Читать книгу Am Meer - Peter Seeberg - Страница 6

6.00-10.35

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6.00

Der Sommer ist lange unterwegs gewesen, doch nun ist er da: klar und frisch, mit einem morgendlichen Raum, der vor Licht und Bläue bebt.

Die hohen grünen Pappeln an der Grenzstation rasseln im schwachen Südost, und in den Schatten über Wegen und Autos blinkt es bald, und bald verdunkelt es sich wieder.

An der westlichen Küste wandern die ersten mit ihren Bündeln und einige mit kleinen Schaufeln über den öden Strand, stets größer, als sie in Wirklichkeit sind. Im äußersten Südwesten wird gleich der Bernsteinsammler auf den festen Ebbestrand der Küstenlinie einbiegen und Anlauf auf den Horizont nehmen, wo schon die Morgenfähre über den bebenden Glanz gleitet.

Es wird ein schöner Tag werden, weiß von Dunst und Licht und Buntheit über der weiten Fläche. Zum Nachmittag hin der großartige Anblick der Fallschirme, die sich über den Dünen entfalten, und der Menschen, die sinken und sinken, während alle zusehen, vom Strand her, von den Dünen und vom Meer selbst, die Hände über den Augen und ein wenig Sand in den Mundwinkeln.

Und sie landen.

Friedrich war schon seit langem auf. Gegen fünf, als die Sonne glühend aus dem rauchschwarzen Dunst über dem grünen Band des Festlanddeiches mit dem schwarzen Wasser davor aufflog, hatte er behutsam die weiße Tür hinter sich zugezogen, hatte auf dem Regenmesser den halben Millimeter Taufall abgelesen und auf den Luftdruckschreiber geklopft, der nun schon seit vierundzwanzig Stunden so unbeirrt seine Gerade zog, als wäre es die Sonnenbahn, während der Temperaturmesser wie ein Flugzeug auf seine Höhe stieg; dann hatte er das Badetuch von der Wäscheleine genommen und es sich über die Schulter geworfen und war über den mit Queller überwucherten Vorstrand an der Pfahlreihe entlang zum Meer hinausgewandert, das in der großen Atempause zwischen Flut und Ebbe und dem Drehen des Windes von Südwest auf Südost zur Ruhe gekommen war.

Nach einem steifen Nordwest hatte es Tage mit großen, einander überrollenden Brechern gegeben. Und am südlichen Priel war ein Delphin angetrieben worden.

Er hatte die Brille auf einen Pfahl gelegt und das Frotteehemd und die Shorts daneben geworfen, das Handtuch obenauf, und war sich seines zu kurz geratenen, dickbäuchigen, bleichgesichtigen, rotblaßbehaarten, kurzsichtigen Körpers völlig bewußt gewesen, seine Arme waren zu kurz, seine Kniescheiben standen vor, seine Füße waren krumm, seine Hoden hingen zu tief herab, und sein Glied war nicht dementsprechend lang, er war breit überm Hintern und schmal über den Schultern und seiner Meinung nach der häßlichste Mensch der Welt, oder doch so ziemlich, er hatte nie darunter gelitten, mußte aber ständig daran denken, was wohl andere bei diesem Anblick meinten, und wollte es ihnen gern leicht machen.

Der Bernsteinsammler auf seinem Moped sah immer weg, wenn er in dem heiligen Augenblick an ihm vorbeiholperte, da der Strom kenterte und der Grus des Bernsteintangs sich in schwarzen Schwaden auf dem Strand abzulegen begann.

„Es wird schönes Wetter, Thomas!“ hatte er gerufen.

Thomas hatte sicherlich etwas Ähnliches gemurmelt.

Das Wasser war noch kühl gewesen und zwischen seinen Beinen hin und her gelaufen, und später war es an seinem Körper auf- und abgestiegen, bis er sich hinabgleiten ließ und ein paar Schwimmstöße machte und sich dann wieder aufrichtete. Er stöhnte und schnaufte und blickte sich um. Ein paar Enten kamen mit Flügelgepfeif angeschwirrt. Die südliche Insel ragte mit ihren hohen Sandgletschern über die im Morgenschatten liegenden Dünen, ein Boot tuckerte hinaus ins Tief, einzelne Gestalten kamen über den Strand aufs Meer zu, die ersten Autos bogen durch die Dünen ab und fuhren vorsichtig am Strand entlang, die großen Scheiben des alten Restaurants glänzten dunkel.

6.35

Der Mensch stammt nicht vom Affen ab. Eher wohl umgekehrt, dachte er versuchsweise, als er sich die mohrrübenrotbehaarten Achselhöhlen trocknete. Er war schon einen Schritt auf dem Weg dorthin. Aber noch waren Bananen nichts für ihn.

