Читать книгу Die Regeln der Gewalt - Peter Schmidt - Страница 8
3
ОглавлениеSie fuhren langsam die Straße entlang, und als Richard vor der roten Ampel hielt, sah sie zum Fenster neben dem Balkon hinauf. Der Blumenkorb – das vereinbarte Zeichen – hing links am Rahmen.
«Okay», sagte sie. Ihre Stimme klang hart und trocken, wie immer, wenn sie nervös war. Es gab diese Augenblicke, die erfahrungsgemäß kritisch waren: zum Beispiel Einfahrten in Tiefgaragen. Oder Treppen zu U-Bahn-Schächten. Sommer war in der Stadt, das wusste sie. Sie mussten auf eine Spur gestoßen sein.
Arm arbeitete auf Hochtouren, um sie zu erledigen …
Diese Burschen machten sich geradezu einen Sport daraus. Es hieß, dass sie freiwillig auf die Bezahlung von Überstunden verzichteten. Und sie gingen an jedes beliebige Telefon, tippten ihren Code ein, wenn sie Informationen vom Zentralcomputer in Wiesbaden abrufen wollten, neueste Daten, um sie jederzeit in Beziehung zu setzen zu dem, was sie gerade erfahren hatten.
Zu winzigen, beinahe unbedeutenden Fakten, die nur im Zusammenhang einen Sinn ergaben, der dann aber sogar in prozentualer Wahrscheinlichkeit ausgedruckt wurde.
Angelika steckte ihre Hand in die Umhängetasche, als sie zwischen den Betonsäulen der Tiefgarage ausstieg. Parkende Wagen, durch deren spiegelnde Scheiben man nichts erkennen konnte, jagten ihr immer einen Schauer über den Rücken.
Richard war da viel unbekümmerter. Er vertraute auf seine schnelle Hand. Anders als sie selbst und Werders glaubte er, dass man Paul Walter ohne Vorbehalte in den engeren Kreis aufnehmen könne.
Sie hielt Walter für einen Spitzel des BKA. Er war im September auf einer Wahlveranstaltung der Grünen zu ihnen gestoßen, ein junger Mann mit flachem Negergesicht und wulstigen Lippen, obwohl seine Haut so weiß war, als habe er sein halbes Leben in einem verdunkelten Büro zugebracht.
Er trug fast immer Marengo-Sakkos, für einen Burschen seines Alters ziemlich ungewöhnlich. Falls es ein Spitzel war, würde er erst zuschlagen, wenn er genügend Namen, Standorte und Pläne gesammelt hatte. Deshalb ließen sie ihn lieber in Heidelberg zurück.
Die Wohnung hier in Frankfurt war eines ihrer sichersten Quartiere. Natürlich gab es keine Beweise. Sie verließ sich lediglich auf ihren Instinkt. Etwas in der Art, wie er sie manchmal anblickte, machte sie stutzig. Es war kein Verbrecherblick. Sie war nicht sonderlich hübsch – erst recht jetzt nicht, mit ihren künstlichen Sommersprossen neben der Nase und dem hochgebundenen, rötlichen Haar. Sie wirkte damit wie eine «junge alte» Matrone.
Dass sie hier in Frankfurt, im Hurenviertel, zur Welt gekommen war – sozusagen ein Betriebsunfall ihrer Mutter, dem sie nur deshalb ihr Leben verdankte, weil sie sich vor einer Abtreibung gefürchtet hatte –, beschäftigte ihn weitaus mehr.
«Kinder von Huren sind oft besonders empfindlich für soziale Ungerechtigkeiten», hatte er erklärt. «Manchmal neigen sie sogar zur Gewalttätigkeit. Das beweisen die Kriminalstatistiken.»
«Sie lesen Kriminalstatistiken?»
Darauf war er sehr verlegen geworden.
«Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.» Plötzlich musste ihm bewusst geworden sein, wie ungehörig es war, in dieser Art über ihre Herkunft zu sprechen.
Richard öffnete die Fahrstuhltür, und sie fuhren hinauf. «Geh du voran und schieß den Gang frei», scherzte er, als sie in der Etage hielten.
Es gab ein einfaches Zeichen, um sich gegenseitig die Ankunft zu signalisieren, und sie achteten streng darauf, dass es nur im engeren Kreis bekannt war: sie nannten es «steckengebliebene Klingel», ein Dauerton von genau zwanzig Sekunden. Man sah dabei auf die Uhr. Manche Leute neigten dazu, zwei- oder dreimal zu läuten, das war kein verlässliches Signal.
