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Die Dämmerung kam jetzt langsamer, die Tagundnachtgleiche war vorüber. Noch lange nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, leuchtete der graue Himmel rosa und rot. Der Wind schlief ein, und in der Stille vernahm man nur das Dröhnen des aufreißenden Eises, das leise Rieseln der Quelle und die Schreie der Eulen in der hohen Eiche.

Die Mutter schürte das Feuer. Sie hatte die Haut des Aals am Nacken aufgeschnitten, hatte sie vorsichtig abgezogen, jetzt wickelte sie das Fleisch des Fisches in Kräuter. Dann streifte sie die Haut vorsichtig wieder über den Aal. Sie legte ihn in die heiße Asche, und wenn der Vater heimkam, würden sie ihn essen, tropfend und warm. Die Mutter redete leise mit sich selbst und sang, und sie horchte, ob sie schon Schritte vom Seeufer her hörte, denn von dort mußte er kommen.

«Vater wird sicher ein niedliches Hasentier mit heimbringen», sagte sie, oder: «Bestimmt bringt er uns einen Hoppelmann, mit Fett am Rücken und Fett an den Läufen. Mmm.»

Sie hatte solchen Hunger, ihr Magen war so leer.

«Schaut mich an, wie wintermager ich bin», sagte sie, «und wie ihr ausseht, nur Haut und Knochen. Wenn wir doch heute und morgen einen Hasen essen könnten.»

Mit der Dämmerung kam jedesmal eine kleine Maus. Mit gespitzten Ohren und blitzenden kleinen Augen saß sie da und guckte den Jungen an, bis er ihr die Hand hinstreckte. Dann sprang sie in seine Hand, schnüffelte prüfend und lief rasch seinen Arm hinauf bis zur Schulter, wo sie sich hinsetzte und ihm in die Augen schaute. Sie machte Männchen, wackelte mit den Vorderbeinen, und ihre Barthaare zitterten. Jeden Tag erzählte sie über das, was sie erlebt hatte, erzählte von anderen Feldmäusen, die in die Dörfer gelaufen waren und in großen, mit Getreide gefüllten Tontöpfen lebten und die so schreckliche Angst vor dem Sterben hatten.

«Mich kann höchstens eine Eule oder ein Fuchs erwischen», sagte sie, «das soll gar nicht weiter schlimm sein. Sterben, was ist schon Schlimmes dabei? Meine Mutter sagt, man soll schreien, so laut man kann, wenn man von einem Fuchs oder einer Eule gepackt wird. Ganz laut, hat sie gesagt. Dann tut es überhaupt nicht weh.»

Der Junge streichelte die Maus und nahm sie behutsam in seine Hand, ihr langer Schwanz hing nach unten, und ihre spitze, lebhafte Schnauze reckte sie nach vorne.

Durch den leichten Rauch des Feuers sah er die Augen der Schwester. Sie verfolgten jede seiner Bewegungen, und er bemerkte, daß in ihrem Blick viel Traurigkeit lag.

«Jetzt kommt Vater», sagte die Mutter, sie kratzte die glühenden Holzscheiter auseinander, legte den Aal in die Asche, häufte Glut und Asche darüber und klatschte in die Hände, bis sie sauber waren.

Das Gesicht des Vaters erschien in der Türöffnung. Er hielt drei Hasen, die er zusammengebunden hatte, in den Schein des Feuers. Der Junge setzte die Maus neben sich auf den Boden, aber sie folgte dem Jungen und seiner Schwester, die die Beute aus der Nähe betrachteten, und sie lachten, zuerst die Mutter und dann der Vater, sie lachten über den Fang, und sie hängten ihn an den Dachbalken. Der Hund beäugte sie neidisch von draußen und schnüffelte verhungert.

Jetzt litten sie keine Not mehr.