Später hatte er sein Moped genommen und war zur Hintertür des Bäckers gefahren und hatte fünfzehn Brötchen gekauft, und dann hatte er nach den Enzianen im Heidemoor gesehen, die ersten waren schon gekommen; er hatte Kaffee gekocht und Lillie mit einem hastigen Zuruf geweckt, den sie ihm nicht übelgenommen hatte.

6.55

Jørgen ging so vorsichtig wie möglich die Treppe hinauf, doch es knackte trotzdem, es duftete nach alter grüner Seife, von oben fiel Licht herein, und er hatte schon die Aussicht vor Augen.

„Was willst du?“ fragte der Vater, der, im Unterhemd, mit dem Gesicht zur schrägen Wand lag, es ihm nun aber zuwandte, groß, bleich, runzlig, rötlich, zerzaust.

„Du hast gesagt, du willst zeitig aufstehn, es ist unser letzter Tag“, sagte Jørgen.

Der Vater setzte sich auf und sah hinaus. Jørgen stellte sich hinter ihn. So hatten sie oft hinausgesehen. Das Licht fiel noch flach ein, das Wasser war bis ganz hinauf zum Strandwall dunkel, es leckte faul und schmutzig, die westlichen Dunstbänke waren noch düster wie Petroleumrauch, und davor war ein kreideweißer Kutter auf dem Weg herein.

„Wir wollten doch Bernstein sammeln“, sagte Jørgen.

Oben im Norden hielt ein einzelnes Auto schräg auf dem Strand, schwarze Gestalten waren im Begriff auszusteigen, ein Moped zuckelte nordwärts.

„Es gibt keinen Bernstein, wir sind schon zu spät dran, gönn mir doch noch eine Stunde.“

Der Vater streckte sich wieder aus und sah bittend auf.

„Hast du noch ein bißchen Geld?“ fragte Jørgen. „Dann hol ich ein paar Brötchen zum Frühstück.“

„Nein“, antwortete der Vater und schloß die Augen, „ich hab keins, ich hab mein Konto schon überzogen.“

Jørgen ging hinunter und behielt, Stufe für Stufe, den Vater im Auge. Er konnte den Drachen steigen lassen.

„Sieh dir die an“, sagte Zollkontrolleur Nagel zu Biggie, mit der ganzen Grenzstation hinter sich, „die da im kurzen Mantel, mit der roten Tasche in der Hand, hast du die nicht gesehn, so ein blasses Gesicht, und dann diese Augen, die blaß und blau durch einen durchsahen, keine Bettelei im Blick, verstehst du, sondern Verachtung, und blaß war die, niedrige Stirn, aber intelligenter Blick, und dann so klein, und Stiefel mitten im Sommer, schwarz obendrein, so eine Kleine, die ich mit einer Hand unterm Hintern hochheben könnte, so eine kann auch ...“

„Was?“ sagte Biggie, der die Kofferraumklappe mit einem Knall schloß und von der Seite zu dem Zollkontrolleur aufblickte, „was sagst du?“

„Ach“, sagte der Zollkontrolleur und blickte auf Biggie herab, der einen etwas gewollt schafsköpfigen Gesichtsausdruck hatte, „man darf natürlich nicht dieser Ansicht sein, aber du glaubst doch wohl nicht, daß mittlerweile nicht immer irgendein Grund besteht, um jeden beliebigen zu verdächtigen – jeden beliebigen.“

In Zollkontrolleur Nagels Gesicht war nicht viel Theater, sah Biggie, es war mit einer tiefen, nicht unerwarteten Menschheitsverachtung aufgeladen, die bald einem freundlichen Phlegma weichen würde.

„Und dieser Ansicht bist du erst jetzt“, sagte Biggie.

„Nicht erst jetzt“, entgegnete Nagel, „mein Beruf erfordert gewisse Voraussetzungen und gewisse Fähigkeiten. Trotzdem, es ist trauriger geworden.“

„Und Trost ist nicht zu finden.“

„Doch“, sagte Nagel, „laß ihn uns suchen, wo er zu finden ist, ich hab eine Viertelstunde Zeit.“

7.20

Biggie fuhr vor dem Café vor.

„Da sitzt sie und hält Ausschau“, sagte Nagel, „unterlaß es aber, zu ihr rüberzusehen, das bringt nichts ein.“

„Und du bist ganz sicher?“ fragte Biggie.

„Ich will auch einen Schnaps haben“, sagte Nagel.

„Ich halt mit“, sagte Biggie.

„Jetzt hab ich doch den Fragebogen vergessen“, sagte Nagel und sah verzagt aus.

