Читать книгу Ein Fall von großer Redlichkeit - Peter Schmidt - Страница 9
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ОглавлениеEs war Papsts Wunsch, einige soziale Einrichtungen zu besuchen, als man ihn fragte, wofür er sich im anderen Deutschland besonders interessiere, und so wurde er von Julia nach Telefonaten Felders an ihren freien Vormittagen in eine polytechnische Schule, einen kleinen Vortrag über das Bildungssystem und eine Kinderkrippe geführt.
Am meisten beeindruckte ihn die liebevolle Art, mit der kleine Kinder untergebracht waren. Sie lebten dort ganztags in überschaubaren Gruppen, von jeweils einer Erzieherin betreut. Um die Mittagszeit wurden Klappbettchen in den Spielraum gestellt, und da es „Schlafstempelchen“ in ein Heft gab, auf die sie sehr versessen waren, tobte keines der Kleinen während der Mittagsruhe herum, sondern alle kniffen fest die Augen zu.
Den Älteren merkte er ein Gefühl gemeinsamer Anstrengung an – mochten sie auch für solche Besichtigungen ausgewählt sein. Die Stimmung des Aufbruchs war vielerorts verbreitet.
Es überraschte ihn ein wenig, endlich zu finden, was er sich vorgestellt hatte …
Einige traten ihm sogar mit ungewöhnlicher Herzlichkeit entgegen.
Dass jemand aus dem Westen kam, schmeichelte vielleicht ihrem Selbstwertgefühl. Gewiss würde es wie überall auch hier Misstrauen, Missgunst, Arbeitsunlust und Desinteresse geben. Ihre Sorgen um die wechselseitige Aufrüstung und die Angst vor dem Gegner klangen aber auf dieser Seite genauso glaubwürdig wie drüben.
Ehe er zur Bibliothek fuhr, stellte er für Heddas Kinder ein kleines Paket aus thüringischem Holzspielzeug zusammen; Wägelchen und Reiter, die noch nach frischer Farbe und Leim rochen. Er packte es in einen vorbereiteten, adressierten Karton und gab es gleich zur Post. Er legte einige Zeilen dazu:
„Ankunft wie erwartet. Keine besonderen Vorkommnisse. Wolfhard.“
Sicher interessierte es sie wenig, oh es besondere Vorkommnisse gab oder was er trieb, und sie würde den Zettel achtlos wegwerfen. Trotzdem fühlte er sich zu einem Lebenszeichen verpflichtet.
Danach aß er in einem kleinen Kellerlokal der Altstadt zu Abend.
Am Vortage hatte er, als er mit der Gabel auf ein Salatblatt schlug, aus der kalten Platte, die man frühen Abendbrotgästen im Hotel servierte, einen Kakerlak laufen sehen – und danach noch einen, der eilig die waagerechte Leiste einer spanischen Wand entlang rannte.
Er erinnerte sich, in der Hotelhalle jemanden seinen Nachbarn fragen gehört zu haben, ob es auf seinem Zimmer auch nach Insektenvertilgungsmitteln rieche. Die Antwort war, dass der Kammerjäger im Haus unterwegs sei.
In einem westlichen Hotel hätte er wegen dieses Vorfalls sicher sofort den Küchenchef gerufen; doch hier war es ihm peinlich, wenn sich der Mann vor jemandem aus dem Westen eine Blöße gab. Immerhin verdarb es ihm so weit den Appetit, dass er auf eigene Kosten in einem anderen Restaurant aß.
Das Essen war gut und preiswert; von der Schwierigkeit, einen freien Tisch zu finden und den langen Wartezeiten abgesehen. Selbst die Rechnung wurde zu einem bislang unbekannten Hindernis auf dem Wege ins Freie. Es schien, als sei das Kassieren eine besonders lästige Arbeit. Ein Trinkgeld nahm man aber gerne an. In Zukunft würde er einige Arbeitspapiere einstecken, damit die Zeit nicht so lang wurde.
Felder hatte ihm einen Ausweis beschafft, der ihn zur Ausleihe sämtlicher Werke aus dem Magazin berechtigte, auch jener, für die man gewöhnlich eine Sondergenehmigung benötigte.
