Читать книгу Die Stunde des Geschichtenerzählers - Peter Schmidt - Страница 4

Kapitel 2

Оглавление

Als sie erwacht war, fiel ihr der Zettel ein. Sie lag noch eine Weile in ihrem zerknautschten Kattunkleid neben dem zur Seite geschlagenen Oberbett da, nur das weiße Laken unter sich, auf der Seite und gekrümmt. Sie hatte schlecht geträumt und dachte:

Mein Gott, ich liege hier wie ein hilfloser Embryo! Was soll erst werden, wenn es richtig losgeht – wenn ich jetzt schon verkrampft bin und an Alpträumen leide?

Die Sonne stand ins Zimmer, das feuchte Gewölk vom Vortage war abgezogen und unvermittelt wurde sie sich der Schwüle bewusst. Sie blickte matt über die Bettkante. Im einfallenden Licht wirbelte mikroskopisch feiner Staub – winzige, glitzernde Pünktchen, rastlos, unaufhörlich – und dabei doch auf der Stelle tretend – der tote Punkt in der Bewegung der Dinge, noch kein wirklicher Endpunkt, doch am Ende vergleichbar.

Plötzlich sah sie Karlsbecks Gesicht vor sich und dann war es, als blicke sie durch seine Augen – oder stellte sie sich das nur vor?

War es denn nicht möglich, dass er wie sie dalag und über die Bettkante auf den wirbelnden Staub in das Sonnenlicht starrte …?

Sie sah wie er den Stillstand, noch nicht den endgültigen Niedergang, aber die Totenruhe, in der sich die Dinge zwar bewegten, doch ohne wirklich etwas zu bewegen.

Ein alter Mann, der alles hinter sich hatte und gewiss mit Resignation zurückblickte – und der Ernüchterung, sehen zu müssen, dass ein Leben nichts zu ändern vermocht hatte, weder die Welt noch seinen eigenen jämmerlichen Zustand.

Zu mehr als diesem morschen Gehöft hatte es nicht gelangt. Es war nicht der Mühe wert gewesen.

Die Luft flirrte vor Aktivitäten, aber sie sah es durch seine Augen – gelangweilt, überaus gelangweilt. Es schwirrte wie Kinderlärm über einem Schulhof, eine Wolke von Geschwätz, aber nur als fernes Gesumme, entäußert und nutzlos, überflüssig wie der quirlende Staub.

Was ist mit mir? dachte sie benommen und versuchte den Eindruck abzuschütteln. Sie hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund. Ich habe schlecht geträumt. Ich bin noch ein wenig verschlafen; die lange Flugreise ... der Klimawechsel.

Sie hatte von einer braunweißen Kuh geträumt, die hoch auf einem weit entfernten Wiesenhügel stand und fraß und fraß: ihr schwerer Körper mit den dünnen Beinen hob sich gegen den helleren Horizont ab. Ein Bild der Ruhe und Fruchtbarkeit. Alles war voller Gras und Klee, ein grünes Meer. Warum nicht wie diese Kuh sein?

Danach kam der Albtraum. Wieder schüttelte sie sich und streckte ihre Hand zur Kommode nach dem Zettel aus, den ihr Karlsbeck gegeben hatte.

Die erste Anschrift war ein Mann namens Brodowsky, er vermietete Privatzimmer an Sommerfrischler. Sie setzte sich auf die Bettkante und blickte sich nach ihrem Gepäck um.

Dann duschte sie in dem Etagenbad neben der Toilette, das sich am Ende des Korridors befand.

Sie legte ein frisches Kleid auf das Bett und steckte ihr langes Haar nach dem Kämmen mit Spangen hoch.

«Es wird nicht so einfach sein, wie ich anfangs geglaubt habe», murmelte sie, eine Haarspange im Mund bewegend.