Werder trug den üblichen grobgestrickten Pullover unter der Jacke, der ihn etwas fülliger aussehen ließ als auf den Fahndungsplakaten.
Sie sah ihm immer gleich an, wenn etwas nicht stimmte.
«Da im Sessel», sagte er undeutlich und zeigte mit dem Daumen nach hinten.
Sie saßen um den runden Glastisch im Wohnzimmer. Angelika hatte Skizzen ausgebreitet. Die Luft im Raum war stickig und der Tote saß noch immer in derselben steifen Haltung da, als sehe er fern. Nur sein Gesicht war um eine Spur fahler geworden: so grau wie sein Kittel …
«Für Wiesbaden benötigen wir ein neues Standquartier», sagte Richard. Er trug jetzt ein kariertes Flanellhemd und schien der einzige zu sein, der mit Appetit von den Eiern auf Schinken aß, die Angelika für sie gebraten hatte.
«Sommer erledigen wir noch von hier aus», schlug Werders vor.
«Dann plädiere ich dafür, Paul Walter in den engeren Kreis aufzunehmen», erklärte Richard, während er weiter aß.
«Walter ist ein Spitzel», sagte Angelika. «Ich spüre das.»
«Einbildung. Dein überzogenes Misstrauen.»
«Lassen wir ihn Sommer erledigen», meinte Werders nachdenklich. «Als Einstand. Das würde er nicht wagen, wenn er für Arm oder das BKA arbeitete.»
«Wir sollten Charlottes und Lenas Rückkehr aus Frankreich abwarten, ehe wir einen Beschluss fassen», wehrte sie ab.
Natürlich war das nur eine Ausflucht, und die anderen schienen es zu spüren. Sie hätte auch in Lenas Anwesenheit nicht für Walter gestimmt.
«Übrigens habe ich gestern Abend hier in einer Bar Lummer getroffen, Sommers rechte Hand», bemerkte Werders.
«Wir wissen schon, dass sie hier sind», nickte Angelika. «Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Dieses ewige Führungsgerangel ödet mich an. Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich die Leitung der einzelnen Aktionen übernehme, solange nicht abgestimmt wird.
Und ich sage: Paul Walter bleibt draußen.»
Richard ließ nicht locker: «Nach Birkes Tod benötigen wir frisches Blut ….»
«Lassen wir ihn Sommer erledigen», wiederholte Werders. «Das qualifiziert ihn für den engeren Kreis.»
Angelika erhob sich, sie spürte, wie schwach ihre Position war. Es gab keine wirklichen Verdachtsmomente gegen Paul Walter.
Sie ging zum Balkonfenster und schob den Vorhang zurück. Von hier oben aus konnte sie das Dach des Hauses sehen, in dem sie geboren war.
Eine kleine Ewigkeit war vergangen, bis sie sich getraut hatte, dorthin zurückzukehren. Es diente noch immer demselben Zweck, und die Mädchen im Eingang hatten sich über ihre Neugier amüsiert.
«He, willste Quartier nehmen?», hatte eine ihr hinterhergerufen. «Mit deinem Kopf machste ‘nen guten Schnitt.»
Lautes Gelächter … nun hatten sie hier endlich mal was zu lachen!
«Bei einem Schlag gegen ihren Zentralcomputer hätten wir alle Trümpfe in der Hand», sagte sie, als sie zum Tisch zurückkehrte. «Wie schon seit langem nicht. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. Wiesbaden hat absolute Priorität. Wenn sie davon Wind bekommen, war alles umsonst.»
Angelika begann von dem Rest der Eier mit Schinken zu essen, und benutzte den kleinen Löffel aus dem Zuckertopf dazu; sie aß vorgebeugt, das verdammte Färbemittel für die Sommersprossen um ihre Nase juckte (wie immer, wenn sie erregt war), und sie versuchte, das Zucken um ihre Mundwinkel zu verbergen. Es gab keinen Grund zum Optimismus. Ob mit oder ohne Walter. Ob Sommer am Leben blieb oder nicht. Selbst wenn sie den Zentralcomputer ausschalteten, würde sie das niemals in die Position wie noch vor wenigen Monaten zurückbringen.
