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Als der Bus das Stadtgebiet erreichte, wagte er sich mit dem Moped näher heran; der Motor spuckte und setzte manchmal aus, und er musste den Gasgriff bis zum Anschlag drehen, um ihn nicht zu verlieren.

Walter saß in der Reihe schräg rechts hinter dem Fahrer; ein geringes Risiko also, dass er ihn hinter sich entdeckte.

Nur wenn der Bus an den Vorortshaltestellen stoppte, blieb Werders etwas zurück. Die Hände schmerzten von der ungewohnten Haltung, und seine Hosenbeine waren durch verschmutzt.

Erleichtert stellte er das Moped am Fahrradständer einer Parfümerie- und Fotohandlung ab, als er Walter aussteigen sah, und beschloss, auf jeden Fall mit dem Bus zurückzukehren. Seine Beine zitterten vor Anstrengung und fühlten sich taub an.

Es schien, als schlendere Walter planlos durch die Stadt, als wisse er selbst nicht, wohin er wolle. Werders hatte Mühe, ihn im dichten Gedränge der Fußgängerzone nicht aus den Augen zu verlieren.

Er kannte die Stadt ziemlich gut von früheren Aufenthalten. Etwas später war er sicher: Walter spielte ein Spiel, das man ihm sorgfältig eingeschärft haben musste – wie einem dressierten Schäferhund, der immer und unter allen Umständen tun würde, wozu er abgerichtet war – selbst wenn es keinen vernünftigen Anlass dazu gab. Denn er versuchte offenbar, einen für ihn gar nicht vorhandenen Verfolger abzuhängen. Einfach, weil sein Verhaltenskodex es so vorsah.

Werders war sicher, noch nicht von ihm entdeckt worden zu sein. Jemand, der sich verfolgt sah, bewegte sich anders …

Das monatelange Versteckspiel hatte seine Sinne geschärft und ließ ihn Gesten und Gebärden deuten, die für andere gar nicht existierten.

Walter durchquerte Einkaufspassagen, verließ einen Supermarkt auf der Rückseite, lief zwei- oder dreimal über dieselbe Straße (wobei Werder von vornherein darauf verzichtete, die Seitenwechsel mitzumachen, bis er sicher war, dass der andere drüben blieb) und trank endlos lange an zwei Tassen Kaffee in einem Stehausschank.

Irgendeine professionelle Organisation, dachte Werders …

Aber wozu der Aufwand, falls es das BKA war? Ein Anruf hätte genügt. Hubschrauber, Wagenkolonnen, Umzingelung des Grundstücks … oder wartete er Charlottes und Lenas Ankunft ab?

Wollten sie alle auf einen Schlag? Der unterirdische Gang musste ihm dann ein amüsiertes Lächeln abnötigen.

Es würde ihnen ein besonderer Genuss sein, sie dort in Empfang zu nehmen. Endlich schien Walter seine Vorsichtsmaßnahmen aufzugeben – er hatte sein Programm «absolviert» – und ging plötzlich in normalem Tempo eine baumbestandene Seitenstraße hinunter, die bereits wieder zu den Randbezirken führte.

Ihre Häuser waren alt, aber villenartig aufgeputzte Fassaden aus der Zeit um die Jahrhundertwende –, und sie besaßen ausnahmslos gepflegte Vorgärten. Zahnärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater, Zweigbüros kleinerer Firmen hatten sich hier einquartiert.

Der Rehpinscher einer dicklichen Dame im Pelz pinkelte an ein frisch gesetztes Bäumchen. Feuchter Wind wehte die Straße entlang, und das Tier zog fröstelnd an der Leine zum Hauseingang gegenüber, nachdem es sein Geschäft verrichtet hatte.

Werders beobachtete Walter, der die Eingangstreppe eines zweistöckigen Altbaus mit großen Bürofenstern betrat. Wenige Augenblicke nach dem Läuten war er hinter der Tür verschwunden.

Werders las das Firmenschild:

OLCO – Osthandelsgesellschaft Leipzig, Zweigstelle.

Das genügte. Er ging rasch weiter, sein Gesicht von den Fenstern abgewandt. MfS oder KGB. Wahrscheinlich beide. Sie hatten einen Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit, Ost-Berlin, in der Gruppe.

Aber wozu?

Er betrat die Telefonzelle ein Stück weiter unten an der Straßenkreuzung, suchte den Namen der Firma im Telefonbuch und wählte ihre Nummer.

Eine Frauenstimme meldete sich.

«Ja?»

«Bin ich mit der OLCO-Osthandelsgesellschaft verbunden?»

«Augenblick, ich verbinde weiter.»