Noch auf Mayotte war sie voller Optimismus gewesen. Karlsbeck spöttelte über Burundi. Davon darf ich mich nicht täuschen lassen, dachte sie. Wie man ihr gesagt hatte, war es seine Art, über alles und jedes sarkastisch oder zynisch zu reden – auch über Dinge, die ihm etwas bedeuteten.

Es verschaffte ihm wohl ein Gefühl der Überlegenheit. Wenn man Distanz bewahrte und alles ins Lächerliche zog, lief man nie Gefahr, eines Tages der Naivität bezichtigt zu werden.

Sie nahm ihren Umhängebeutel und die Reisetasche und zahlte in der Gaststube. Sie war nicht zum Essen aufgelegt, obwohl man ihr ein Frühstück anbot. Wenn sie nervös oder unpässlich war, verging ihr der Appetit.

Es standen drei Adressen auf dem Zettel

Brodowsky war ein gutmütig dreinblickender dicklicher Mann. Er trug Shorts und hohe weiße Turnschuhe, was ihm ein etwas komisches Aussehen verlieh. Seine hellen Arme und haarlosen weißen Beine standen in merkwürdig lächerlichem Gegensatz zu seinem braungebrannten Gesicht.

Er bedauerte, ihr kein Zimmer anbieten zu können. Leider habe er das Haus voller Gäste – Franzosen und Belgier – da übers Wochenende in der benachbarten Stadt ein internationales Schwimmturnier sei. Die Hotels und Pensionen dort seien restlos ausgebucht. Er nannte ihr eine der beiden Adressen auf dem Zettel.

Sie arbeiten zusammen und schieben sich gegenseitig die Gäste zu, dachte sie.

«Herr Kuben vermietet allerdings nur zwei Zimmer, eins davon ist manchmal für einen Freund reserviert, der sich zumeist in Costa Rica aufhält, seit er hier vor einiger Zeit in berufliche Schwierigkeiten geriet.» Er strich sich über die weißen Arme. «Am Ortsausgang rechts, hinter der Tankstelle. Vielleicht haben Sie Glück. Das Haus in den Obstgärten. Es ist nicht zu verfehlen.»

Sie nahm ihre Tasche und ging langsam die Straße zwischen der Tankstelle und den letzten Häusern des Ortes entlang. Es war ein flaches Land, eine riesige Ebene bis zum Horizont, grün und fruchtbar. Dort am Horizont musste irgendwo das Meer liegen. Der Himmel breitete sich heute blau – mit nur wenigen Dunststreifen – über den Weiden und Äckern aus.

Die Pappeln standen ein wenig schräg, der vorherrschenden Windrichtung zuneigend. Es war, als spüre man bereits etwas von der jodhaltigen Luft des Meeres. Schwarz-weiße Milchkühe standen wiederkäuend in einiger Entfernung.

Ich muss diese braunweiß gefleckte Kuh irgendwo während der Bahnfahrt vom Flughafen gesehen haben, grübelte sie. Wohl mehr oder weniger in Gedanken versunken, unbewusst. Hier gab es keine hohen Wiesenhügel. Im Traum hat sich dann das Bild zurückgemeldet, sozusagen, um sein Recht geltend zu machen und gebührend beachtet zu werden in seiner verführerischen Ruhe.

Das allein ist der Grund für die kleine Verdrängung – und warum es mich so betroffen gemacht hat, beruhigte sie sich.

Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt schon überwunden. An den weit auseinander stehenden Obstbäumen, zumeist niedrigstämmigen Busch- und Spindelbäumen und auf dem schmalen Sandweg, der sich zwischen ihnen hindurchschlängelte, gab es kaum Schatten.

Kubens Haus war ein seegrün gestrichener, glattverputzter Bau ohne Balkon, einstöckig, mit rotem Ziegeldach und einem Anbau, dessen Außenwände aus Teerpappe bestanden. Im Parterrefenster am Eingang befand sich ein Schild: Zimmer mit Frühstück. Neben der Schrift war die schwarze Silhouette eines sitzenden Anglers abgebildet, an dessen durch die Luft wirbelnder Schnur ein Fisch zappelte, der kaum weniger groß war als der angelnde Mann.

