Читать книгу Ein Fall von großer Redlichkeit - Peter Schmidt - Страница 8
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ОглавлениеDer Lesesaal der Deutschen Bücherei war ein hoher, düsterer Raum mit umlaufenden Balustraden und dunkel lasierten Holztreppen an jeder Ecke. Unter den schmalen Fenstern hoch in der Außenwand stand das Pult der Aufsicht, einer blau gekleideten, älteren Frau. Es befand sich zwischen zwei Karteikästen, von einem Globus gekrönt.
Papst konnte über mehrere Tischreihen hinweg erkennen, dass sie unermüdlich ernst und voller Strenge die verstreuten Leser auf den zweihundert Sitzplätzen beobachtete und jedes zu laute Geräusch mit einer nervösen Geste des Kopfes beantwortete.
Wenn das nicht ausreichte, tat sie einige Schritte in die Richtung des Störenfrieds. In der Regel genügte es, um ihn sofort zum Verstummen zu bringen.
Ein Mittelgang teilte den Saal. Die eine Hälfte der Tische sah zur anderen Hälfte – als genüge der strenge Blick der Aufsicht noch nicht, sondern müsse durch die Blicke der jeweils anderen Seite unterstützt werden.
Über jedem Tisch aus dunklem Holz befand sich eine gedämpfte Leuchtstoffröhre, und wenn Papst nur flüchtig von seinem Ende in der hintersten Reihe aufblickte, sah er nichts weiter als dieses Heer rötlichgelber Leuchtstoffröhren, über denen – in kaum mehr als drei, vier Metern Höhe – schon wieder dieselbe Finsternis begann, wie sie an trüben Novembertagen auch draußen herrschte.
Drei Glastüren an der Breitseite wurden manchmal geöffnet: immer lautlos, denn jeder der Eintretenden schien zu wissen, dass Ruhe und Ordnung das oberste Gebot war. Ein Schild neben dem Eingang verbot das Mitbringen von Essen und Getränken.
Hier wird also für einige Wochen mein Arbeitsplatz sein, dachte Papst und musterte manchmal von seinem Holzsessel aus den Buchbestand an den Wänden.
In den Wandregalen unten auf der Zwischenetage standen die Gebiete Politik, Philosophie, Militärwesen, Klassiker des Marxismus-Leninismus, Psychologie und Pädagogik, ferner Geschichte, Kunst und Recht, doch der größere Teil der Werke wurde an den beiden Ausgaben in der Vorhalle bestellt und aus riesigen, für Leser unzugänglichen Magazinen geholt.
Da Julia mit der Ankündigung weggegangen war, sie wolle sich um die Zuweisung seines Arbeitsgebietes kümmern, blätterte er in der alten militärtechnischen Ausgabe eines Düsseldorfer Verlages aus dem Jahre achtundfünfzig.
Nach einiger Zeit sah er auf die Uhr über dem einen Saaldurchgang: merkwürdig, überlegte er, sie muss schon eine gute halbe Stunde fort sein.
Er hatte erwartet, dass sie in Begleitung eines Angestellten zurückkommen würde, doch als sie in den Flügeltüren erschien, war sie allein und gab ihm nur einen Wink, ihr zu folgen.
„Es ist oben“, sagte sie. „Herr Felder erwartet uns.“
„Felder?“
„Ein umgänglicher Mensch.“
„Von der Universität oder einer der Bibliothekare?“
„Ich weiß nicht ... aber was spielt das schon für eine Rolle?“ Sie ging voraus.
Das Zimmer, in das sie ihn führte, war ein winziger Raum hinter einer weißlackierten Tür, in dem sich nichts weiter als ein Schreibtisch und zwei Stühle befanden. Der Mann auf der anderen Tischseite nickte Papst wohlwollend zu.
„Na ausgezeichnet. Willkommen in Leipzig“, sagte er.
Seine Stimme klang tief und bestimmt. Er hatte die Angewohnheit, während der Sprechpausen manchmal mit dem Daumen über seine Schneidezähne zu streifen.
Papst schätzte ihn auf etwa fünfundfünfzig. Kein Fältchen verunzierte sein lang gestrecktes, schmales Gesicht. Die Ohren waren etwas zu klein geraten: als hätten sie im Kindesalter aufgehört zu wachsen.