Er wartete eine endlose Zeit lang. Dann meldete sich eine zweite Frauenstimme. Sie klang älter, resoluter.

«OLCO?», fragte Werders.

«Bitte, was wünschen Sie?»

«Fatima-Importe. Wir sind neu in diesem Raum und an der Aufnahme geschäftlicher Beziehungen in praktisch allen Warenbereichen interessiert, Traktoren, Werkzeugmaschinen, Möbel …»

«Bedauere, unser Vertriebsvolumen ist zur Zeit völlig ausgelastet. Vielleicht nehmen Sie Kontakt auf mit der Vertretung der Deutschen Demokratischen Republik? Sie wird Ihnen gern bei der Anknüpfung geschäftlicher Beziehungen behilflich sein.»

«Danke», sagte Werders, «das werde ich tun. Danke».

Unter dem Vordach der Trinkhalle wartete er ab, bis der Feierabendverkehr in der Straße immer dichter wurde. Einmal kaufte er ein Päckchen Zigaretten, um die Inhaberin der Trinkhalle nicht zu verärgern. Dann eine Zeitung. Schließlich noch ein Magazin.

Er blätterte es flüchtig durch. Paul Walter hatte längst wieder das Haus verlassen. Der Rehpinscher wurde zum zweiten Mal ausgeführt. Werders verscheuchte ihn mit der Zeitung, als er an seinem Schuh das Bein hob.

Wagen fuhren am Gebäude der OLCO vor, jüngere Männer stiegen aus – und nach kurzer Zeit wieder ein. Kuriere, dachte er. Er war auf ein Agentennest gestoßen. Langsam wurde er hungrig. Der Kiosk bot belegte Brötchen an, und er bestellte zwei mit Käse und Zervelatwurst und trank eine Flasche Mineralwasser dazu.

Endlich verließ ein Mädchen das Haus. Werders warf beides – die Zeitung und das Magazin – in den Abfallkorb und folgte ihr. Er nahm an, dass es das Mädchen war, das ihn weiterverbunden hatte, nur eine zweitrangige Bürokraft. Unwahrscheinlich, dass sie seine Stimme wiedererkannte.

Sie trug hochhackige Schuhe, einen billig aussehenden, dünnen Mantel, Strümpfe wie aus dem DDR-Kaufhaus – nach so vielen Jahren sah man ihrer Garderobe immer noch an, woher sie stammte.

Ihre Figur allerdings war durchaus attraktiv. Außerordentlich attraktiv sogar, dachte Werders – und er versuchte damit zugleich sein schlechtes Gewissen zu überspielen, dass die anderen nun auf Gedeih und Verderb den wahren Plänen Paul Walters ausgeliefert waren – ob er sie an das BKA verriet oder aber ganz andere Absichten verfolgte –, während er hier einem hübschen, brünetten Mädchen aus Ostdeutschland nachstieg.

Andererseits war es reiner Selbsterhaltungstrieb, nicht sofort zum Haus zurückzukehren, sondern erst einmal abzuwarten, was geschah. Es gab dort kein Telefon, über das er sie hätte warnen können.

Wenn man von anderen Vorteilen absah … denn ein Kontakt mit ostdeutschen Stellen konnte sich irgendwann als nützlich erweisen. Es gab nicht sehr viele Ausweichquartiere. Eine Flucht nach Ostdeutschland war nicht das, was er wollte. Doch wenn das Kesseltreiben gefährliche Formen annahm, würde er sich das vielleicht noch einmal überlegen. Ostdeutschland war dann sicherer als der Westen. Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er dem Mädchen in ein armseliges Imbisslokal folgte, das nichts weiter als Spaghetti, drei Sorten Bratwurst und einen Eintopf anbot.

Sie wählte den Eintopf, es war Bohneneintopf.

Er nahm dasselbe und setzte sich neben sie an den Kunststofftisch.

«Ausgezeichnet», sagte er und reinigte seine Brillengläser mit der Serviette, weil sie vom Dampf aus der Terrine beschlagen waren.

«Bitte?» Sie hob überrascht den Kopf. Er sah, dass ihr Gesicht leicht gerötet war, besonders um die Augen – als wenn sie vor kurzem geweint hatte.

«Heiß … heiß kommt immer gut. Bei dem Wetter.»

«Ja.»

«Die Bohnen sind ausgezeichnet», wiederholte er. «Ich bin nicht von hier. Gute und preiswerte Küche ist nicht leicht zu finden, wenn man irgendwo fremd ist. Es macht vieles leichter, wenn man Bekannte vor Ort hat. Zum Beispiel – sehen Sie –, heute Abend würde ich gern ins Kino gehen. Aber bis man sich in einer fremden Stadt durchgefragt hat, haben die Filme womöglich schon angefangen.»