Darunter stand, etwas kleiner, als handschriftlicher Zusatz: Nachhilfestunden in Geschichte, Mathematik und Englisch nach Vereinbarung.

Sie musste nur einmal läuten, es wurde gleich geöffnet. Der ältere Mann im Flur sah bleich aus und wirkte ein wenig vertrottelt – trotz seines arrogant lächelnden Mundes.

Gott, wenn sie alle so sind ... dachte sie und starrte auf seine leuchtend blauen Wollsocken, die in offenen Hausschuhen steckten.

Er räusperte sich.

«Bitte entschuldigen Sie …», sagte sie, es war ihr peinlich, seine Füße so angestarrt zu haben. «Ich bin …»

«Ja?»

Dann sah sie in sein Gesicht, sein Kopf war ungewöhnlich klein.

«Ich … man hat mir Ihre Adresse .. .»

Sie hielt linkisch den Zettel hoch, als benötige sie eine Referenz für das Zimmer.

«Von Herrn Karlsbeck …»

«Zum Übernachten?», fragte er. «Sie haben Glück. Es ist noch ein Zimmer frei. Allerdings nur für zwei Tage.»

«Ich denke, ich nehme es», nickte sie und stellte ihre Tasche im Treppenhaus ab, hob sie dann aber wieder auf.

«Sie wollen es sich nicht erst ansehen?»

«Ich werde es sofort bezahlen», sagte sie entschlossen.

«Zahlen Sie, wenn Sie abreisen. – Ist das Ihr ganzes Gepäck?» Er versuchte, ihr die Tasche abzunehmen.

«Danke, es geht schon.»

«Wie Sie wollen. Das Zimmer ist am Ende des Korridors, im ersten Stock.»

Er stand da und blickte ihr gedankenverloren nach, während sie die Treppe hinaufging.

Das Zimmer war hübsch! Mit fast neuen Möbeln aus hellem Holz und dem Ausblick in die Obstplantage. Sie setzte nur ihr Gepäck ab. Beim Hinausgehen sah sie durch die durchbrochene Wand des Korridors, dass Kuben im Anbau weitere Fremdenzimmer einrichtete.

Neben den Türen standen, noch in Kartons verpackt, neue Möbel, einige waren bereits geöffnet. Obwohl es schon kurz vor zwei war, verspürte sie keinen Appetit, sie machte sich gleich auf den Weg zu Karlsbecks Gehöft. Im Ort blickte sie sich mehrmals neugierig um, es schien ihr aber niemand zu folgen.

Vielleicht will er mir nur einen Bären aufbinden mit seinen Agenten im Ruhestand! dachte sie. Das würde ich ihm zutrauen. Während der Zeit, in der er im Ingenieurbüro des Staudamms gearbeitet hatte, war er wohl nie als Agent verdächtigt worden. Jedenfalls nicht zu Anfang.

Anders als den Engländern, Franzosen oder Russen bedeutete den Deutschen Mayotte nichts, sie vertraten dort keinerlei Interessen.

Der Gedanke, die Engländer könnten Karlsbeck auf dem Wege ihrer Zusammenarbeit mit den westdeutschen Geheimdiensten gerade darum auf Mayotte eingesetzt haben, weil er unverdächtig wirkte, schien lange Zeit niemand gekommen zu sein.

Karlsbeck trat unvermittelt ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, als die Zentralregierung von Groß-Komoro zwei ausgemusterte französische Kanonenboote vor Mayotte auffahren ließ, um den abgefallenen Inselstaat zu unterwerfen. Seitdem eine neue Befragung das Memorandum über den Anschluss an Frankreich – ob nun, wie gelegentlich behauptet wurde, durch Burundis Anhänger gefälscht oder nicht – für «außer Kraft gesetzt» erklärt hatte, betrieb Groß-Komoro nur um so nachdrücklicher die Heimführung ins Reich.