7.35

Helene blickt aus dem Fenster, der Verkehr fließt bereits als dichter Strom langsam an der Grenzstation vorüber: die Busse, blau, gelb, rot, grün, mit rauchfarbenen Kunststoffdächern, und hinter den beschatteten Fenstern in verschwimmenden Gesichtern Augen, die gespannt in dieses neue Land hinaussehen oder auf die Fahrbahn vor ihnen oder auf den Fremdenführer gerichtet sind, der übers Mikrofon von der nächsten Fahrt zum Meer erzählt; die verspäteten Lastautos auf dem Weg nach Norden, die auf die Ausweichplätze einbiegen, und gleich darauf liegen die Fahrer unter den Wagen und sehen hinauf und klopfen daran herum und bewegen sich auf dem Rücken hin und her und kommen schließlich mit hellen Gesichtern unter den Mützen wieder hervor, wischen sich die Hände an Putzwolle ab, fahren sich mit dem Handrücken einmal über die Stirn, und wenig später stehen sie an den Luken der Grillbar; die Personenautos mit Zelten auf den Dächern und die Kofferräume manchmal halb offen, Campingwagen ziehend, die mit geöffneten Fenstern vorbeirollen, voller halbnackter Familienmitglieder, bleiche oder braune Gesichter, die sich hin und her drehen, um zu sehen oder gesehen zu werden unter all den merkwürdigen Kopfbedekkungen: Mützen in Blau oder Weiß, mit Schnüren über dem Schirm, Strohhüte mit riesigen Krempen, Cowboyhüte, weiße Kappen, ein straff gebundenes Kopftuch über der blanken Stirn.

Sie stützt die Wange in die Hand, bis es wehtut, dann läßt sie die Hand sinken und dreht den Aschenbecher ein wenig und wirft dann langsam einen Blick über die Schulter zu Nagel und Biggie hinüber, die ihrem Blick zufällig begegnen, beide fast gleichzeitig, Nagel, der aufsieht und bemerkt, daß sie den Kopf gedreht hat, Biggie, der sie trotz Nagels Warnung gerade in diesem Moment ansehen mußte. Sie läßt den Blick von einem zum andern wandern und verzieht dabei keine Miene, sondern läßt ihn in eine Ecke weiterwandern, wo ein Hund seine Zottligkeit zusammengerollt hat, während sein Herr eifrig und unaufmerksam mit einem Spiegelei kämpft, das er zum Mund führen will.

Dann langt sie wieder bei ihrem Tisch an. Sie lächelt vor sich hin. Sie hebt die Gardine ein bißchen. Alles ist so, wie es ist.

7.45

Nina hatte sich erst bewegt, als Josef den Reißverschluß in der Zeltwand aufritschte.

„Du darfst nicht gehn, Josef! Was zum Teufel willst du um diese Tageszeit anfangen, es ist doch bestimmt noch nicht mal halb acht!“

„Du weißt schon, weshalb ich geh“, sagte er, während er hinauskroch, aufstand und den Kopf wieder zu ihr hineinsteckte. Sie hatte sich halb aufgerichtet.

„Du kommst doch dann wohl sofort zurück, ich will hier nicht allein liegen, sonst kommen noch Kerle zu mir rein, wer weiß, und dazu hab ich keine Lust – jetzt –, daß du’s nur weißt.“

Ein großes Lächeln stand um ihre vorgewölbten Augen, ihre Lippen waren dünn und blaurot, und ihre Zunge sah ein ganz klein wenig hervor.

„Komm bald wieder“, sagte sie und legte sich zurück, so daß das Kinn aufragte und ihr sommersprossigweißer Hals leuchtend den winzigen Bocksbart umgab, den sie als Erkennungszeichen trug.

„Wenn’s geht, zieh nur ganz vorsichtig“, sagte sie im Dunkeln und in dem Deckengewirr, in dem sie einander zu finden versucht hatten.

Josef vergrub die Hände in den Taschen und trottete in Richtung Pissoir. Die Zelte flatterten, Zelttuch buchtete sich um Rücken und Hintern, man ahnte hinter jedem Villazeltfenster neugierige Blicke und Brillenaugen. Frauen in Shorts oder adretten Morgenkleidern deckten vor Campingwagen den Tisch, die Männer kamen mit reichlich gefüllten Tüten daher, begleitet von Lakritze kauenden Kindern. Es war nur ein Anfang.

Josef stand da und schaute sich um. Irgendwo war ein Mädchen, das er von weitem gesehen hatte und das dann verschwunden war: Sie hatte einen ebenso langen Blick gehabt wie er selber. Wahrscheinlich braune Augen, weiße, kurzärmlige Bluse und an dem kühlen Abend braune Kordsamthosen. Er war durchs ganze Lager gegangen, und später hatte er Nina in alle Gaststätten eingeladen.

