhr.
Die nächsten fünf Minuten vergingen, indem der Turm den Flugzeugführer über Funk befragte, ob er die Maschine halten könne. Und ob er glaube, dass Matussek bei Bewusstsein sei, und welche Lösungsmöglichkeiten er sehe. Irgendwie glaubten sie wohl dort unten, dass hier der Heilige Geist persönlich am Steuer sitze! Doch er machte ihnen rasch klar, dass er keinen Weg sehe. Und dann sagte er noch, dass sie sich beeilen müssten mit einer Lösung, denn in weniger als dreißig Minuten sei der Tank leer.
Unten auf dem Vorfeld versammelten sich immer mehr Menschen, starrten entgeistert nach oben zu dem kleinen Punkt an den seidenen Fäden. Thea Uebernberg, die nach der Landung ihren Schirm gerafft hatte und dem Vorspringer zum Hangar gefolgt war, fand sich inmitten einer vielköpfigen Gruppe wieder. Sie standen auf dem Platz, reckten die Köpfe und debattierten die Situation. Der Mann hatte doch einen Notfallschirm! Er musste ihn nur betätigen!
Genau dies konnte er anscheinend nicht, wie man sah.
Nach acht Minuten traf der erste Rettungswagen ein. Dann kamen Polizeifahrzeuge (alle mit Blaulicht), ein Auto mit dem Reporter und dem Fotografen der örtlichen Presse, ein Feuerwehrfahrzeug (ebenfalls mit Blaulicht), das in seinem Kielwasser eine Menge an Fahrzeugen mit sich schleppte, mit Neugierigen besetzt und ihm nacheilend wie ein Rudel Wölfe, das auf eine Blutspur gestoßen war. Schließlich traf ein grauer Käfer ein, dem ein Geistlicher entstieg. Elf Uhr zwanzig.
"Man muss ihn da abschneiden", rief Thea dem Sprunglehrer zu. Das allerdings war die unnötigste Feststellung, die in diesem Moment getroffen werden konnte, denn ganz offensichtlich war jedem klar, dass nur so Aussicht auf Rettung bestand. Doch wie? Kein Mensch konnte sich vorstellen, wie jemand mit einem Messer an seine Gurte gelangen sollte. Ein Teppichklopfer der Luftwaffe näherte sich und setzte zur Landung an. Der Bundesgrenzschutz hatte eine Alouette geschickt, die mit pfeifendem Triebwerk sich die Sache zunächst aus der Distanz betrachtete. Als beide Hubschrauber gelandet waren, trat ein kleiner Dicker auf den Sprunglehrer zu und sagte kryptisch: "Wir brauchen ein langes Seil, dann können wir ihn retten!"
Dem Sprunglehrer war jede Idee willkommen, selbst wenn es sich um eine ganz absurde handelte. Der Dicke war im Verein durch seinen Realitätssinn bekannt, und deshalb war er gespannt auf dessen Vorschlag. "Wie – was hast du vor, Heinz?"
"Wir brauchen zuerst ein kräftiges Seil, vielleicht die Sorte Schleppseil für Segelflugzeuge."
Der dicke Heinz machte kurze‚ körperabgewandte Gesten und Bewegungen mit den Händen, sprach jedoch völlig ruhig, fast schleppend langsam. Dann hob er die rechte Hand, tippte mit seinem Mittelfinger dem Sprunglehrer nachdrücklich auf die Brust und sagte: "Du wirst es machen! Es gibt hier keinen anderen - außer Josef Bachtler, doch der sitzt da oben in der Maschine - der genug Erfahrung dafür mitbringt. Wir werden das Seil an einer Flügelstrebe der Cessna befestigen und dich an seinem anderen Ende. Wir fliegen der Maschine nach, übersteigen sie, worauf du dich am Seil ablässt, mit einem Messer in der Hand. Ich werde die Cessna über die andere Maschine manövrieren und versuchen, dich punktgenau an den Mann zu bringen. Das wird nicht einfach sein, denn du befindest dich genau in den Wirbeln‚ die der Propeller und die Tragflügelströmung verursachen. Aber es gibt keinen anderen Weg!"
Der Sprunglehrer besann sich knapp und willigte ein. Elf Uhr sechsundzwanzig. Jetzt, da sie Hoffnung geschöpft hatten, da das Verfahren feststand, galt es gegen die Uhr zu arbeiten. Es kam Bewegung in die Szenerie: Heinz eilte in die Halle, ließ die Tore aufschieben, das Flugzeug herausziehen und warf den Motor an. Zwei andere machten sich auf die Suche nach dem Schleppseil, entdeckten es bald in einer Ecke des Hangars, nahmen es auf und trugen es zur Maschine.