Ein schwarzes Kapitel ihrer kurzen Geschichte als «Seemacht», denn Karlsbeck galt schon damals als ein ausgezeichneter Sprengstoffexperte.

Er ging mit Nitrogelatine um wie der Bildhauer mit dem Ton, Kenntnisse, die er sich im Zweiten Weltkrieg angeeignet hatte.

Während des russischen Vormarsches im Januar 1945 war er für die Sprengung einiger Brücken östlich der Oder verantwortlich gewesen. Später setzte er seine Kenntnisse beim Bau des Staudamms ein.

Für Burundi ein Glücksfall: Er ließ mit Karlsbecks Hilfe den Hafen von Mamutzu verminen. Groß-Komoros Kanonenboote fuhren ein, ohne dass ein Schuss fiel und als sie sich weigerten zu kapitulieren, sprengten seine Leute sie durch Fernzündung der Minen in die Luft.

Dieser Sieg verschaffte Karlsbeck für lange Zeit, wenn auch nicht für immer, den Status eines Nationalhelden. Womöglich würde man ihm im Hafen ein Denkmal gesetzt haben, hätte nicht der Nationalstolz der Inselbewohner es verboten, seinem Land, das wie Großbritannien und Frankreich weiße Kolonialmacht gewesen war, ein solches Privileg einzuräumen.

Sie blieb vor dem Gehöft stehen. Jetzt, in der hellen Nachmittagssonne, war von der morbiden, ja bedrohlichen Aura, die es in der Dämmerung umgeben hatte, kaum noch etwas zu spüren. Nur die blinden grauen Scheibchen im oberen Stockwerk wären den abergläubischen Komoranern (fast alle waren schon aus Tradition davon überzeugt, dass sie über das Zweite Gesicht verfügten) immer für eine düstere Prophezeiung gut gewesen. Das Gesicht eines Hauses war für sie seine nach außen gekehrte Seele.

Diesmal hob sie den Türklopfer nur mit zwei spitzen Fingern an und ließ ihn gegen die Metallplatte schlagen.

Bastard, verdammter …! fluchte Karlsbeck und starrte – besorgt blinzelnd, aber auch ein wenig amüsiert – durch die Scheiben. Schließlich öffnete er das Fenster im ersten Stock und beugte sich hinaus. Wo treibt er sich nur herum …?

Er sah schräg hinüber zur anderen Seite des Flusses: dort bewegte sich zwischen den Sträuchern und dem hohen Gras der Böschung ein schmuddelig grauer Punkt.

Obwohl Karlsbecks Augen im Alter kaum nachgelassen hatten und noch immer erstaunlich scharf waren, konnte er nicht erkennen, ob es Timon war. Seit vielen Monaten pflegte er sich nur noch zu Hause einzufinden, wenn er völlig ausgehungert oder von anderen Hunden gebissen worden war oder wenn ihn ein Bauer mit der Mistgabel verjagt hatte, weil er wie ein hungriger Fuchs um die Hühnerställe strich – ein großer weißer Hirtenhund, der auf dem Fußboden liegend eher einem langwollenen Bettvorleger als einem Rassetier glich.

Sein krauseliges weißes Fell hing so dicht über den dunklen Knopfaugen, dass Karlsbeck sich oft gefragt hatte, wieso er überhaupt etwas durch die Strähnen sah.

Es hinderte ihn jedenfalls nicht, für Wochen als verschollen zu gelten.

Karlsbeck vermutete, dass er auf seinen Irrwegen sogar die holländische Grenze überquerte.

Er ist ein noch größerer Streuner als ich …

Nicht einmal sein Alter und ein gelegentlich auftretendes Hüftleiden hatten ihn dazu bringen können, mehr als einmal im Monat verlaust und verdreckt im Haus zu erscheinen, mit der typischen Drehbewegung, als versuche er sich in den Schwanz zu beißen, auf der Decke am Kamin Platz zu nehmen und sich, die Schnauze behaglich auf den Vorderpfoten, sein Altenmahl reichen zu lassen, das zugleich sein Lieblingsgericht war: Pansen, kleinere Knochen und mit Ei angedickte Milch.