„Ich werde draußen warten“, sagte Julia und setzte sich, ehe er protestieren konnte, auf den einzigen Stuhl im Gang, der nach Papsts Überzeugung allein für diesen Zweck hinausgestellt worden war.
„Zigarette? Nein, richtig – Sie sind Nichtraucher. So laufen Sie nie Gefahr, im Bett zu verbrennen.“
Er legte das unangebrochene Päckchen lächelnd in die Schublade zurück.
„Worauf spielen Sie an?“
Der andere überging seine Frage. „Wir werden in den nächsten Wochen gelegentlich miteinander zu tun haben. Neben Julia bin ich Ihr zweiter Kontaktmann. Sie können sich mit allen Problemen oder Beschwerden an mich wenden.“
„Sind Sie mein unmittelbarer Vorgesetzter an der Universität?“
„Nicht direkt.“
„Wann werde ich ihn sehen?“
„Nachmittags. Wenn Sie Ihren Vertrag unterschreiben. Unsere Republik will jedem Neuankömmling die Eingliederung erleichtern. Dazu werden solche Kontaktleute wie ich eingesetzt.“
„Was ist mein erstes Arbeitsgebiet?“
Felder schien diese Frage erwartet zu haben. Er legte ein maschinengeschriebenes, etwas vergilbt aussehendes Manuskript im DIN-A4-Format auf den Tisch.
„Da Sie mit unserem System sympathisieren, sind Sie sicher auch in seiner Geschichte bewandert. Sie erinnern sich, dass Lenin, als er aus sibirischer Verbannung kam, unter dem falschen Namen Meier in München lebte und dort die erste Nummer der Iskra – auf deutsch ‚Der Funke’ – herausgab?
Neben dieser nach Russland geschmuggelten neuen Zeitung sozialistischen Typs verfasste er, was wenig bekannt ist, einige kurze politische Schriften in deutscher Sprache, von denen in unseren Archiven Kopien maschinengeschriebener Manuskripte existieren. Sie wurden in Lenins Auftrag von verschiedenen Mitarbeitern nach seinen handgeschriebenen Manuskripten angefertigt und sollten unter deutschen Sozialdemokraten verbreitet werden. Lenin wohnte damals bei einem sozialdemokratischen Gasthausbesitzer namens Rittmaier, ehe er in eine Mietskaserne nach Schwabing umzog.
Es war kurz vor der Abfassung seiner bekannten Schrift ‚Was tun?’, und viele Gedanken finden sich bereits in diesen vorausgehenden Arbeiten. Sie können sich denken, dass sie für die Geschichte des Sozialismus von allergrößter Bedeutung sind.
Wir halten es für möglich, dass der Schwiegersohn Rittmaiers – angeblich treuer Sozialdemokrat, in Wirklichkeit aber ein eingeschleuster Spitzel – eine Fälschung verfasste, die viele abweichende und verzerrende Meinungen enthält, da er zu dieser Zeit ebenfalls an den Manuskriptabschriften arbeitete.
Ihr Titel ist ‚Die Basis der sozialistischen Revolution’.“
Felder tippte auf den Stapel Papiere vor sich.
„Es dürfte schwierig, aber für Sie als einen Experten im Sprachvergleich nicht unmöglich sein, an Hand anderer deutschsprachiger Schriften Lenins – wie z. B. „Das Militärprogramm der proletarischen Revolution“ von 1916 – nachzuweisen, dass Lenin nicht der Verfasser sein kann.“
Er schwieg und musterte Papst erwartungsvoll.
„Leider ist die Lösung des Problems nicht inhaltlich, sondern nur auf der Grundlage von Sprachstrukturen denkbar. Wir nehmen an, dass Ihre Methode dazu die geeignetste ist.“
„Sie haben sehr lange für diesen Verdacht gebraucht.“
„Oh – die Frage stellt sich uns natürlich seit vielen Jahren. Es war bisher nie möglich, den exakten wissenschaftlichen Nachweis zu führen. Deshalb schätzen wir Ihre Mitarbeit in unserer Republik ganz besonders.“
Er reichte ihm das Manuskript. „Und dies ist eine Liste aller in Frage kommenden Vergleichsschriften. Ich möchte Sie nur bitten, die Arbeit vertraulich zu behandeln, weil ihre Veröffentlichung zu Missverständnissen in den Auffassungen Lenins führen könnte.“
„Und Julia?“, fragte er.
