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Kapitel 4: Knotenkniffligkeiten

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Die Hochebene südlich von Winzlingen ist ein lang gestreckter Ausläufer der Vorgebirge, die im Westen in die Vulkanberge übergehen. Struppiges Gras, mit Steinbrocken durchsetzt, kennzeichnet ihre leicht abschüssige Oberfläche.

Die Aussicht auf das Tal, die Stadt Winzlingen und den könig-zwergiglichen Palast auf der Insel inmitten des Seerosengrabens war atemberaubend. Was Patrick den Atem aber mehr beraubte, war die Tatsache, dass er an einen Baumstamm gefesselt war. Ansonsten hätte er die Aussicht bestimmt besser zu würdigen gewusst.

Die Grenzwachen hatten ihn vor sich hergetrieben, aus den Wäldern auf die Grasebene hinaus.

„Was habt ihr mit mir vor?”, hatte Patrick gefragt.

„Na, was wohl?”, gab einer der Bewacher zurück. „Du wirst in den Palast gebracht und sobald der König Zeit findet, wird er entscheiden, was mit dir zu geschehen hat.” Er hob mit gespieltem Bedauern die Schultern. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einem Hochstapler besondere Gnade zuteil werden lässt.”

Er drängte Patrick mit seiner Spießwaffe weiter vorwärts und während sie über die Hochebene wanderten, bemerkte der Junge einen Punkt am Himmel, der hin und her zu taumeln schien.

Aber dann rief der eine Zwerg aus: „Was ist denn da los?”, und er meinte damit nicht den Punkt am Himmel, denn er war bis zur Kante der Hochebene vorgetreten, und er zeigte nicht nach oben, sondern auf die Landschaft um die Zwergenhauptstadt herum.

Dort wimmelte es von bewaffneten, brüllenden Angreifern.

Den Wachen fielen fast die Augen aus dem Kopf. „Ein Angriff auf die Hauptstadt!” – „Sind das nicht diese verfluchten Grubengnome?” – „Das sieht ja übel aus!” – „Komm, wir müssen da runter!”

Als der eine schon losrennen wollte, hielt ihn sein Spießgeselle zurück. „Was machen wir mit dem da?”

Ratlos betrachteten sie Patrick. „Den können wir jetzt nicht gebrauchen. Wir lassen ihn hier.”

„Gut, aber wir sollten ihn zumindest fesseln.”

„Dazu ist keine Zeit. Komm schon.”

Patrick schöpfte Hoffnung, doch der zweite Wächter hatte bereits ein Seil entrollt. Er drängte ihn gegen einen Baum und begann ihn fachmännisch festzubinden. Die schartige Borke pikte Patrick in den Rücken, während sich die Seilwindungen immer enger um seinen Oberkörper legten. Plötzlich fiel ihm Quakarotti ein. „He, passt wenigstens auf meinen Frosch auf!”

„Was ist los?”

„Der Frosch in meiner Hemdtasche!”

„Versuch nicht abzulenken, Freundchen.” Er zog die letzten Windungen stramm und vollendete sein Werk mit ein paar festen Knoten.

Patrick schwirrte der Kopf. Wie sollte er hier wieder herauskommen? Was bedeutete der Gnomenangriff?

„Nun komm endlich!” – „Fertig.” Der Grenzwächter packte seine Hellebarde und folgte seinem Kollegen im Laufschritt den Pfad die Böschung hinab. Nach wenigen Sekunden waren ihre Köpfe hinter der Kuppe verschwunden und Patrick war allein zurückgeblieben.

Jetzt stand er also einsam und fest verschnürt auf der Hochebene und hatte wahrscheinlich von allen Beteiligten den besten Blick auf das Kampfgeschehen. Er sah genau, dass die Gnomenmassen nicht nur die Stadt und die umliegenden Freiflächen erobert hatten, sondern sich auch vor der Brücke zur Palastinsel tummelten. Das Klirren ihrer Waffen und ihr heiseres Geschrei klangen sogar bis zu ihm auf die Hochebene hinauf, obwohl er sich bestimmt einen Kilometer weit weg von der Hauptstadt befand. Patrick konnte die Gegenwehr der Zwerge beobachten, die die Palastmauern mit Speeren und Pfeilen verteidigten. Zwischen den Häusern der Stadt wurde nur noch vereinzelt gefochten – Winzlingen schien weitgehend in der Hand der Angreifer zu sein. Ihre Übermacht wirkte erdrückend.