Während Karlsbeck den grauen Punkt am anderen Ufer im Auge behielt, sah er das Mädchen durch die Hofeinfahrt kommen.

Merkwürdig – dachte er, wobei er ihre schlanke Gestalt betrachtete, die von oben sogar ein wenig mager wirkte –‚ er hatte eine Schwäche für diesen dunkelhäutigen Menschenschlag.

Nicht wegen des üblichen Vergnügens am exotischen Firlefanz, auch nicht, weil sich jeder Weiße etwas darauf zugute hielt, wenigstens einmal im Leben eine Negerin gehabt zu haben, sondern wegen seiner Gradlinigkeit und seines Charmes. An den Komoranern schätzte er außerdem ihren Sinn dafür, wie mehrdeutig die Wirklichkeit war und wie wenig sie sich von den Geschichten trennen ließ, die man darüber erzählte.

Der Charme der Weißen zwischen Washington, London und Moskau, mit denen er sich so lange Zeit herumgeschlagen hatte, war bestenfalls der von Charons, Fährmännern in der Unterwelt, die Verstorbene über den Acheron zum Reich des Hades übersetzten und deren Lächeln sich nach dem Charonsgeld bestimmte, das ihre Kunden unter der Zunge trugen. Sie schätzten ebenfalls Geschichten, sie benutzten sie – aber nicht aus Skepsis, sondern weil sie sich einen Profit davon versprachen.

Schwarze Seele, weiße Haut – All Uluguru, Burundis politischer Gegner nach dem Tode Malims, hatte diese Auffassung schon vor langer Zeit vertreten, trotz seiner weißen Vorbilder, und ihn davon zu überzeugen versucht, dass auch die Umkehrung galt: «Weiße Seele, schwarze Haut» ...

Er prophezeite, es werde bald das Zeitalter des schwarzen Mannes anbrechen, weil die weiße Rasse genug Unheil auf diesem Planeten angerichtet habe.

Ob nun des schwarzen, gelben oder roten Mannes: Womöglich war sogar etwas dran an der Prophezeiung.

Wenn es Karlsbeck auch gleichgültig sein konnte, denn er rechnete sich nicht mehr viele Vorteile aus, weder «die Gnade des Herrn» noch mehr als das gelegentliche Vergnügen an dem sarkastischen Urteil eines alten Kerls, der angesichts der lärmenden Verrücktheiten um ihn her gewiss sein konnte, dass alles vergeblich sein würde. Was er begehrte, war ein schmerzloser Tod und eine saubere Feuerbestattung.

Sein Instinkt sagte ihm aber, dass sich hinter ihrer gleichgültigen Fassade etwas Unberechenbares verbarg.

Durch seine Arbeit hatte er zu lange in die Suppentöpfe fremder Absichten und Begierden blicken und zu viel Jähzorn und Engstirnigkeiten hinnehmen müssen, um nicht zu bemerken, dass sie ein Biest war, was ihren Fanatismus anbelangte. Zugegeben: die Menschen bedeuteten ihm ohnehin nichts, er schätzte sie so wenig wie Timon, der möglichst einen großen Bogen um jeden Fremden machte.

Ein Blick in die meisten Pupillen genügte, um darin Unaufrichtigkeit, Eigensucht und – wenn sie keinen anderen Ausweg sahen – auch Hinterhältigkeiten zu entdecken (er nahm sich davon nicht aus), oder jene Mischung aus Lust und Bequemlichkeit, die den unwiderstehlichen Reiz der Bösartigkeit ausmachte, den man sich selbst gegenüber höchstens in einem Anfall von Ehrlichkeit eingestand.