Der Sprunglehrer war schon an Bord, hatte seinen Fallschirm angelegt und prüfte das Jagdmesser, welches er in der Werkstatt gefunden hatte. Der Pilot befestigte ein Ende des Seils kunstvoll an der linken Flügelstrebe und schob das Seil in die Kabine. Elf Uhr dreißig. Noch dreizehn Minuten bis zum Stillstand des Triebwerks. Der Heinz löste die Bremsen, rollte mit hoher Geschwindigkeit zum Start, kurvte auf die Bahn, setzte im Drehen noch Vollgas und hob nach etwa zweihundert Metern ab. Dann bat er Josef Bachtler in der Pilatus um eine vernünftige Operationshöhe, vielleicht 3000 ft MSL, um nicht unnötig kostbare Zeit und Kraftstoff zu verplempern.
Das wurde sofort akzeptiert.
Mehr und mehr Menschen versammelten sich an der Halle, herbeigelockt durch blaublitzende und schrill tönende Signale. Bald fanden sie nicht mehr ausreichend Platz, verteilten sich daher über das Flugfeld, besetzten die Rollwege und Abstellflächen.
Matussek hatte Mühe zu begreifen, was geschehen war. Zuerst der Sprung ins Bodenlose, dann der erwartete Ruck, das Aufgefangen werden durch die Gurte - alles war eingetreten. Als er sich selber am Schirm hängend entdeckte, dachte er: Gott sei Dank, du lebst noch. Doch fast gleichzeitig realisierte er auch seine Lage, er sah den großen weißen Vogel voraus über sich fliegen, an dessen Schwanz er hing und der ihn hinter sich herschleppte. Es gab kein Entrinnen unter diesen Fittichen, das Flugzeug erschien ihm wie eine übergroße bösartige Glucke, die ihr Küken zu Tode schleift.
Bald spürte er die Kälte in Armen und Beinen, die von dort langsam in den Körper drang. Es gab keine Methode, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Die Auskühlung vollzog sich sehr rasch; Arme und Beine wurden gefühllos und bewegungsunfähig. Wenn er jetzt nicht vor Kälte starb, würde das Ereignis selbst ihn demnächst umbringen. Langsam, wie auf Samtpfötchen, kam Müdigkeit auf. Es war zu spät, um sich aufzulehnen.
Der Boden, weißgefleckt wie das Fell eines Schimmels, verlor an Kontrast und Schärfe. Angst ließ nach und wich Befürchtung. Dann sah er, dass sich ein anderes Flugzeug näherte. Er entdeckte es plötzlich rechts neben sich, während es stieg, höher und höher. Als es seine Höhe überstiegen hatte, fasste er wieder etwas Mut, hatte jedoch Mühe, den Vorgang einzuordnen. Je weiter es ihn überstieg‚ umso schwieriger wurde es, das Geschehen mit den Augen zu verfolgen. Irgendwann verlor er das Interesse und gab sich, wie eine Fliege auf dem Leim, seinem Zustand hin.
Der Dicke zog etwas rechts versetzt über die Sprungmaschine, dann drosselte die Fahrt, so dass er in Formation mit ihr fliegen konnte. Dass er jetzt in der Ausgangsposition sei, um mit der Aktion zu beginnen, sprach er ins Mikrofon, und er bat um ruhige, kalkulierbare Flugbewegungen, welche die Gefahr einer Kollision in der Luft vermindern sollten. Ein Blick auf die Uhr zwang sie zu äußerster Disziplin: Noch acht Minuten.
Der Sprunglehrer hangelte sich am Seil über die Bordwand nach außen, er trug dicke schweinslederne Handschuhe wegen der Reibungswärme. Heinz beugte sich immer wieder weit hinaus, so konnte er den Mann unten am Seil beobachten, sah ihn driften im Wind, sah die Schlinge kleiner und kürzer werden, und dann steckte sich das Seil abrupt auf seine gesamte Länge.
Der Sprunglehrer schwebte nun wie eine fette Spinne am Faden über ihrem Opfer – dann gab er das Zeichen mit der Hand.