Im Hintergrund, jenseits der Stadt, sah Patrick die Hohe Klippe aufragen, mit Torturiels Festung dicht unter dem Spitzgipfel. Rötliche Nebel umwaberten das Bergmassiv.

Dieser winzige Punkt am Himmel irritierte ihn. Er hatte nichts mit der Hohen Klippe zu tun; er bewegte sich vielmehr aus dem Luftraum über dem Palast in einem weiten Bogen über das Schlachtfeld, um dann Ziel zu nehmen auf …

Auf die Hochebene. Patrick kneistete. Kein Zweifel: Dieser Punkt hielt geradewegs auf ihn zu. Das Sonnenlicht blendete Patrick, deshalb war es ihm unmöglich zu erkennen, worum es sich handelte.

Dann lenkte ihn eine Berührung ab, die er an seinem rechten Fuß spürte. Er verrenkte den Hals, um hinunterzuspähen.

Da ringelte sich etwas.

Die Fesseln saßen stramm und hinderten ihn, es genauer in Augenschein zu nehmen. Doch schon zwei Sekunden später war dies kein Problem mehr, denn das Etwas erwies sich als sehr entgegenkommend, indem es sich sein Bein heraufschlängelte.

Patrick fühlte ein Kribbeln auf der Haut. Schon wieder eine Schlange! Er erkannte genau die doppelspitzige Zunge, die in eifrigen Stößen aus dem Maul herauszuckte. Aber das hier war keine Schlickschlange. Giftgrün war das Tier, dünn und kaum zwanzig Zentimeter lang, doch es wirkte sehr selbstbewusst und schob sich emsig an seinem Bein in die Höhe. Wade. Knie. Oberschenkel. Der kleine Kopf schwenkte forschend hin und her. Zungenzüngeln. Patrick brach Schweiß aus. Jetzt richtete die Schlange ihren scharfen Blick direkt auf ihn. Er war wie hypnotisiert von den geschlitzten Pupillen. Noch höher kroch das Reptil, über Hüfte und Bauch, über die Windungen des Seils, erreichte fast Halshöhe, verhielt, tastete suchend umher …

Und stieß zu!

Patrick entfuhr ein Schreckenslaut, als der Schlangenkopf sich blitzschnell in seine Hemdtasche vergrub.

Entsetzt beobachtete er, wie ein wildes Gerangel in der Tasche losbrach. Zischen, Quaken, Fauchen und dissonante Tonintervalle mischten sich zu einem ohrenbetäubenden Gezeter. Als Höhepunkt schoss Quakarotti senkrecht aus der Tasche; knapp hinter ihm folgten die zuschnappenden Schlangenkiefer. In hohem Bogen landete der Frosch im Gras und suchte mit wilden Sprüngen das Weite. Die Schlange schickte ihm ein wütendes Zischen hinterher. Patrick wünschte, sie würde ebenfalls seine Brusttasche verlassen, doch das Reptil wand und rekelte sich; er spürte die Bewegungen durch den dünnen Hemdstoff.

„Verschwinde”, flüsterte er dem Tier zu, eindringlich, aber bemüht, es nicht zu reizen. Doch der Schlange schien es in seiner Tasche zu gefallen, sie ringelte sich zusammen und zog ihren Kopf ein.

„Hau ab! Ich kann dich hier nicht gebrauchen!”

„Das ist ja eine nette Begrüßung, mein Junge.”

Patricks Kopf fuhr herum, soweit es die Fesselung zuließ. Neben ihm landete ein seltsames Flatterwesen und auf diesem saß eine wohlbekannte Person in rosa Kleidern und mit spitzem Hut.

„Tun Sie etwas!”, rief er der Fee zu.

Pryssalias Reittier trabte langsam aus und ließ keuchend den Kopf hängen. Sie tätschelte seinen Hals und erkundigte sich: „Gern. Und was?”

Patrick spürte, wie sich alles an ihm verkrampfte. „Ich habe eine Giftschlange in meiner Brusttasche.”

Die Fee zeigte sich erstaunt. „Wie unratsam. Warum denn nur?”

„Sie wollte meinen Frosch fangen.”

„Ich verstehe. Wieso entfernst du sie nicht?”

Patrick verdrehte die Augen und zwang sich zur Ruhe. „Sehen Sie nicht, dass ich gefesselt bin?”

„Tatsächlich. Na, wer tut denn so etwas?”

„Erkläre ich später. Machen Sie mich los! Aber erst holen Sie die Schlange da raus!”

„Nur keine übertriebene Hast. Wie die hochverehrte Feenfürstin so trefflich zu sagen pflegt: Es wird nichts so heiß gegessen wie die Taube auf dem Dach.”