„Es wird Ihre Arbeit erleichtern, aber machen Sie um Gottes willen keine Reklame damit. Und lassen sie ihn oder die Bücher nicht unbeobachtet auf den Tischen liegen“, hatte er ihm ans Herz gelegt.
Als Papst die Stufen des Bibliothekseingangs nahm, warf er einen spöttischen Blick zu den goldenen Lettern über dem Portal hinauf, denn sie lauteten:
Freie Statt
Für freies Wort
Freier Forschung
Sichrer Port
Reiner Wahrheit
Schutz und Hort
Es würde wohl noch eine Weile dauern, ehe sich dieser hohe Anspruch uneingeschränkt erfüllen ließ. Aber momentan brannten ihm solche Ungereimtheiten weniger auf den Nägel als früher, denn das Neue Deutschland hatte in einem Leitartikel „weitere Freiheiten beim Bezug ausländischer Buch- und Zeitschriftenpublikationen“ angekündigt.
Schon das Eingeständnis, dass es diese Freiheiten bisher nicht gegeben hatte, musste als eine kleine Sensation bewertet werden. Es bestätigte nur den erstaunlichen Wandel in der Politik der letzten Monate.
An der Pforte hatte er wie gewöhnlich seinen Leseausweis vorzuzeigen. Der ältere der beiden Hausmeister kannte ihn bereits und verzichtete jetzt manchmal darauf. Ein kleines Problem gab es im Garderobenraum, da die einzige Bedienung, eine resolute, magere Frau, den Leserandrang kaum bewältigen konnte und schimpfend verlangte, man solle nicht hintereinander stehen, sondern sich an der Theke verteilen.
Dann befahl sie militärisch barsch jedem „Abholen“, seine Kleidermarke vor sich auf den Tisch zu legen.
Sie sammelte sie ein, ordnete sie nach der Zahlenfolge und brachte so mit wenigen Schritten einen Arm voller Kleider, aus denen sich jeder sein Teil herausziehen musste ...
Es war immer das gleiche entwürdigende Spiel; man ertrug ihre Unhöflichkeiten lächelnd und ohne Protest.
Als Papst seine Unterlagen von der Magazinausgabe geholt und sich an seinen Platz nahe der Holztreppe gesetzt hatte, den er seit zwei Tagen belegte, entdeckte er plötzlich einige Tischreihen entfernt eine bekannte Gestalt.
Kein Zweifel ... schließlich war er wochenlang Nacht für Nacht mit ihm unterwegs gewesen. Er beugte sich vor und fuhr sich ungläubig mit der Hand über die Augen – dieselbe farblose Haut eines Albinos, die wimpernlosen Augen, das strohblonde, glatt zurückgekämmte Haar – Alex Margott!
Der andere saß in der entgegengesetzten Saalhälfte und kehrte ihm das Gesicht zu. Er las in einem Buch. Es sah so aus, als habe er Papst noch nicht bemerkt. Ein Stapel anderer Bücher und Unterlagen, in die er ab und zu etwas notierte, lag vor ihm.
Papst erhob sich ungläubig; er ging eilig durch den Mittelgang auf ihn zu. Seine schnellen, lauten Schritte erregten Aufmerksamkeit. Einige Lesende hoben missbilligend die Köpfe, und er verlangsamte seinen Gang.
Als er nur noch wenige Meter von Margotts Tisch entfernt war, blieb er stehen, denn der andere blickte langsam auf. Papst wollte etwas sagen, doch Margotts ausdrucksloser Blick glitt über ihn hinweg, streifte die regungslose blau gekleidete Frauengestalt am Aufsichtspult – und kehrte zu seinen Unterlagen zurück.
„Hallo.“
Der andere schien nichts gehört zu haben. Er trug denselben ungepflegten, an den Taschen und Umschlägen speckig glänzenden Anzug, den sein Bruder bei der Beerdigung getragen hatte.
Doch sein Gesicht wirkte um einige Jahre jünger … wenn Papst auch, je länger er es im Lichtkreis der rötlichen Leuchtstoffröhre betrachtete, Zweifel kamen. Immerhin war es nicht ganz so jung wie das seines verstorbenen Freundes – als sei es künstlich gealtert.