Nun würde sich zeigen, ob der Mann in der Kabine mit seinem Vogel vertraut genug war, um seine Außenlast punktgenau an Matussek heranzuführen. Nicht nur das: Allen anderen auch würde er sich offenbaren in diesem Augenblick; es würde sich zeigen, ob sein Handeln nur Anmaßung war, die wenigstens einen das Leben kosten musste. Der Josef Bachtler im Absetzflugzeug hatte es aufgegeben, die Kraftstoffanzeige zu beobachten, denn deren Zeiger war ganz über den Warnbereich hinausgewandert und rührte sich nicht mehr.
Was sollte er machen, wenn sie Matussek nicht losschneiden konnten? Wie sollte er sich verhalten, wenn jetzt plötzlich, was er erwarten musste, der letzte Tropfen Sprit ausgeschöpft war und die Maschine antriebslos nach unten sackte? Dann war der Mann nicht mehr zu retten, denn es gab keine andere Möglichkeit, als zu landen. Er würde ihn, bevor er selber aufsetzen konnte, über den Boden schleifen, und damit wäre er unrettbar verloren.
Während Bachtler die Landschaft nach einer Notlandestelle abkämmte, deren Entfernung der Gleitwinkel seiner Pilatus Porter zulassen musste, beobachtete er zugleich, dass sich viele Menschen am Flugplatz versammelt hatten. Die dichteste Anhäufung gab es um den Kontrollturm und am Hangar. Woher in aller Welt, konnten so viele Menschen in dieser kurzen Zeit gekommen sein? Eine knappe Einschätzung des Aufsetzpunktes ohne Triebwerksleistung ergab, dass er den Flugplatz easy erreichen würde. Auch um den Wind musste er sich keine Sorgen machen, denn der kam mit einer milden Strömung von drei bis fünf kts aus Westen. Was ihn allerdings wirklich beunruhigte, war die Tendenz der vielen Menschen dort unten, sich über den gesamten kleinen Flugplatz zu verteilen. Achthundert Meter Graspiste, ein paar schmale Rollwege, ein alter Hangar und gleich daneben ein Turm aus Stahlrohren, den sie sinnigerweise Funkturm nannten. Nur ein kleiner Vereinsflugplatz, doch die Menge strömte unvermeidlich auf das offene Flugfeld zu, hatte schon wie selbstverständlich die Rollwege okkupiert und war nun im Begriff, auch die Startbahn in Besitz zu nehmen . Einzelne überquerten sie bereits; damit brachen sie den ehernen Codex, wonach dieser Streifen unberührbar ist, weil nur für Start und Landung vorgesehen. Immer mehr Menschen strömten auf den Platz hinaus, mit Autos, Motorrädern, Fahrrädern und zu Fuß; die Meldung über eine Luftnotlage musste sich lauffeuerähnlich von Mund zu Mund weitergesprochen haben. Der Vorgang machte schon durch seine Existenz, durch seine jedermann zugängliche Sichtbarkeit, genügend Reklame für sich selbst. Wäre es Sommer gewesen, hätte sich bald auch ein Eisverkäufer eingefunden, und die Brauerei würde ihre Bier- und Limonadenambulanz losgeschickt haben. Der Flugleiter verließ seinen verglasten Kasten auf dem Funkturm und trat auf die schmale Plattform aus Lochstahlblech. Über Megaphon versuchte er die Menschen vor dem Betreten der Startbahn und ihres Umfeldes abzuhalten. Immer wieder rief er in das Gerät: "Treten Sie zurück! Betreten Sie bitte nicht die Rollwege! Laufen Sie keinesfalls über die Startbahn!"
Vergeblich. Die Menge ignorierte alle Aufforderungen. Sie war entschlossen, sich das Spektakel nicht entgehen zu lassen. Vom Boden aus war nun deutlich zu beobachten, wie ein Punkt sich von dem kleineren Flugzeug löste, worauf es ihm ebenfalls anhing - ein doppeltes Duett am Himmel. Die Flugzeuge beschrieben einen weiten Kreis um den Flugplatz, dicht aneinanderklebend in unheilvoller Symbiose. Fast unmerklich strebte der hinzugekommene Punkt auf den anderen zu, schreckte plötzlich wieder zurück, vereinte sich zum Doppelpunkt, schien für einen Augenblick ein einziger fetter Punkt zu werden, und gerann binnen Zehntelsekunden zum Semikolon.
Tausendstimmiges Raunen überzog das Feld, wenn die Punkte sich annäherten. Und es schwoll, einem Orchester gleich, in konzertantem Gleichklang immer höher; verdichtete sich ebenso, wie sich die Punkte verdichteten, flaute ab, wenn die Punkte sich voneinander entfernten.