«Konnten Sie‘s denn nicht in Ihrer Pension erfahren?», fragte das Mädchen.

«Oh, ich … ich habe noch gar kein Quartier, ich bin sozusagen noch ohne – ja, ohne jede Disposition.»

«Merkwürdiger Ausdruck dafür, dass Sie nicht wissen, wohin», sagte das Mädchen.

«Warengeschäfte. Da schlagen immer die alten Ausdrücke durch.»

«Sind Sie Vertreter?»

«So was Ähnliches.»

Sie aßen schweigend.

«Drüben im Gloria läuft ein netter Film, etwas Leichtes. Mit einem französischen Komiker. Dieser kleine Kerl, der immer Grimassen schneidet. Den Titel habe ich leider vergessen.»

«Genau, was ich suche.» Werders löffelte weiter seinen Eintopf. «Und es ist in der Nähe?»

«Schräg über die Straße», sagte sie.

«Darf ich Sie vielleicht einladen? Ich meine – sozusagen, um mich für Ihre Hilfe zu revanchieren? Ganz unverbindlich. Sie gehen keinerlei Verpflichtungen ein. Es ist nur … ja, wenn man fremd ist in einer Stadt, sucht man nach ein wenig Gemeinsamkeit.»

«Gern», sagte Sie zu seiner Überraschung und stand auf. «Lassen Sie uns gehen …»

Er zahlte an der Theke die beiden Terrinen, und sie ließ es ohne Protest zu.

«Danke, dass Sie sich meiner annehmen wollen», sagte er, während er sich draußen bei ihr einhängte.

«Sie brauchen sich nicht zu bedanken. Ich war einfach in der Laune dazu – beruflicher Ärger.»

«Ja, das kenne ich. Vorgesetzte?»

«Man weiß nie, wie man es ihnen recht machen soll …»

«Überall das Gleiche. Niemandem kann man es recht machen.»

«Wem sagen Sie das?»

«War es so schlimm?»

«Eben kam ein Anruf – bitte verstehen Sie, dass ich nicht über Einzelheiten reden kann, es handelt sich um Geschäftsgeheimnisse –, und gewöhnlich werden wir nur von gut bekannten Geschäftspartnern angerufen. Es kommt praktisch nicht vor, dass sich jemand ohne seine Kennzahl meldet – wir haben alle Kontakte der Einfachheit halber unter Kundennummern abgelegt», fügte sie schnell hinzu.

«Kenne diese Praktiken», nickte er. «Rationalisierung, oder?»

«Aber der Anruf nachmittags kam von einem Fremden. Ich war etwas verwirrt, es … es war eine ungewöhnliche Situation – deshalb gab ich ihn weiter.»

«Völlig verständlich», bestätigte er.

«Und was glauben Sie, welchen Ärger mir das eingetragen hat?» Sie blieb stehen und wandte sich mit geballten Fäusten um. Ihr Gesicht war rot vor Zorn.

«Fräulein Tauber…»

«Ihre Vorgesetzte?»

«Ein Biest», nickte sie. «Der Anweisung nach hätte ich antworten müssen mit: Hier OLCO-Osthandelsgesellschaft Leipzig, Zweigstelle Heidelberg. Sie meinte, sonst würden wir uns ja lächerlich machen, schließlich stehe unser Name außen am Haus, und es bedürfe keinerlei Rückfrage mehr. Alte Jungfer!

In gewisser Weise hat sie natürlich Recht», fügte sie nüchtern hinzu.

Den Film fand er langweilig: Opium fürs Volk. Eine Folge aus Blödeleien, um von Missständen abzulenken. Keine kritischen Töne.

In seiner Jugend hatte er solche Schmarren verschlungen …

Bis er erwachsen genug geworden war, um zu entdecken, dass man diesen Staat ganz anders sehen konnte, als er vorgab zu sein: statt ein Hort der Demokratie und Liberalität ein subtiles Repressionssystem zum Erhalt von Wirtschafts- und Machtstrukturen.

Verdummung der Armen und Auszubeutenden. Freiheitsdemokratie: vor der Wahl Versprechungen, nach dem Wahltag Verteilung der Beute – und gegen Andersdenkende Polizeiknüppel. Staatliches Gewaltmonopol. Die Katze im Sack gewählt, Blankoschecks ausgestellt.