Es dauerte endlose Sekunden, bis die Fee abgestiegen und zu ihm getreten war. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte in Patricks Tasche.

„Keine Gefahr”, verkündete sie. „Das ist nur eine Grüngrasnatter. Vollkommen ungiftig.”

„Sind Sie ganz sicher? Nicht etwa ungiftig beim dritten Versuch?”

„Ganz sicher. Absolut ungiftig für Zwerge.”

„Ich bin kein Zwerg!”

„Ach ja, richtig. Na dann eben auch für Menschen. Ich glaube, ihr behagt deine Körperwärme.”

„Aber sie behagt mir nicht. Nehmen Sie sie raus!”

Die Fee schüttelte den Kopf. „Wenn wir sie jetzt stören, beißt sie vielleicht. Lassen wir sie eine Weile in Ruhe. Später wird sie friedfertiger sein. Wie die hochverehrte Feenfürstin so trefflich zu sagen pflegt: Die Zeit heiligt alle Mittel.” Sie inspizierte Patricks Fesseln auf der Rückseite des Baumstammes. „Aha. Zwergenknoten. Spezielle Knüpftechnik, die nur die Grenzwachen beherrschen.”

Patrick war verblüfft. „Gar nicht blöd”, rutschte ihm raus. Dann verbesserte er sich schnell: „Diese Knotentechnik, meine ich.”

Die Fee ging nicht darauf ein. „Ich werde dich jetzt befreien.”

„Danke”, seufzte Patrick erleichtert.

„Allerdings werde ich wohl ein bisschen zaubern müssen.”

Patrick war sofort alarmiert. „Ist das wirklich nötig?”

„Unbedingt. Zwergenknoten sind Zwergenknoten. Und Grenzwachenzwergenknoten sind Zwergenknoten hoch zwei.”

„Ich will keine Zaubereiversuche! Wer weiß, ob Sie meine Hände nicht in Marmelade verwandeln, oder den Baum in ein mordgieriges Monster!”

„Aber beim dritten Versuch -”

„Ich will nicht mal einen ersten Versuch! Machen Sie’s per Hand, na los!”

„Zwergenknoten? Weißt du überhaupt, was du da verlangst, Patrick?”

„Schneiden Sie das Zeug einfach durch! Los, suchen Sie mal in meinen Hosentaschen, da muss irgendwo ein Taschenmesser sein.”

Widerstrebend durchsuchte die Fee Patricks linke Hosentasche und beförderte allerlei Dinge zutage: zerknüllte Taschentücher, Krümel von Kartoffelchips, Kaugummireste, ein zerknittertes Dschungeljungs-Sammelbild, eine Fernbedienung …

Sie runzelte die Stirn. „Dieses nutzlose Ding hast du immer noch bei dir?”

„Probieren Sie’s in der anderen Tasche!”

Die Fee stopfte alles zurück und widmete sich der rechten Hosentasche.

Patricks Blick schweifte über das Tal von Winzlingen. „Haben Sie gesehen, was da unten los ist?”

Die Fee schaute nur kurz über die Schulter, um sich klar zu machen, was er meinte. „Natürlich. Ich war schon mitten im Kampfgeschehen.”

„Tatsächlich?”

„Oder sagen wir: darüber.”

Patrick betrachtete den deformierten Gaul. „Schon klar. Sie waren der Punkt am Himmel. Was haben Sie mit dem armen Vieh angestellt?”

„Erkläre ich später. Ah!” Sie war in der Hosentasche fündig geworden. Ihre Augen weiteten sich.

„Was ist?” Patrick bog den Hals seitwärts nach unten, um einen Blick auf Pryssalias Fund zu erhaschen. In den Händen der Fee glitzerten bunte Steine in allen Regenbogenfarben.

Pryssalias Stimme klang heiser. „Wo hast du die her?”

„Aufgesammelt, beim Gnomenherrscher. Aus Notwehr. Haben Sie das Messer?”

„Nein.” Die Fee kramte weiter in seiner Hosentasche. Weitere Edelsteine kamen zum Vorschein, kleine und größere, und dann …

Patrick sah das Gesicht der Fee erbleichen. Sie hielt ein Objekt in der Hand, größer als die meisten dieser Steine, doch immer noch klein wie eine Walnuss. Es war grau und hatte nach außen gewölbte Zacken wie metallische Blütenblätter. Das Ding kam ihm bekannt vor, aber wo hatte er es schon mal gesehen?