Sie ist fanatisch, ängstlich und verkrampft, da bin ich ziemlich sicher, dachte er. Ein Biest, was die Durchsetzung ihrer Überzeugungen anbelangte, aber nicht unbedingt bösartig. Habe mich selten getäuscht …

Vielleicht liegt es daran, dass sie nur zu lange keinen Kerl gehabt hat. An und für sich war sie eher ein weicher Typ und ihre Verkrampftheit würde schon verschwinden, wenn der richtige Bursche sie in die Finger bekam. Dann war sie womöglich eine Klette, die man kaum noch loswurde. Vorsicht! warnte er sich. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass sie mit ganzem Herzen für Burundi arbeitet, diesen Gauner.

Dann ist sie schon eher in ihre Arbeit verknallt – genau das ist es, nickte er. Sie war der Typ, der sich in seine Arbeit flüchtete.

«Hier oben», rief er aus dem Fenster. «Warten Sie einen Augenblick, bis ich heruntergekommen bin.»

«Ich werde Ihnen meine alte Fotosammlung zeigen – nicht meine Briefmarken», meinte er anzüglich grinsend, während sie hinaufgingen.

«Wollen wir nicht lieber arbeiten?», fragte sie.

«Das hat Zeit. Wann ist Burundis Wahl?»

«Ende Februar.»

«Na also. Noch sechs Monate Zeit, um sich Ihren historischen Lobgesang anzuhören.»

«Wenn Sie meinen …»

«Ich wette, Sie haben nie ein Foto des Staudamms gesehen? Er hätte Mayottes Energie- und Bewässerungsprobleme mit einem Schlag gelöst. Aber was noch wichtiger gewesen wäre: Er hätte die Wasserfluten während der Regenzeit auffangen können, um sie erst in der Trockenzeit abzuleiten, seine Kapazität reichte dazu aus. Keine Überschwemmungen mehr, verstehen Sie? Keine aufgeweichten Wege in den Bergen. Der Burundi-Staudamm hätte das alles Vergangenheit werden lassen.»

Sie befanden sich in einem kleinen, mit alten Sachen vollgestopften Zimmer, dessen Fenster lange Zeit nicht geöffnet worden waren.

Es roch stickig. Auf den Möbeln lag dicker Staub. Die grelle Sonne stand schräg in das Zimmer und ließ seine Konturen über-deutlich hervortreten, doch sie hauchte ihnen kein Leben ein.

Es war, als konserviere sie die Gegenstände eher, als beleuchte sie nur den Stillstand (als hebe sie ihn plötzlich in das Bewusstsein wie das Bild eines Toten, dem man in der Aufbahrungshalle gegenübersteht) – als sei dies alles, ebenso wie auch das übrige Haus mit seinem Bewohner, den alten Möbeln und knisternden Wänden und Treppen, wenn es von der Sonne austrocknete, der konservierte Rest eines präparierten Insekts – und Karlsbeck fühlte sich auch so …

Er entsann sich nicht, wann er zum letzten Mal hier oben gewesen war. Die Tür des Vitrinenschranks knarrte in den Angeln, als er sie öffnete und in einem Stapel alter Fotos kramte, die mit einer braunen Schnur zusammengebunden waren. Sie ließen sich auf dem einzigen zweisitzigen Sofa nieder (wie ein Paar, das sich seine Schüchternheit nur durch die erzwungene Nähe nehmen ließ, dachte er amüsiert) und er breitete die Fotos auf seinen Knien aus.

«Dies hier müsste ungefähr die Stelle sein, an der Malim sich mit dem Damm in die Luft gesprengt hat, nicht wahr?», fragte Diana. Sie zeigte auf eine nischenartige, von Säulen eingefasste Vertiefung im oberen Drittel der Staumauer.

Weiter unten befanden sich die Austrittsöffnungen der Wasserturbinen.

«Burundis Standbild», nickte er. «Oder genauer, die Nische, in der es aufgestellt werden sollte, um niemanden darüber in Zweifel zu lassen, wem dieses größte Bauprojekt der Inseln im westlichen Teil des Indischen Ozeans zu verdanken gewesen wäre.»