„Alex ...?“
Der Mann vor ihm hob noch einmal den Blick. Er sah erst ihn, dann fragend seinen Nebenmann am Tisch an, der ohne etwas zu bemerken weiterlas, und erkundigte sich: „Sprechen Sie mit mir?“
„Ich dachte, wir kennen uns.“
„Oh, tatsächlich?“ Seine Aussprache hatte einen kaum merklichen sächsischen Akzent. „Nein, bedaure.“
Es ist Alex‘ Bruder, dachte Papst enttäuscht. Offenbar hatte er sich in den wenigen Wochen seit dem Tode seines Bruders stark verändert.
So etwas kam vor. Dass er Papst von der Beerdigung her nicht wiedererkannte, musste nichts zu besagen haben. Unter solchen Umständen war es verständlich, wenn man die Gesichter von Trauergästen vergaß.
„Bitte, entschuldigen Sie“, flüsterte er und kehrte an seinen Tisch zurück.
Während er in Lenins „Die Basis der sozialistischen Revolution“ blätterte, irrten seine Gedanken ah. Doch so oft er auch prüfend zu Margott hinübersah – ihre Blicke trafen sich nie …
Papst versuchte sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, aber die Gestalt dort drüben hinter dem Bücherstapel ließ ihn nicht mehr los. Gewaltsam zwang er sich, eine Textpassage zu analysieren …
Sie handelte davon, dass die Kommunistische Partei Arbeiter und Bauern an den entscheidenden revolutionären Kampf heranführte.
Der ausschlaggebende Impuls ging von den Ideologen aus. Es kam darauf an, dass die Partei, nach Lenin, eine angemessene Form des Übergangs ausfindig machte.
Das Mittel der Gewalt und des Krieges musste nach seiner Überzeugung die Revolution in den Augen der übrigen unterdrückten und ausgebeuteten Welt diskreditieren und war wenn möglich zu umgehen. Daher propagierte er eine Übernahme des Machtapparats mit anderen Mitteln …
An dieser Stelle hielt Papst inne. Es war eine höchst unglaubwürdige Formulierung. Er wühlte in dem Stapel Bücher, die er sich nach Felders Liste aus dem Magazin besorgt hatte, und nahm die Arbeit Sozialismus und Krieg zur Hand, wo sich der Satz fand:
„ …dass wir die Berechtigung, Fortschrittlichkeit und Notwendigkeit Von Bürgerkriegen voll und ganz anerkennen ...“
Auch an anderen Stellen vertrat Lenin die Überzeugung, eine „gewaltsame Revolution“ sei unausweichlich, so schon in der Schrift „Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie“ aus dem Jahre 1899. Nur in seltenen Fällen seien friedliche Veränderungen denkbar, beispielsweise „in einem kleinen Staat, nachdem im großen Nachbarstaat die soziale Revolution gesiegt hat“. Viel wahrscheinlicher sei es allerdings, „dass auch in den kleinen Staaten der Sozialismus nicht ohne Bürgerkrieg verwirklicht wird“.
Das Mittel der gewaltlosen Übernahme war also eine Fälschung, wollte man nicht annehmen, Lenin habe seine Ansichten zunächst gegenüber früheren und dann wieder in den späteren Schriften geändert. Es war eine Auffassung, die sich der orthodoxen Lehre von Marx und Engels annäherte, wonach zumindest in England und Amerika eine friedliche Übernahme der Macht denkbar sei.
Hingegen fand sich in einem Brief Marx‘ an Kugelmann der Hinweis, es gehe nicht darum, „die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen“.
Hatte Rittmaiers Schwiegersohn möglicherweise nichts weiter beabsichtigt, als diese Widersprüche zu glätten?
Es würde, wie Felder ganz richtig behauptete, nur durch eine sprachvergleichende Untersuchung zu klären sein. Dazu war es notwendig, Satztypen zu klassifizieren, sie nach ihrer Häufigkeit zu ordnen und sie mit Hilfe einer komplizierten Methode zu gewissen Wendungen und Wortarten in Beziehung zu setzen. Eine Arbeit, die Wochen dauern konnte.
Papst machte sich lustlos ans Werk.