Matussek bemerkte den Schatten links über sich und war sofort hellwach. Und dann sah er auch das matte Aufblitzen der stählernen Klinge. Schemen-haft unklar schwebte die Gestalt an ihm vorüber, mit ausgestreckten Armen ihm zugewandt, das Messer auf ihn gerichtet, welches nach seinem Leben zu trachten schien. In grotesker Verzerrung erschien ihm diese Figur, die sich im Gegenlicht auflöste wie die überdimensionale Vergrößerung eines Schnappschusses. Er hob den Kopf, um den Schatten besser beobachten zu können, doch das fiel ihm unsagbar schwer. Die Kälte hatte sich seiner bemächtigt‚ steckte in Händen und Füßen, Armen und Beinen, bohrte sich in sein Gesicht, nagte an seinem Bauchspeck. Wie werde ich hier wieder herauskommen? fragte er sich mutlos; doch eigenartig - es beunruhigte ihn nicht sonderlich. Die Luftströmung, die unablässig ihn angreifende Strömung störte ihn schon, trieb ihm zerstiebende Tränenbäche übers Gesicht. Er schloss die Augen.
Da! Was war das? Etwas hatte ihn berührt! Er blickte auf, wendete den Kopf, sah sich um. Ach ja, da war die Gestalt wieder, diesmal knapp hinter ihm. Was ist denn? Was will der nur? Muss er denn so bedrohlich mit dem Messer herumfuchteln? Ich werde ihm sagen müssen, dass ich es nicht leiden kann, wenn jemand mit einem Messer hinter meinem Rücken hantiert. Er versuchte sich umzudrehen, doch da war der Mann verschwunden. Augenblicke später erschien der Schatten einige Meter unter ihm, stieg wieder zu ihm hoch und verschwand nach hinten. Merkwürdig, dieses Verhalten. Der soll doch aufhören, mit den Armen so zu rudern, wenn er ein Messer in den Händen hält. Urplötzlich fühlte er sich fest von der Gestalt umklammert. "Bist du klar?" schrie sie gegen den Fluglärm und den Fahrtwind an. Und wieder: "Ist alles in Ordnung mit dir?"
Matussek brüllte ebenfalls, dass er wie abgestorben sei - und was er mit ihm vorhabe. Doch dann fiel ihm ein, dass der Mann ein Messer mit sich führte; er hatte es genau beobachtet, eines mit einer langen, offensichtlich scharfen Klinge.
"Hand an den Notschirm-Auslöser!" befahl die Stimme. "Nach drei Sekunden ziehen! Du hast drei Sekunden Zeit!"
Matussek wollte noch nicken, doch sein Kopf wurde zurückgerissen, als er durchsackte. Wenige Augenblicke später begann die Propellerturbine ungleichmäßig zu laufen und versagte schließlich den Dienst. Der Propeller drehte antriebslos im Wind wie die Flügel einer Windmühle.
Unten auf dem Feld brach ein Stöhnen aus Hunderten von Kehlen. Doch das war es noch nicht - noch hatte er sein Leben nicht zurückgewonnen, erst musste sich der Schirm öffnen. Der schwarze Punkt löste sich, einmal losgetrennt, sehr schnell und immer schneller werdend vom Flugzeug, gewann zusehends an Kontur, ließ Arme und Beine erkennen - fiel tiefer und tiefer. Hunderte von Augenpaaren beobachteten den Fall des Punktes.
Jedenfalls war Schneider bei Verstand in den wenigen Sekunden, die nach dem Losschneiden gefolgt waren, denn nun glitt er sanft wie ein Rauschgoldengel vom winterlichen Himmel und fiel mitten hinein in die Erwartungsschwangeren. Sie stürmten auf ihn ein, wollten wissen, ob er sich auch nicht verletzt habe, hoben ihn auf ihre Schultern hoch wie einen olympischen Sieger. Als sie ihn vom Schirm befreit hatten, trugen sie ihn lamentierend und debattierend, einem Siegesrausch ähnlich, zum Hallenvorfeld, wo die Ambulanz wartete.
Diese Schauspieler. Sie hätten auch die andere Rolle zu spielen gewusst. Sie hätten sich in dieser Stunde ebenso gut betroffen fühlen können von der "Unausweichlichkeit des Schicksals". Waren sie nicht gekommen, um ihre Erwartungen an das Schreckliche in zu erproben?