Er lachte …

«Man kann nicht leugnen, dass es seine Idee war, dass er die Mittel beschaffte und den Plan durchsetzte», sagte sie. «Es wäre ungerecht, das abstreiten zu wollen.»

«Bringen Sie‘s in Ihrer Arbeit unter. Wir wollen doch nicht die historische Wahrheit verfälschen, oder?»

Diana beugte sich, ohne auf seinen Spott einzugehen, über die Fotos. Es war auch eines darunter, das Burundis Skulptur in verschiedenen Stadien seiner Bearbeitung zeigte, eine Montage aus vier Aufnahmen: vom roh behauenen Stein bis zum polierten, mit Sockel versehenen Standbild aus mattglänzendem, schwarzem Vulkanstein.

Es war eine Haltung, die, obwohl in Stein erstarrt, doch die ganze Kraft und Bewegung eines energiegeladenen Politikers und Landesvaters zeigte. Sein rechtes Bein war vorgeschoben, der eine Arm im Lauf angewinkelt, der andere jedoch (wie um Kraftreserven, Ruhe und innere Übersicht zu bezeugen) hing unbewegt herab.

Sein jungenhaftes, feist-welliges tiefschwarzes Negergesicht gab allerdings wenig her für ein Porträt. Um den Eindruck der Konturlosigkeit zu vermeiden, trug er gewöhnlich eine Goldbrille mit dünnem Rahmen, die seinem Gesicht eine – wenn auch nur aufgesetzte – Zerbrechlichkeit und Intellektualität verlieh.

Sein Haar war glatt gelegt, ohne die übliche Negerkrause. Seine Drahtigkeit (wenn man ihn erlebte, sah man sofort, dass er trainiert war) ließ ihn bei Frauen ebenso gut ankommen wie bei den schwarzen Homosexuellen der Insel, die ihn, wohl zu Unrecht, insgeheim wegen seines gepflegten Äußeren und seines ein wenig weibisch anmutenden Hangs, sich modisch zu kleiden, für ihresgleichen hielten.

Das alles war dem Steinbildnis nicht anzusehen. Karlsbeck glaubte aber in ihrem gedankenverlorenen Blick zu erkennen, dass sie sich daran erinnerte – und das Bild mit ihrer Erinnerung in Einklang zu bringen versuchte. Was ein Unding war, da es in seinem Pathos und der Aura von Heroismus, die es umgab, kaum diesem windigen Negerpolitiker glich.

Sie hat nichts von dem säuerlichen Geruch mancher Negerweiber, dachte er. Bei meiner scharfen Nase, keine Spur, nicht einmal, wenn sie wie jetzt den Arm hob und ihr dunkles Haar von den Ohren zurückstrich!

Genau wie Marie …

Dieser Geruch war es gewesen, der ihn bei den Prostituierten in Moroni oder Daressalam immer abgestoßen und in die Arme jener Lehrerin getrieben hatte.

An Marie hatte ihn eigentlich nur ihr Beruf gestört: Er mochte keine Lehrerinnen – jedenfalls keine, die mehr als den Grundschulbedarf von Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichteten. Denn alles was man darüber hinaus sagen konnte, war Unfug und hatte der Welt nichts als Mord und Totschlag eingebracht (zumindest hatte es sie nicht verhindern können). Eine unpopuläre Meinung, zugegeben, und gewöhnlich löste sie bei den Bildungsphilistern auch Proteststürme aus.

Das rang ihm nicht mehr als ein amüsiertes Lächeln ab!

Er glaubte, genug gesehen zu haben, um einschätzen zu können, wer die eigentlichen Ignoranten waren. Ein Kerl wie der Engländer Wirdell auf dem Staudamm konnte die ganze griechische und römische Mythologie auswendig dahersagen und hätte doch um ein Haar sein schwarzes Mädchen im Suff mit einem abgeschlagenen Flaschenhals umgebracht – man erzählte, dass Burundis Polizisten ihn mit der Scherbe in der erhobenen Hand überwältigt hatten, während er die altgriechische Fassung von Euripides‘ Medea rezitierte, Medea, die ein Sinnbild glühender Rachlust war.