Er beobachtete, dass Margott sich jetzt öfter erhob und einzelne Bücher austauschte, nachdem er kurz mit ihnen gearbeitet hatte. Manchmal ging er eine der vier hölzernen Treppen zur Galerie hinauf, blätterte für Augenblicke in einem Band und stellte ihn zurück. Er schien in der Hauptsache den Buchbestand des Lesesaals zu benutzen.
Einmal stand er oben an der Balustrade und sah lange und nachdenklich auf die Lesenden herab.
Als es kurz vor Bibliotheksschluss war, brachte er einige Bände ins Magazin zurück und ließ sie dort unter seinem Namen ablegen. Die Abgabetheken in der Vorhalle waren nach Bereichen aufgeteilt: auf der linken Seite A bis K, rechts L bis Z. So kam es, dass sie sich wegen der Anfangsbuchstaben ihrer beiden Namen an derselben Abgabe begegneten.
Papst hatte das Gefühl, Margott schaue durch ihn hindurch, als er sich von der Theke abwandte; selbst jetzt, nach dem Zwischenfall im Lesesaal, war es, als seien sie sich völlig fremd, und er habe die kurze Episode längst vergessen.
Er holte seinen Mantel aus der Garderobe und folgte Margott die Straße des 18. Oktober entlang.
Der andere ging in Richtung auf das Völkerschlachtdenkmal, hinter dem der Südfriedhof lag. Die Gegend war verlassen, außer ihnen beiden konnte er niemanden entdecken, nicht einmal ein Auto fuhr.
Papst ließ den Abstand größer werden, um nicht aufzufallen. Irgendetwas veranlasste ihn, der schäbigen vorgebeugten Gestalt immer weiter zu folgen …
Dunst breitete sich unter den wenigen rötlichen Straßenlampen aus. Er verpasste die Bordsteinkante und es gab ein schepperndes Geräusch, als sein Fuß abglitt und er auch noch auf eine leere Dose in der Rinne trat …
Doch Margott blickte sich nicht um. Kalter Wind kam aus den Querstraßen. Neben einem freien Baugrundstück schlug er seinen Mantelkragen hoch. Papst hatte das Gefühl, die Finsternis nehme noch zu, obwohl sich der Abstand zwischen den wenigen Straßenlaternen nicht vergrößerte.
„An der Tabaksmühle“, kurz vor dem düsteren Völkerschlachtdenkmal, bog Margott rechts ab, schloss ein niedriges Gartentürchen aus schiefen Latten auf und betrat die Gartenlaube.
Sie lag ein Stück zurückgesetzt hinter kahlen Obstbäumen; nicht viel mehr als vier bucklige, grün gestrichene Wände und ein Dach aus Balken, mit Teerpappe belegt. Das Licht in einem der beiden Fenster ging an. Der Vorhang wurde zugezogen.
Papst stand regungslos im Schatten einer hohen Felssteinmauer.
Bald stieg aus dem kleinen Kamin im Flachdach Rauch auf.
Von weit her bellte ein Hund. Zwischen den abgeernteten Beeten lagen Reste angetauten Schnees. Ein hüfthoher Drahtzaun, der an manchen Stellen löchrig und mit Stücken aus Fliegennetz geflickt war, umspannte das Grundstück. Weiter hinten begann ein Gehölz. Wegen der Dunkelheit konnte er nicht erkennen, wie tief es reichte. Einmal war aus dem Inneren der Gartenlaube ein kreischendes Geräusch zu hören – wie von einer Küchenmaschine; vielleicht ein elektrischer Handmixer.
Er wartete gut eine Stunde, ohne recht zu wissen warum. Kälte kroch an seinen Beinen hinauf. Trotz des wattierten Mantels begann er zu frösteln.
Nur einmal fuhr ein grauer Wartburg langsam durch die Straße, umrundete den Block aus Parkwald und Gärten, zwischen denen unkrautüberwucherte Grundstücke lagen, und beschleunigte plötzlich, als er zum zweiten Mal dieselbe Stelle passierte und auf Papsts Höhe war. Gegen zwölf erlosch das Licht in Margotts Fenster, und er machte sich auf den Rückweg zum Hotel.