Während sie den tropfenden, warmen Aal verspeisten, der nach Thymian und Petersilie schmeckte, erzählte der Vater von den Funken, die man aus den Feuersteinen schlägt, und davon, wie man die kleinen Funken in dem weichen Baumschwamm hütet, wie man sie durch Blasen zum Leben erweckt, damit sie wachsen und zu einer mächtigen Flamme werden.

Später am Abend ging der Vater hinaus, und durch die geöffnete Tür sahen sie, daß der Himmel sich geöffnet hatte. Die Wolkenschicht lag wie ein leichter Nebel über dem See, am Himmel hingen die Sterne, hell zukkend, als wollten sie sich losreißen, zur Erde stürzen oder auf und davon fliegen.

Nachts konnte es noch ziemlich kalt werden, aber wenn der Himmel klar blieb, würde die Sonne tagsüber wärmen, und sie konnten an der Hüttenwand sitzen und den Frühling erwarten.

Die Maus piepste in ihrem Loch, als wollte sie etwas erzählen. Die Holzscheiter im Feuer zischten, draußen auf dem See krachte das Eis. Sie waren gesättigt und gähnten vor Müdigkeit.

«Vater wird bald kommen», sagte die Mutter, «er hält Ausschau nach Frühlingszeichen.»

Und gleich darauf erschien er, beinahe lautlos, und öffnete die knarrende Tür. Die Schwester sah die schmale Mondsichel über See und Wald. Sie schaute den Bruder an, und er schaute sie an. Er wußte, woran sie dachte. Er holte tief Atem und blickte weg, dorthin, wo die Hütte dunkel war.

Vater und Mutter schwiegen. An den Schatten erkannte er, daß die Mutter unter die Felle des elterlichen Schlafplatzes kroch und daß der Vater sitzen blieb, die Arme um die Knie geschlungen und den Kopf nachdenklich gesenkt.

Das Eis krachte. Die Maus piepste in ihrem Loch, und im Schilfdach raschelte es, wenn der Bruder der Maus, der Zaunkönig, sich im Schlaf bewegte. Bald begann die Mutter leise zu schnarchen, und vom Bett der kleinen Schwester hörte er leichte Atemzüge. Seine zarte, zerbrechliche Schwester.

Er spürte, wie der Schatten des Vaters die ganze Hütte ausfüllte, als er das Feuer verließ und zur Mutter unter die Felle schlüpfte. Er hörte ihn einmal tief seufzen, ehe er einschlief und leise zu schnarchen anfing.

Ab und zu knisterte das Feuer, die kleinen Flämmchen züngelten um die Scheiter, versteckten sich in den langen Rissen und kamen am Rücken oder unter dem Bauch des Holzes wieder zum Vorschein. Im Laufe der Nacht würden sie sich schlafen legen, tief drinnen im Holz, bis ihnen die Mutter am Morgen neues Leben einblies. Zuerst würde das Holz aufglühen, dann kämen die Funken und schließlich die Flamme, und dann würde die Mutter ihre Hände wärmen und der Tag beginnen.

Wenn der Vater irgendwelche Zeichen am Himmel oder auf der Erde entdeckt hatte, war die Zeit für ihn gekommen, dann würde der Junge aufbrechen müssen, um seinen Namen zu finden. Ein bißchen fürchtete er sich davor, aber nur ein bißchen. Er mußte allein losziehen, doch sie würden ja auf ihn warten. Sie würden von ihm reden und ihn mit ihren besten Wünschen begleiten. Dann war es nicht so schlimm. Er lächelte vor sich hin. Hatte er nicht heute ganz allein einen Aal gefangen? Die Aale waren wirklich treu. Ob er sich auf die Vögel und Hasen auch verlassen konnte?

Er war nicht zaghaft, er hatte nur Angst, es zu werden. Auf einmal ist man wie gelähmt und fürchtet sich vor jeder Bewegung.

«Hast du manchmal Angst?» hatte er seine Mutter einmal gefragt.