Zu viele ihrer Freunde waren nach der allgemeinen Hatz auf der Strecke geblieben, einige saßen in Haft. Es wirkte demoralisierend auf das Heer der Sympathisanten – von dem sie ohnehin manchmal glaubte, dass es nur in ihrer Einbildung existierte …
Im Grunde hatte sie den Glauben an eine breite Volksbewegung längst verloren. Die logische Konsequenz daraus wäre gewesen, herauszufinden, wie man am besten seinen Kopf aus der Schlinge zog. Es gab nur wenige Möglichkeiten. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken …
Sie hatten den Toten in der Wohnung zurückgelassen.
Irgendwann würde man ihn dort finden. Alle nur denkbaren Spuren waren sorgfältig beseitigt worden, obwohl sie planten, nach Sommers Ermordung noch einmal dorthin zurückzukehren.
Sommer besaß ein Haus in Königstein, einem kleinen Kurort nördlich von Frankfurt, und er fuhr die 30 Kilometer von seinem Wiesbadener Büro täglich nach Hause.
Es hatte sie einige Mühe gekostet, das herauszufinden, da man seine Adresse sorgfältig geheim hielt. Sie nahmen an, dass er sich während der Arbeit in Frankfurt genauso verhalten würde, weil es eine gute Straßenverbindung gab und die Strecke noch kürzer war.
Er würde «heim in Mamis Schoß» kehren, wie Richard zu sagen pflegte, um sich von den Nervenanspannungen der Terroristenjagd zu erholen.
Was ihm nicht viel weniger als das Genick brechen wird, dachte sie verächtlich.
Der Motor des Audis schnurrte leise, es war eine Hundert-PS-Maschine, stark genug, um jeden Verfolger abzuhängen, und Richard galt als ausgezeichneter Fahrer. Von der Autobahn bogen sie auf die Bundesstraße 8 ab.
Sie verspürte wieder diese Kälte in der Magengegend, die sie immer überkam, wenn es schwierig und gefährlich wurde – und wenn sie sich im Einklang mit den Zielen befanden … den alten Zielen, an die niemand mehr glaubte. Ihre Nervosität dauerte meist nur Sekunden.
Ein Stich im Solarplexus, und alles war vorüber.
Ihre Stimme wurde wieder kühl. Sie handelte dann wie ein Automat, der in der Lage war, sich selbst zuzusehen, den präzisen Bewegungen, Handlungsanweisungen und raschen Entschlüssen: als würden sie durch Lochstreifen oder Magnetbänder abgerufen. Diese Fähigkeit – beinahe emotionslos zu sein, wenn es darauf ankam – hatte ihr die eindeutige Führungsrolle gesichert.
Sie bogen ein, die Straße fiel vom Berg steil ab, vorüber an bewaldeten Hängen, in deren Dunkel jetzt nicht einmal mehr die Stämme der Fichten auszumachen waren. Streusand lag über dem Asphalt. Die Wagenreifen wirbelten ihn gegen das Bodenblech. Hier und da leuchteten Fenster von einzeln stehenden Häusern, aber immer weit weg. Sie passierten eine stillgelegte Tankstelle.
Angelika zeigte nach links, «In den Waldweg.»
Werders schaltete das Deckenlicht ein, als sie im Schutz des Weges parkten, und kontrollierte seine Waffe. Richard nahm das zusammengerollte Plakat mit der Kordel und die Polaroidkamera und steckte beides in die Umhängetasche, um nachher seine Hände freizuhaben.
«Es liegt hinter dem Hügel», sagte sie. «Wir überqueren einen Bachsteg. Seht zu, dass ihr ihn beim Rückzug nicht verfehlt, das Wasser ist tief, man kann es nicht durchwaten.»
Während sie ausstiegen, fuhr sie fort:
«Es gibt einen Posten am Straßeneingang, keinen vor dem Haus. Sie rechnen nicht mit dem Waldweg. Er vertreibt sich die Langeweile in der Kneipe Am Eck. Vom Fenster aus kann er jedes ankommende Fahrzeug sehen. Er wird herauslaufen, falls er Schüsse hört, und Richard könnte ihn dann zwischen den Abfallcontainern in Empfang nehmen, wo es genügend Deckung gibt.»
Sie gingen schweigend nebeneinander her, bis der silberne Bachlauf auftauchte.
Richard Fall in der schlaksigen Art, die für ihn charakteristisch war. Eine braune Tolle hing ihm weit in die Stirn, seitdem die neuesten Fahndungsplakate ihn mit kurzgeschnittenem Haar zeigten. Von allen in der Organisation war er ihr der liebste.