„Was ist?”, fragte er.

Pryssalia schluckte. „Nichts”, sagte sie und beförderte endlich Patricks Taschenmesser ans Licht. Die Steine und das kleine Objekt verstaute sie sorgfältig wieder in seiner Tasche. „Pass gut darauf auf.” Dann versuchte sie das Taschenmesser zu benutzen. Erst entklappte sie die Nagelfeile, dann den Korkenzieher, aber beim dritten Versuch war die große Klinge einsatzbereit.

Vier, fünf energische Schnitte. Patrick rechnete mit behandlungsbedürftigen Wunden, doch als die Fesseln von ihm abfielen, tastete er sich ab und erkannte, dass er unversehrt war.

Unten im Tal tobte der Kampf.

Patricks Magen krampfte sich zusammen. „Nichts wie weg hier.”

Pryssalia trippelte zu ihrem seltsamen Reittier. „Was meinst du damit?”

Patrick spuckte wütend aus. „Ich hab’ genug von alledem! Dauernd gerate ich in Gefahr! Dauernd werde ich angegriffen und festgenommen! Dieses Land ist idiotisch! Gnome! Zwerge! Bolde! Schrate! Musikatzen! Die sind hier ja alle nicht normal!”

Die Fee sah ihn ernst an. „Patrick, du solltest deine Worte nicht zu voreilig wählen.” Sie stieg auf den Rücken des Gauls und forderte ihn auf, es ihr nachzutun.

„Bringen Sie mich nach Hause?”

Der Gesichtsausdruck der Fee wurde härter. „Nein. Wir fliegen nach Winzlingen.”

Patrick japste. „Ins Kampfgetümmel?”

Sie nickte. „Dorthin, wo wir gebraucht werden.”

„Kommt nicht infrage!” Patrick trat zurück und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Die Schlange ließ ein empörtes Zischen hören; schnell lockerte Patrick den Griff.

Pryssalia zog am Zügel des geflügelten Flossengauls. Das Tier bäumte sich auf. „Steigst du jetzt auf?”

Und jetzt war es ihm endgültig zu viel. „Ich denke nicht daran!” Er machte ein paar energische Schritte von ihr fort. „Ich habe lange genug mitgemacht in eurem komischen Märchentheater! Mich geht das hier alles nichts an! Macht es unter euch aus! Ich verabschiede mich! – O nein, nicht nötig, keiner muss mich hinausbegleiten, ich finde schon den Weg!” Er stapfte entschlossen die Hochebene aufwärts.

„Bist du sicher?”, ließ ihn die Stimme der Fee innehalten.

Patrick gab sich einen Ruck. „Aber klar”, behauptete er. „Ich kenne mich inzwischen aus, das können Sie mir glauben.” Er bückte sich und hob das längste Stück des Seils auf, mit dem die Wachen ihn festgebunden hatten. „Die Grenzschlucht? Pah! Spinnenfadenbrücken? Kein Problem. Grenzlandhyänen? Ha, da hab’ ich inzwischen ganz anderes erlebt! Und deshalb gehe ich jetzt nach Hause zurück!” Er wickelte sich das Seil um den Bauch und knotete es zu. Diesmal würde er auf die Schlucht besser vorbereitet sein. Er wandte sich ab, vollends entschlossen, sich diesmal nicht aufhalten zu lassen.

„Patrick, hiermit mache ich meinen zweiten Wunsch geltend!” Die Stimme der Fee klang scharf, schärfer als je zuvor.

Vor dem entfernten Lärm des Kampfgeschehens verstrich auf der Hochebene eine Minute tiefen Schweigens.

Dann fragte Patrick: „Wen?”

„Du erinnerst dich doch: Du bist mir drei Wünsche schuldig.”

Patrick knirschte mit den Zähnen. Er dachte kurz daran, wie die Fee in seinen Kopf eingedrungen war und dort diesen unerträglichen Zwang ausgeübt hatte. Ein paar Schritte lief er auf und ab. Dann kickte er ein Steinchen weg, das sich erdreistet hatte, ihm im Weg zu liegen, und sagte: „Na schön. Wenn ich Ihnen damit eine Freude machen kann.”

Die Fee lächelte und streckte ihm die Hand entgegen.

„Nicht nötig”, wehrte Patrick ab. „Ich komme allein zurecht.” Und tatsächlich schwang er sich ohne größere Schwierigkeiten hinter Pryssalia auf den Pferderücken.

Niemand war davon mehr überrascht als Patrick selbst.

Patrick und die rote Magie

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