Und ob sie Angst hatte.

«Ich singe für meine kleine Angst», sagte sie, «sie wohnt in mir und möchte, daß ich für sie singe, dann schläft sie ein.»

Er konnte das nicht. Er hätte gar nicht gewußt, was er hätte singen sollen. Er mußte still sein und singen lernen.

Er war müde, aber er konnte nicht einschlafen. Bis in die Morgenstunden wälzte er sich unter seinen Fellen hin und her.

Da erschallten hoch oben über dem Dach Vogelrufe.

Der Vater drehte sich im Schlaf um. Die Rufe erklangen dreimal, und sie tönten jedesmal neu. Es war wohl ein ganz neuer Vogelschwarm, der in größeren Abständen flog. Es war Zeit, vielleicht auch seine Zeit.

Er schlief ein und erwachte erst, als es längst hell war und der Zaunkönig zwitschernd durch die geöffnete Tür hinaushuschte.

Er merkte, daß er allein in der Hütte war, und stützte sich auf, um hinauszuschauen. Er hörte die Stimmen der kleinen Schwester und der Mutter, ehe er ihre langen Schatten sah. Sie saßen an der Sonnenseite der Hütte und wärmten sich, wie lange hatten sie alle davon geträumt.

Er stand auf, er ging hinaus. Sie mußten ihn gehört haben: Mutters Gesicht erschien hinter der Giebelwand und schaute ihm entgegen.

«Ah», sagte sie, «kleiner Mann, komm und setz dich zu uns, hier ist es warm, herrlich warm.»

Er setzte sich zu ihnen und ließ sich wärmen und ließ sie reden, als wäre er nicht da. Einmal redete die eine, einmal die andere. Nun konnten sie bald frische Wurzeln aus der Seewiese ausgraben, überall im Wald würden gute Pilze wachsen, die Schnepfen würden durch die Farne laufen und die Enten im Schilf schnattern, sie würden Eier aus den Nestern holen und die Dotter voller Leben und Kraft verschlingen, sie würden dick werden, prall und schön wie der Sommer. Vielleicht würde es neue Felle von Fuchs und Reh geben, und sie konnten sich neue, weiche Kleider nähen.

Vielleicht, vielleicht.

Wer wußte das schon.

Der Junge schaute nach dem Vater aus, aber auf der glatten Eisfläche war niemand. Er streifte wahrscheinlich bloß herum oder saß still bei einem Busch oder am Waldrand und lauschte, wie das Gras wuchs und ob sich etwas Lebendiges regte. Auf diese Weise würde er erfahren, wann die ersten Schnepfen auftauchten und wohin er mit Bogen und Pfeil zu gehen hatte.

Wenig später tauchte der Vater bei der großen Eiche auf. Er ging ganz langsam, schaute immer wieder hinaus auf einen entfernten Punkt über dem See. Er schien fest davon überzeugt, daß von dort etwas kommen müsse.

Schließlich erblickten auch sie den Vogelschwarm, bald gesammelt, bald einzeln kamen sie über den See geflogen. Sie hörten ihre Schreie und sahen die Vögel, wie sie mit kräftigen Flügelschlägen, die Beine nach hinten und den silbergrauen Kopf mit dem roten Scheitel vorgestreckt, durch die Luft brausten. Sie sahen ihre Augen, die im Fieber des Fliegens nach vorn gerichtet waren, hin zu dem Ort, zu dem sie zurückkehren wollten, um dort im Frühsommer zu jagen und zu brüten.

Der Vater stieg den Hügel hinauf und setzte sich zu ihnen.

«Du hast gesehen, wohin sie geflogen sind», sagte er zu seinem Sohn.

Der Junge nickte.

«Es wird das beste sein, wenn du dich in diesem Sommer auf den Weg machst», sagte der Vater, «finde drei rote Kranichfedern für deine Mutter, sie wird die Federn in ihrem Brustbeutel aufbewahren. Dann wirst du einen Namen bekommen, damit dich alle kennen und du alles kennenlernen kannst.»