Hinter seinem Unernst verbarg sich allerdings ein Hang zur Gewalttätigkeit, den sie oft für bloßen Selbstzweck hielt.
Fall pflegte zu spötteln, er sei als Kind nie geschlagen worden, was in ihm ein tiefes Verlangen erzeugt habe, sich durch seine Fäuste mit der Wirklichkeit auseinander zu setzen. Gelegentlich hatte sie den Eindruck, dass er trotz seines Engagements und der Bereitschaft, sein Leben zu riskieren, mehr zufällig in ihren Kreis geraten war.
Seine politischen Ansichten hielt sie für verworren: Er neigte heute den Anarchisten und morgen den Sozialisten zu. Der marxistische Endzustand der Gesellschaft schien ihm schnuppe zu sein – «völlig unvereinbar mit der menschlichen Natur» –, trotzdem hatte er sich eine billige Ost-Berliner Bibliothek der Werke Stalins zugelegt, in der Übersetzung der Erstausgabe, die er bibliophil pflegte.
«Das weiße Haus da. Sommers Arbeitszimmer ist zur Straßenseite. Charlotte hat herausgefunden, dass er sich abends meist im Zimmer an der Veranda aufhält.»
«Und seine Frau?», fragte Werders.
«Ein dummes Geschöpf, das nur für die Küche taugt.»
«Besitzt sie eine Waffe?»
«Sie hat Papa Sommer, der ist Waffe genug», witzelte Richard. «Er wird ihr fehlen.»
Ohne Sommer, dachte sie, war der Weg frei. Mit Sommer würde es ein Kampf nach zwei Seiten sein – die gewöhnlichen Polizeiorgane nicht eingerechnet –, und das in der Vorbereitungsphase, wenn sie den französischen Computerspezialisten einwiesen, den Charlotte und Lena aus Paris mitbrachten.
Doch auch davon abgesehen war es zweckmäßiger, ihn zu töten. Schon das abgerissene Deckblatt eines Frankfurter Stadtplans, in einem gestohlenen Wagen aus Heidelberg vergessen, hatte ihn sofort in der Stadt auftauchen lassen. Wie ein Bluthund, dem die geringste Witterung genügte.
Sommer verhandelte nicht, er machte kurzen Prozess. Mit den Leuten vom BKA konnte man, reden. Sie würden – wenn auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit, zu gewissen Kompromissen bereit sein, wenn sie keinen anderen Ausweg sahen.
Solche Überlegungen waren nicht so absonderlich, wie es den anderen scheinen mochte. Obwohl sie sich hütete, sie jemandem aus der Gruppe mitzuteilen.
Falls Sommers Plan – oder der seines Nachfolgers – sich realisieren ließ, würde es bald einen noch sorgfältigeren Verbund zwischen den BKA, den Polizeistellen und Einsatzgruppen und den verschiedenen Diensten in der Bundesrepublik geben, dem MAD und BND und seinen Abkömmlingen.
Ihr Vorwand war simpel: Sie behaupteten seit langem, ihre Organisation sei von östlichen Nachrichtendiensten unterwandert. Mit diesem Argument ließ sich ein beispielloses Netz spannen, durch dessen Maschen auf Dauer zu schlüpfen vermutlich unmöglich war.
Und in seiner Mitte, wie eine lauernde Spinne, hockte der Wiesbadener Computer.
Sie sahen Sommer durch die große Verandascheibe im Salon sitzen, er hielt eine blaue Mappe auf den Knien und blätterte darin. Neben ihm, griffbereit, stand das Telefon.
Der Lichtkreis einer Stehlampe hob seinen Sessel und seine untersetzte, beleibte Gestalt wie von einer Bühne ab. Er war stark kurzsichtig, seine Brillengläser ähnelten dicken Lupen.
Unvermittelt schob er die Brille zur Stirn, beugte schräg den Kopf – als lese er nur mit einem Auge – und brach in ein heiseres Lachen aus ...
Wenigstens schien es durch die Scheibe so, dem geschwollenen, rötlichen Hals nach zu urteilen – und den kurzen Atemstößen, die seinen Körper erschütterten.
Ein schmaler Fußweg führte über den Rasen bis dicht an die Scheibe. Doch sie hüteten sich, ihn zu benutzen. Das großformatige Foto an der Seitenwand des Raumes zeigte eine Schneelandschaft. Darunter hing – auf der kleingeblümten Tapete in einem Kasten aus Nussbaumholz – Sommers doppelläufiges Schrotgewehr.