Oben hatte sich ein weiterer Schirm entfaltet, denn der Retter hatte sich selber in Sicherheit gebracht. Das Cessna kurvte weit außerhalb der Platzgrenze‚ während sich das andere Flugzeug in beständigem Sinkflug dem Flugfeld näherte. Der Mann vom Turm nahm das Megaphon zur Hand und schrie hinein: "Achtung, Achtung! Notlage! Verlassen Sie sofort die Startbahn! In wenigen Augenblicken landet ein Flugzeug mit stehendem Motor! Machen Sie sofort die Piste frei - das Flugzeug muss notlanden!"
Die Stimme aus dem Megaphon bewirkte lediglich, dass die vielen Schaulustigen in ihrer Bewegung innehielten. Das verschaffte ihnen Gelegenheit, sich umzublicken, denn nur zu schnell war ihnen das geräusch- und antriebslose Flugzeug aus den Augen geraten. Da entdeckten sie es in geringer Höhe an der östlichen Platzgrenze.
Der Flugzeugführer nahm sich vor, dem Unausweichlichen so konzentriert wie möglich zu begegnen. Das wünschte er sich jedenfalls für die nächsten paar Augenblicke. Er rief nach hinten, dass sie die Gurte ganz festziehen und kurz vor dem Aufsetzen den Kopf in den Armen bergen sollten. Dann schaltete er die elektrischen Systeme ab, um einem Kurzschluss in der Anlage vorzubeugen. Den Aufsetzpunkt hatte er schon ausgesucht, als er sah, dass mehr und mehr Menschen auf das Feld strömten, zu einer Zeit also, als das Triebwerk noch lief. Diese Stelle auf dem Boden nahm er jetzt ins Visier, und es gab nichts, was seine Aufmerksamkeit davon ablenken konnte. Sie lag etwas außerhalb des Flugplatzes, vielleicht fünfhundert Meter in Verlängerung der Bahn, geringfügig nach links versetzt.
Er überprüfte immer wieder, während das ungewohnte Rauschen des Fahrtwindes zu vernehmen war, die Höhe in Bezug zur Landestelle. Das Flugzeug glitt an den Platz heran, überflog mit Leichtigkeit die vielen Menschen und erreichte knapp die ausgewählte Landestelle, wo er es in ein unerwartet ebenes Wiesenfeld hineinwarf und nach zweihundert Metern zum Stillstand brachte.
Armin Schneider hob seinen Kopf aus dem Schutz der Arme und sah sich um. Die Mitspringer starrten aus farblosen Gesichtern einander an. Von irgendwoher kam ein Geräusch, das ihn an das Herausspringen einer Blechbeule erinnerte: Ploing! Schneider wischte seine feuchten Handinnenseiten an den Hosenbeinen ab. Der Flugzeugführer schnaufte tief und betätigte ein paar Schalter, dann löste er seine Gurte und erhob sich von seinem Sitz. „Wollt ihr euch jetzt ewig an euren Plätzen festklammern?“ bemerkte er im Vorbeilaufen, worauf er die geöffnete Absprungtür ansteuerte und sich über den Tritt auf den Grasboden sinken ließ.
Schneider versuchte die letzte halbe Stunde nach ihren Ereignissen zu rekapitulieren: Er hatte sich von Matussek überreden lassen, an einem Absprung (einmalig) teilzunehmen. Darauf bekam er ein paar Skrupel, als der Zeitpunkt näher rückte. Schließlich das Argument mit der Statistik. Objektivität gegen Zähneklappern. Nach dem Start hatte er sich gut gefühlt, er wartete auf das Zeichen zum Absprung – bis Kugele mit schreckverzerrtem Gesicht nach draußen deutete, wo Matussek ein paar Sekunden zuvor verschwunden war. Es folgte die quälend lange Warterei auf Entscheidung und Hilfe. Und als es dann endlich soweit war, setzte das Triebwerk aus.
Niemals mehr würde er sich in eine solche Situation begeben, hatte er sich geschworen, wenn er aus dieser Kiste jemals unversehrt herauskommen sollte. Die verhinderten Sprung-Eleven kletterten ebenfalls von Bord und fielen sich unter Glückwünschen und Freudentränen in die Arme. Josef Bachtler und der Ausbilder inspizierten mit Sorgfalt die Hauptfahrwerke der Pilatus-Porter, prüften Spornrad und Bereifung, untersuchten auch die Unterseite des Höhenleitwerks. Plötzlich wurden sie von lautem Rufen und Getrappel aus ihrer Tätigkeit gerissen:
Unter Triumphgeheul hatte die Speerspitze einen Weidezaun überwunden und brach schon über das Feld.