Der Sohn bemerkte, wie sich Mutter und Schwester anschauten. Er wandte sich ab, blickte über den See und hinunter zur Quelle und zu der großen Eiche, er entdeckte den Zaunkönig, der auf einem Grashügel saß und sich noch kleiner machte. Dann sah er den Vater an und sagte:

«Ich glaube auch, daß es gut ist, wenn ich in diesem Sommer drei rote Nackenfedern von den Kranichen hole.»

Er zögerte ein bißchen und blickte zum Zaunkönig hinüber.

«Vielleicht wird er mir helfen, vielleicht wird auch die Maus alle ihre Mäuseschwestern bitten, mir zu helfen. Die kleinen Wesen können den großen helfen, das habe ich erfahren. Meinst du, ich soll heute gehen?»

Der Vater nickte.

«Es dauert viele Tage, den Sommerplatz der Kraniche zu finden», sagte er, «es dauert den ganzen Sommer, fortzugehen und wieder heimzukehren. Laß dir Zeit, sonst kommst du nie ans Ziel.»

Der Junge, der noch keinen Namen hatte, blickte die Mutter und die Schwester an, die dasaßen und sangen und so taten, als ob sie gar nicht zuhörten. Die Schwester schaute in eine ganz andere Richtung, und die Mutter schaute ihn erst an, als er aufstand, um dem Vater in die Hütte zu folgen. Der Hund wollte hinterhertrotten, legte sich dann aber wieder an die warme Giebelwand.

Der Vater hatte einen kleinen Beutel aus festem Leder für ihn, mit Feuerstein und Baumschwamm, er hatte ein Messer mit einem Knochengriff, auf den die Geschichte des Clans mit Zeichen eingeritzt war, und er hatte eine Angelschnur und einen Haken.

«Mehr brauchst du nicht», sagte der Vater.

«Und reize die Baummarder nicht, von ihnen stammt unser Clan ab, laufe nicht über die Felder der Bauern, bleibe an den Waldrändern und den Ufern der Gewässer. Wirst du von Fremden überrascht, sprich kein Wort. Wenn es sich nicht vermeiden läßt, gebärde dich wie ein Verrückter, lache, singe, sonst locken sie dich zu sich und machen dich zu einem der Ihren, und du bist nicht mehr du selber. Es ist schon passiert, daß Knaben erst als alte Männer zurückkehrten, in gewebte Kleider gehüllt, und sich vor ihrer Sippe entschuldigten, von Brot, Grütze und Milch erzählten. Vor ihnen fliehen in Zorn und Enttäuschung alle Waldtiere, sie sprechen nicht zu ihnen und raten ihnen nicht, was sie tun sollen.»

Die Mutter und die kleine Schwester kamen in die Hütte, das Feuer wurde angefacht, die Mutter zog einem der Hasen das Fell ab, weidete ihn aus, verwahrte Leber und Herz und warf dem Hund die Eingeweide hin. Dann erwärmte sie den flachen Stein, legte das Fleisch darauf, wendete es in weißer Asche und reichte dann dem Sohn Herz und Leber. Das sollte ihm guttun, und sie sahen zu, wie es ihm schmeckte.

«Mmm», sagte die Mutter, «Herz und Leber vom Hasen, das macht einen kleinen Mann munter, er wird wie ein springender Hase im saftigen Gras, er vergißt jeden Kummer, und nichts macht ihn traurig.»

Danach aßen sie gemeinsam den Hasen.

Sie legten sich auf ihre weichen Moosbetten und waren gleich eingeschlafen. Auch der Junge, der noch keinen Namen hatte, schlief. Ganz rasch schlief er ein, und er träumte nichts, bis er als erster am Nachmittag erwachte, an dem er aufbrechen wollte.

Der Junge ohne Namen

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