Es war ein Liebhabermodell mit sorgfältig poliertem Schaft und geschnitzter Einfassung.
Richard überquerte als erster den Rasen, lief geduckt an den hohen Sträuchern entlang und tauchte in den Schatten der Hauswand. Er winkte sie heran, als er nach vorn auf die Straße geblickt hatte.
Das Haus besaß einen Seiteneingang, vermutlich, weil es einmal als Zwei-Familien-Haus mit getrennten Eingängen geplant worden war. Aber Sommer hatte es wegen seiner Karriere nicht mehr nötig, zu vermieten.
Seit kurzem unterstand er direkt dem Innenminister – nach jahrelanger erfolgreicher Arbeit als Abteilungsleiter im BKA, mit Frahm als nächstem Vorgesetzten, dem legendären Leiter, der Wertmüller und Ranke gefasst hatte – und dessen persönliche Tragik es gewesen war, entdecken zu müssen, dass Edda Frahm, seine einzige Tochter, ihrem Kreis angehörte …
Werders öffnete mit dem Dietrich die Tür. «Von dieser Seite aus wird er uns nicht erwarten», meinte er zuversichtlich. Seine Handgriffe waren präzise und sicher wie immer.
Als sie im Korridor standen, fühlte sie wieder diese Kälte in der Magengegend.
«Schalldämpfer», murmelte sie fast unhörbar, und Richard reichte ihn ihr aus der Umhängetasche. Seltsamerweise fiel ihr fast immer der griechische Strand ein, während sie das Rohr auf den Browning-FN schraubte: ein sonnendurchglühter Strand mit blauem Wasser, an dem die grauen Felsen aufstiegen, nur hier und da von hartblättrigen, niedrigen Pflanzen durchsetzt. Zikaden zirpten, und am Himmel standen einzelne krause, weiße Wölkchen.
Es war die Stelle, an der sie zum ersten Mal einen Menschen getötet hatte … einen süddeutschen Bauunternehmer, der ihre Mutter um 200.000 Mark betrogen hatte, ohne dafür belangt werden zu können.
Er lag gemütlich auf der gestreiften Luftmatratze nahe beim Wasser, den fetten weißen Leib zur Seite gedreht, und da sein Strohhut über dem Gesicht lag, sah er sie nicht einmal als Schattenriss aus der Sonne über den weiten, einsamen Strand kommen.
Durch halb Europa hatte sie ihn verfolgt (eine Hure prellte man fast ohne Schwierigkeit um ihr wohlverdientes Geld, wenn man ihr Liebe und geschäftliche Aussichten vorspiegelte, denn da es schwarz verdient war, existierte es offiziell gar nicht. Außerdem würden die meisten Frauen nur mit großen Hemmungen zugeben, dass sie auf Versprechungen einer so dümmlichen Liebschaft hereingefallen waren).
Angelika stieß die Glastür zum Salon auf. Sommer musterte sie durch die dicken Brillengläser, als habe er eine Gotteserscheinung. Seine Miene erstarrte.
Er erhob sich ungelenk, versuchte es, einen Arm auf das Polster der Lehne gestützt, doch es gelang nur halb … die blaue Aktenmappe rutschte zu Boden. «Was …?»
Sie ging mit zwei großen Schritten auf ihn zu und zielte aus nächster Nähe auf seine Stirn.
Sommers Kopf zuckte zurück. Sein Körper fiel wehrlos gegen die Sessellehne.
Werders sicherte die Tür, während Fall das Plakat aus der Tasche nahm und es ausrollte; er musste es einige Male gegenrollen, damit es glatt blieb. Sie richteten Sommer auf, und er hängte ihm das Plakat auf die Brust. Sein Text lautete:
Hingerichtet für begangenes Unrecht – und als Warnung an seine Nachfolger. Gruppe Kobra.
Dann nahm er die Polaroidkamera heraus und schoss sechzehn Fotos gleicher Art von dem Mann mit der kreisrunden Einschusswunde auf der Stirn, während Werders sie in vorbereitete adressierte und frankierte Umschläge zu stecken begann, die an Presseagenturen und große Tageszeitungen gehen würden. Angelika sicherte die Tür …
Doch Frau Sommer schien in der Küche nebenan mit ihrem Mixer beschäftigt zu sein. Sein schrilles Geräusch hatte kurz vor dem Schuss eingesetzt …
Fall hob die blaue Mappe auf und steckte sie ein. Sie ließen Sommer mit dem umgehängten Schild im Sessel zurück.