„Ist eingeweiht …“
„Haben sich schon andere Experten damit befasst?“
„Von der inhaltlichen Seite, ja. Dr. Alfons Margott, der bekannte marxistische Theoretiker und einige russische Fachgelehrte, die des Deutschen genügend mächtig sind. Sie gelangten zu keiner eindeutigen Stellungnahme. Verstehen Sie uns richtig! Wir sind immer davon überzeugt gewesen, dass es sich um eine Fälschung handelt, aber dieses Urteil ist eher intuitiver Natur.
Wladimir Iljitsch kann seine Ansichten nicht innerhalb weniger Wochen derart geändert haben. Es war ein konterrevolutionäres Störmanöver. Weisen Sie es durch sprachvergleichende Untersuchungen nach. Ein Platz in der Literaturgeschichte dürfte Ihnen sicher sein.“
„Man sagte mir, das Denken nach solchen Gesichtspunkten sei hier verpönt?“
„Unsere beiden Bruderstaaten sind nicht so weit voneinander entfernt, wie man immer glaubt. Sie werden manche Gemeinsamkeiten entdecken.“
Er lächelte breit und strich wieder über seine Schneidezähne.
„Im Guten wie im Schlechten. Denken Sie nur an die menschlichen Erleichterungen der letzten Monate …“
Felder reichte ihm die Hand, um ihn zu verabschieden. Papst hätte sich gern nach seiner genauen Funktion an der Universität erkundigt. Doch da er nicht ausschloss, dass man irgendeinen verdienten Funktionär der Partei zu seiner Betreuung abgestellt hatte, unterließ er die Frage.
Julia wandte ihm den Rücken zu, als er wieder im Gang war. Sie sah auf das angebaute Magazin der Bibliothek hinaus. Es wirkte wie ein überdimensionaler, auf die Seite gelegter Container und überragte mit seinen glatten, fensterlosen Fassaden aus Kunststoff das Dach des Hauptgebäudes. Ein Gang in der ersten Etage verband es mit dem altertümlichen Hauptteil. Dahinter war, zwei Straßen entfernt, die vergoldete Turmspitze der russischen Gedächtniskirche zu sehen.
„Nun?“
„Meine erste Arbeit“, sagte er und schlug auf die Mappe unter seinem Arm.
„Dann lass uns jetzt zum Essen gehen. Um zwei unterschreibst du deinen Vertrag an der Universität.“
Sie fuhren mit der Straßenbahn ins Zentrum. Man musste sich die Streifenkarten vor Antritt der Fahrt besorgen, aber Julia hatte vorgesorgt.
Es war ein Lokal in der Nähe des Alten Rathauses. Obwohl man einen Tisch für sie reserviert hatte, ließ das Essen auf sich warten, und während Julia in den Waschraum ging, blätterte Papst ein wenig in dem Manuskript.
Offenbar war es keine Kopie wie die Vergleichsarbeiten und schon sehr alt: Flecken, Eselsohren und vergilbtes Papier deuteten darauf hin, dass es zwei Weltkriege überdauert hatte.
Ein wenig wunderte es ihn, dass man ihm ein historisches Dokument ohne weitere Vorbehalte überließ. Felder hatte ihn nicht einmal dazu angehalten, besonders sorgsam damit umzugehen, wenn man Von seiner Befürchtung absah, es könnte in der Öffentlichkeit ein falsches Bild Lenins erzeugen.
Einige Korrekturen waren handschriftlich mit schwarzer Tinte hinzugefügt. Natürlich ist es nichts wert, wenn es sich um eine Fälschung handelt, dachte er. Und davon gehen sie aus. Die Arbeit reizte ihn; aber er hatte es sich Felder gegenüber nicht anmerken lassen.
Nachdem Papst an der Universität seinen Vertrag unterschrieben hatte, verspürte er wenig Lust, noch einmal in die Bibliothek zurückzukehren. Julia bestärkte ihn darin, dass der erste Arbeitstag in Ruhe und Zerstreuung zugebracht werden müsse; alles andere sei ein schlechtes Vorzeichen.