Man warf ihnen ein wenig Futter hin – «gehen Sie doch alle vier Jahre wählen, wir bitten schön darum» – und kam dann zur Sache, was das Verkungeln der Posten anbelangte. Vorteilsannahme über Wirtschaftsgruppen und Konzerne, Interessenvertretung unter dem Deckmantel der Demokratie, Verschärfung des Demonstrationsrechts, eine noch dreistere Tendenz zum Bespitzelungsstaat wie in den neuen Volksbefragungen, die Computerisierung vertraulicher Daten, Rechtsprechung von der persönlichen Finanzkraft abhängig – und sie saßen hier und sahen sich diesen blödelnden Film an.

Ihr schien er zu gefallen. Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust, und ihre Finger kraulten seinen Nacken. Eigentlich kämpften sie ja gegen den gleichen Feind: auch wenn sie nur eine ganz kleine Büroangestellte in ostdeutschen Diensten war.

«Sag mal», raunte er ihr zu, «eure Firma sucht nicht etwa noch Leute, oder?»

«Unsere … Firma?», prustete sie. «Nein.»

«Ich meine, drüben vielleicht. Bei dir in Leipzig.»

Er legte seinen Arm um ihre Schultern. «Du kehrst doch mal zurück, hab ich Recht? Hab‘s ziemlich satt hier im Westen. Ehrlich gesagt, wegen des Systems.»

«Ziemlich bald sogar, in zwei Monaten.»

«Würde jede Tätigkeit drüben annehmen – »

«Wirklich jede?»

«Jede

«Hm. Es gibt da gewisse Aufträge.»

«Mir ist alles recht.»

«Heikle Aufträge, meine ich …»

«Kann gar nicht hoch genug hergehen – nach dem öden Verkaufstrott hier in den letzten Jahren.»

«Auch Arbeit in der BRD?»

«Warum nicht?»

«Tja, weißt du … ich könnte mal mit einem der Herren sprechen – ganz unverbindlich natürlich –, ob sie noch für jemanden wie dich Verwendung hätten.»

«Das wäre riesig nett.»

«Wo kann man dich denn erreichen?»

«Zur Zeit bin ich unterwegs. Ich würde nächste Woche wieder herkommen und dich abholen.»

«Das würdest du wirklich tun?»

«Ehrenwort, ja. Wieso denn nicht?» Er sah sie fragend an – bis sie leicht errötend seinem Blick auswich ...

Als sie sich gegen elf trennten, wusste er, dass sie Eva Menge hieß und nichts anderes tat, als für einen Hungerlohn am Telefon codierte Nachrichten anzunehmen, was unschwer aus der seltsamen Art herauszulesen war, wie ihre Meldungen hereinkamen: mit einer Nummer zur Kennzeichnung des Agenten und einer sogenannten «Bestellung», die dann etwa lautete:

«Ersatzteil Nummer 050/277, Eisenguss, Vanadiumachse, Chromlager, für Werkzeugmaschine Typ «Lerche», mit Zahnkranz 18/8, Lieferung Oktober 83, Kombinat Karl-Marx-Stadt» – und eine Bedeutung hatte, die sie natürlich ebenso wenig kannte wie jemand, der zufällig oder aus Gewohnheit ihre Leitung abhörte: Agenteneinschleusungen, Termine für Kurierdienste, Warnungen oder dergleichen.

Immerhin hatte er genug erfahren – wenn auch nichts über Walters Pläne.

Werders nahm den letzten Bus. Er stieg eine Station früher aus, wo lediglich Zugang zum Bootshaus an einem Altarm des Flusses war, der im Osten hinter den Ackerwellen lag, und ging das Stück zu Fuß.

Die Straße war menschenleer. Nirgends Autos, Hubschrauber, kein Geräusch aus Funksprechgeräten, auch nicht in der Ferne. Selbst die Vögel schienen das Gebiet zu meiden. Der Boden abseits der Straße war feucht und schlammig. Kalter Dunst stand zwischen den Stämmen.

Er dachte an Eva, die Wärme, die Sie ausstrahlte. Ihre politische Unbedarftheit (er nannte es nicht Beschränktheit), die Naivität, mit der sie eine riskante Tätigkeit für ihr Land verrichtete – wohlmöglich, ohne sich der Gefahr klar bewusst zu sein – kamen ihm mit einem Mal äußerst erstrebenswert vor.

Das Bedürfnis, in den Schoß der Unwissenheit zurückzukehren, sich abzuwenden von allen ideologischen Verrennungen, wurde für einen Moment fast übermächtig.

Er stolperte und versackte bis zu den Knien in einer tiefen Laubgrube …

Während er sich mühsam wieder herausarbeitete, brach die Dunkelheit herein. Erschöpft lehnte er sich gegen einen Baum und säuberte seine verschmutzten Hände. Dann arbeitete er sich langsam durch den Wald vor, bis er in der Finsternis die Umrisse des Hauses erblickte.

Die Regeln der Gewalt

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