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Kapitel 3

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Sie beugte sich über die Fotos, ohne auf seinen Spott einzugehen. In der Nische also, in der Burundis Standbild untergebracht werden sollte, dort hatte er sich in die Luft gesprengt … was für ein grauenvolles und zugleich zynisches Ende. Das Werk seines Widersachers auf diese Weise zu vernichten! dachte sie.

Falls es ein Selbstmord war. Zynisch, weil es Burundi der Früchte seiner Arbeit beraubte und doch zugleich, natürlich ungewollt, einen Meilenstein auf dem Wege seines Sieges bedeutete. Denn diese Tat musste die MMM in den Augen der Bevölkerung diskreditieren.

Ein führender Sozialist hatte jenes Bauwerk in die Luft gesprengt, aus blankem Hass, Neid und aus Selbstaufgabe, das zu den fortschrittlichsten technischen Projekten gehörte, die jemals auf Mayotte in Angriff genommen werden würden.

Es war nicht nur ein Symbol, sondern es war der Fortschritt selbst, der sich mit dem Bersten der Betonmauer und den Wassermassen in die Ebene ergoss und eine schreckliche Niederlage erlitt. Die MMM hatte ihrem Namen, «Mouvement Militant de Mayotte», alle Ehre gemacht.

Man war leicht geneigt zu glauben, dass ihr Führer eher unterging, als die Wahl um das Präsidentenamt zu verlieren. Im Gegensatz zu Burundi war Malim genau wie Dr. Husain Atasi, ihr Vorgesetzter an der historischen Abteilung, arabischer Herkunft.

Im Hinterland von Damaskus von armen Eltern aufgezogen, hatte er nach einer kurzen Laufbahn in der syrischen Armee verschiedene Schulungsstufen in Moskauer Ausbildungsstätten durchlaufen, über die man nichts Genaues wusste.

Eines Tages war er auf Mayotte bei seiner Verwandten Mane, Karlsbecks Freundin, aufgetaucht. Malims Vorfahren mütterlicherseits waren schon vor Generationen auf die Inseln im Indischen Ozean ausgewandert, nach Mauritius und Mayotte. Dieser Umstand hatte ihn immer mit dem Land verbunden, es zu einer Art zweiten Heimat werden lassen.

Als Malim die MMM gründete, die ihr viertes «M» für «Marxistisch» schamhaft verbarg, allerdings ohne aus ihrer politischen Haltung ein Geheimnis zu machen, hatte sich Burundi längst als designierter Führer und eigentlicher Begründer der Unabhängigkeit für das Präsidentenamt empfohlen.

Malim musste ganz von vorn anfangen: Er begann sich in Kleidung, Sprache und Gestus völlig den Inselbewohnern anzugleichen, so als sei er einer der ihren. Er warb um die Gunst der schönen Freundin Maries, einer Tochter des reichen Hoteliers Kutubus, weil er auf dessen Einfluss hoffte: er arrangierte sich mit dem Kapitalisten par excellence der Insel.

Man konnte fast vergessen, dass er zwei russische Winter hinter sich gebracht hatte.

Trotz dieser Anstrengungen waren seine Aussichten gering, da er nichts von den Führungsqualitäten seines einstigen Mitarbeiters und späteren Nachfolgers Ah Uluguru besaß, dessen natürliche Autorität selbst von jenen anerkannt wurde, die seine Politik bekämpften.

Ulugurus persönliche Qualitäten galten als außerordentlich, die von Malim dagegen waren bei allem Engagement und seinen Verdiensten um eine echte politische Opposition immer in Zweifel gezogen worden. Er stand in dem Ruf, ein Abenteurer zu sein, noch dazu einen, der sich mit einer recht zweifelhaften Schönen der Insel liiert hatte …

Karlsbeck redete und redete … und sie dachte an Burundi und Malims Tod und gab fast mechanisch Antwort, als er fragte: «Was wissen Sie von dem Damm?»

Dann, als er über seine Weltverachtung zu reden begann, diesen dummen Nihilismus, den man zur Genüge kannte und der seit Nietzsche nicht besser geworden war (der keines der dringlichen Probleme lösen würde), sondern sie alle mit sich riss in den Schlund der Ignoranz und Apathie, da begann sie zu ahnen, dass Karlsbeck nicht nur – wie man ihr gesagt hatte – ein gelangweilter, bösartiger alter Kerl ohne Anhang war, der sich betrank und in einem feuchten, morschen Haus im kalten Norden verkam, weil ihn niemand mehr brauchte, sondern auch ein Lügner!

Kein Märchenerzähler wie die Komoraner, die nur die Realität mit ihrer Erfindung verwechselten – harmlose Phantasten –‚ sondern einer, der insgeheim, wenn auch uneingestanden, sehr genau wusste, dass niemand auf diese Weise leben konnte: ohne einen Funken Hoffnung!

Er belog sich selbst – aber ohne es mit mehr als halbem Herzen zu glauben.

Es war ausgeschlossen, dass jemand ohne Hoffnung lebte. Dergleichen war und blieb für immer ausgeschlossen, dachte sie fest.

Es konnte so wenig sein, wie dass Feuer und Wasser sich verbanden. Malim mochte in den letzten Tagen vor seinem Tode, als er erkannte, dass die Wahl verloren war, diese Hoffnungslosigkeit gepeinigt haben. Obwohl sie es bezweifelte.

Und falls doch, dann war er daran gestorben. Das Heer der Skeptischen und Resignierenden aller Zeiten wäre nie bereit gewesen, sich zu einem Funken Hoffnung durchzuringen, wenn es nicht instinktiv erfasst hätte, dass Hoffnungslosigkeit den sicheren Tod bedeutete. Es gab keine wirklichen Nihilisten.

Nicht einmal dieser alte hässliche Kerl war einer. Denn als er neben ihr auf dem engen Sofa Platz genommen hatte und sein knochenkaltes Bein an ihren Oberschenkel presste, spürte sie seine Erregung und fühlte, dass der taube Knochen zu leben begann und dass Blut und Wärme durch Karlsbecks Adern und Arterien pulsierten.

Einmal schnüffelte er und roch über sie und ihren vorgebeugten Körper hin, als sie ihr Haar zurechtschob und sie wusste, dass es dieses Schnüffeln der Weißen war, die sich so viel auf ihre «feinen Nasen» einbildeten …

Es geschah noch einige Male, während sie auf dem engen Sofa saßen – so als vergewissere er sich ungläubig. Sie tat, als bemerke sie es nicht. Nein, er war kein Moralist, weiß Gott nicht. Er war nichts als ein dummer alter Kerl. Er roch nach dem Fusel, den er vor ihrer Ankunft zu sich genommen haben musste. Es gibt keine Nihilisten, dachte sie wütend. Es sind Schwätzer, die sich selbst belügen.

Und in dieser lächerlichen Art, die um ihre Lüge weiß. Er war ein geiler alter Sack, der seinen Fusel, seine Bequemlichkeit und seine Lebenslüge liebte.. und das war unendlich viel mehr, als er vorgab.

Dann gingen sie endlich hinunter, um zu arbeiten.

Die Stunde des Geschichtenerzählers

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