Schröder hatte ihn ebenfalls dazu ermuntert. Er war stark übergewichtig, ein gemütlicher Mann, der jedes Kleidungsstück anfertigen lassen musste, und Papst hätte sich keinen besseren unmittelbaren Vorgesetzten wünschen können.
„Sehen Sie sich die Stadt an. Ihre Arbeitszeit in der Bibliothek halten wir flexibel. Außer samstags und sonntags ist der Lesesaal bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet. Selbstverständlich können Sie auch abends arbeiten.“
Er schien ihm die Arbeit in den Abendstunden geradezu aufdrängen zu wollen.
„Im Übrigen kontrolliert Sie niemand.“
Das Hauptgebäude der Universität war in einem Hochhausturm untergebracht, einem einseitig abgeschrägten Obelisken. Über den Aufzug der angrenzenden Halle gelangte man in ein Panoramacafé.
Während sie dort oben saßen und Papsts Blick über die Häuserdächer und kahlen Parkanlagen glitt, kam ihm die Idee, sich zu erkundigen, was Julia veranlasst hatte, in den Osten zu gehen. Es war eine eher beiläufige Frage.
Ihre Reaktion irritierte ihn.
„Weißt du … es wäre zu kompliziert, dir das alles – lass uns ein andermal darüber reden.“
Er hatte geglaubt, ihre Gründe seien ganz ähnlich wie seine.
„Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Lass uns etwas trinken gehen“, schlug sie vor. Ihre Stimme klang rau. „lm Merkur nahe beim Hauptbahnhof bekommt man um diese Zeit immer einen Platz.“
Es war das beste Hotel der Stadt, ein gigantischer Bau, innen voller Marmor, getöntem Glas und Chrom. Papst wunderte sich ein weiteres Mal, welchen Standard man trotz aller armseligen, dunkel patinierten und abbröckelnden Fassaden aus der wilhelminischen Zeit zustande brachte, wenn man, wie er an den Gästen bemerkte, auf westliche Devisen aus war.
Die Preise an der Bar glichen denen von London oder Paris.
Zum Glück hatte er sich bereits mit genügend Ostmark eingedeckt. Es war das einzige, was ihm Schröder mit beschwörender Stimme ans Herz gelegt hatte:
„Lassen Sie sich um Gottes willen nicht dazu verleiten, Ihre Westmark schwarz auf der Straße zu tauschen, falls Sie angesprochen werden. Auch wenn der Umtauschkurs wesentlich günstiger ist. Es würde Sie unweigerlich in größte Schwierigkeiten bringen.“
Er war sehr bedacht darauf, dass Papst es ihm hoch und heilig versprach. Schon der bloße Gedanke an diese Komplikation schien seine gewaltigen Fleischmassen in nervöses Zittern zu versetzen.
„Sieh dir diese Mädchen an“, flüsterte Julia an der Bartheke. „Es sind sozialistische Huren, die auf reiche Westler warten. Ihre Hochsaison ist während der Messewochen.“
Papst wandte den Kopf. Die beiden Mädchen am anderen Ende der Theke taxierten ihn; das Gesicht des einen verzog sich zum Lächeln. Sie saßen ohne Begleitung da und nippten an ihren Gläsern.
„Was denn – ich dachte, so was sei im Sozialismus aus der Mode gekommen?“
Eine der beiden, sie war mager und rothaarig, starrte dümmlich über seinen Kopf hinweg.
„Gewöhnlich schon.“
„Warum hast du mich hierher gebracht?“
„Einfach, um dir einen Gefallen zu tun.“
„Mit diesen Mädchen?“
Sie blickte weg – wandte ihm aber wieder das Gesicht zu, als er schwieg. „Du sollst nicht glauben, es sei schwierig, hier Kontakte zu knüpfen, wenn dir danach ist.“
„Wenn mir danach ist?“ Er griff hart nach ihrem Arm. „Wer hat dich dazu beauftragt? Es war Felder, nicht wahr?“
Sie zuckte die Achseln, dann nickte sie.
„Sehr unklug von ihm.“
„Man glaubt, du seiest vom Westen her gewisse Verhältnisse gewohnt“, sagte sie unwillig. „Felder wollte nur, dass du dich wohl fühlst. Nichts weiter.“