«Was wissen Sie von dem Damm?», fragte er.

«Sicher nicht genug. Vor allem, dass er eine bedeutende Rolle in Burundis Politik spielte …»

«Bedeutende Rolle, ha ha. Er war sein Aushängeschild, hinter dem er die üblichen Machenschaften der Politiker, zumal in Entwicklungsländern, versteckte. Sie können es auch einen Mantel nennen, der alles das zudecken sollte, was man ihm – im allgemeinen wohl zu Recht – vorwarf nämlich eine der altbekannten Scheindemokratien aufzubauen, eine demokratische Fassade, hinter der Geschäft, Macht und Ruhm – also das gewöhnliche unausrottbare Dreigespann – ihr Unwesen trieben.»

«Sind Sie – etwa ein Moralist?» Sie musterte ihn überrascht.

«Ob ich glaube, die Welt wäre mit der Gesinnung der Bergpredigt auch nur einen Deut besser?»

Er schwieg. Dianas Blick forschte in seinem Gesicht. Sie würde untergehen in Langeweile … dachte er. Schließlich war es die Schlange im Paradies gewesen, die Adam und Eva von ihrer Langeweile erlöst hatte.

«Schon möglich», sagte er nach einer Pause.

«Das klingt nicht sehr überzeugt», meinte sie.

«Ehrlich gesagt, nein.»

«Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.» Sie schüttelte den Kopf.

«Wenn Sie etwas anderes glauben, ich meine, falls Sie der Überzeugung sind, das alles» – er strich mit der gespreizten Hand durch den Raum – «wäre mehr als ein gewaltiger Irrläufer der Natur, ein Versuch, der sich selbst in die Luft sprengt wie Malim mit der Staumauer – und zu Recht, weiß Gott: Ich empfinde kein Bedauern dabei, es gibt keinen unsichtbaren göttlichen Plan dahinter, keine Aussicht auf Besserung, auch keine Gerechtigkeit –‚ in dem Fall dürften Sie nicht für Burundi arbeiten.»

«Er ist nicht so schlecht, wie seine Gegner behaupten. Sie müssten das selbst am besten wisse», sagte sie rasch und wandte sich wieder den Bildern zu. «Wenn diese Staumauer ein Mantel war, dann einer, der nicht nur Gemeinheiten zudeckte.»

«Sie können es so sehen», lachte er. «Es war ein Mantel, der noch viel mehr zudeckte, ein ziemlich feuchter sogar. Als Malim sich in die Luft jagte und das Wasser aus dem halbvollen Becken die Ebene überschwemmte!

Damals kamen fast zweihundert Arbeiter in ihren Wellblechbaracken um, sie wurden während des Schlafs überrascht und ertranken und die Wassermassen rissen eine neue Straßenbrücke nördlich von Karbal und einige Häuser des Dorfrands mit sich.

Auch einige Elendsquartiere und eine Menge Staub und Unrat, um die es nicht schade war – zugegeben. Das Unrecht hat oft eine gute Kehrseite, selbst der makaberste Holocaust oder irgendein Krieg – wie viel Armut und Rückständigkeit werden weggefegt. Und denken Sie auch an den Wohlstand durch Wiederaufbau. Außerdem – den sogenannten ‚unschuldigen’ Opfern geschieht zwar Unrecht, aber sie sind keineswegs unschuldig – die Opfer selbst sind böse.

Von dem, was in jener Nacht geschah, gibt es leider keine Aufnahmen. Es war ein Vergnügen, das Malim ganz allein für sich und für die nichtsahnenden Opfer, die er mit sich in den Tod riss, reserviert hatte.»

Die Stunde des Geschichtenerzählers

Подняться наверх