„Du bist so nervös“, hatte sie gesagt, „wipp doch nicht dauernd mit dem Bein.“

„Halt den Mund“, hatte er geantwortet.

Er hätte die Tour auf seiner Maschine machen sollen.

Nachdem er sein Geschäft verrichtet hatte, schlenderte er hinüber zum Kiosk und sah sich die Schlange an, die dort Brötchen und Zeitungen kaufte.

Das Mädchen hatte so ausgesehen wie eine, die Zeitungen liest – ein schrecklicher Gedanke.

Da lagen ungefähr zehn Meter Zeitungen. Zum größten Teil „Jyllands-Posten“, aber dann kam „Bild am Sonntag“, notfalls genug für eine kleinere Barrikade.

Er versuchte ein bißchen zu kiebitzen.

Da ging es um hastig einberufene Konferenzen wegen Geldangelegenheiten. Es würde einige Zeit dauern, bevor Beschlüsse gefaßt werden könnten.

Die Arbeitslosigkeit wird zunehmen, schrieb einer. Was versteht man unter einem Arbeitslosen? fragte ein anderer.

8.05

Josef wurde ungeduldig.

Bei den Telefonzellen standen Männer und lasen, während ihre Frauen die Eltern anriefen. Josef trieselte Steinchen über die Gehwegplatten zu ihnen hinüber. Sie blickten zu ihm hin und sahen ärgerlich aus.

Ein See war abwasserfrei und ein Fluß im Unterlauf kristallklar geworden, doch in den Mündungen und auf dem Grund der Ozeane sammelten sich die Verunreinigungen. Verkrüppelte Fische und miserable Menschen.

Aber wer möchte schon die chemische Industrie missen?

Wie können die Menschen ein Leben ohne schmerzstillende Tabletten ertragen?

Nun kam die eine Frau heraus. Ihr Mann zeigte auf etwas in der Zeitung, und sie standen da, den weißen Morgenhimmel über sich, und lasen. Josef ging um den Kiosk herum und blickte ihnen über die Schulter: Bis jetzt hat noch kein Terrorist bereut. Sie senken die Zeitung und sehen über den Strand, dann nimmt der Mann die Zeitung und faltet sie zusammen und sagt hinauf zu der Frau, die einen halben Kopf größer ist als er: „Das ist eine gute Beobachtung.“

Sie schüttelt den Kopf.

„Weswegen sollten sie auch bereuen?“ fragt er.

„Wegen der Unzulänglichkeit der Konsequenzen“, sagt sie.

Sie gehen gemeinsam die Zeltstraße hinunter, der Mann faltet die Zeitung sehr sorgfältig zusammen, und Josef sieht ihnen nach, während sie miteinander redend davongehen.

Sie reden noch miteinander.

Er geht in die Telefonzelle und wählt irgendeine Nummer, läßt es dann aber bleiben.

8.20

Er stellt sich an und kauft eine Schifferschreckzeitung und ein Brötchen und einen großen Zwieback. Er ist und war immer der einzige von allen, die er kannte, der Zwieback aß. Vielleicht würde er einmal jemandem begegnen, der das ebenfalls tat.

Auf dem Rückweg pfeift er laut. Er stößt das Zelttuch mit dem Fuß auf und wirft die Tüte zu Nina hinein. Dann kriecht er ins Zelt und läßt sich fallen und beginnt in seiner Zeitung zu blättern und läßt es protestierend zu, daß ihre Hand über ihn hingleitet.

8.15

Der Tag ist über ihnen allen. Die Sonne steht hoch über dem Morgendunst des Festlandes. Auf allen Straßen, die zum Damm und zur Insel führen, rollen Fahrzeuge heran, die Fenster heruntergekurbelt, behaarte Arme ein Stück herausgestreckt, die Lüftungsklappen der Busse bereits weit aufgeschoben, die alten Damen schon mit hervorgeholten Taschentüchern und leichten Atembeschwerden.

Der Betagteste von ihnen allen, mit gezwirbeltem Schnurrbart und altem Strohhut, dreht sich auf dem Vordersitz um und sagt: „Ich glaub, ich geh heut ins Wasser“, und er fügt hinzu, während er sich wieder nach vorn dreht und an die Uhrkette greift: „Zum letztenmal.“

„Soll das am Nacktbadestrand sein?“ ruft die stets schlagfertige Mie. Sie ist neunundachtzig.

„Ja, selbstverständlich“, sagt der Zweiundneunzigjährige und dreht sich um und droht ihr mit der Faust. „Selbstverständlich!“

Die anderen im Bus trocknen sich sachte Stirn und Schläfen und denken an ihre Körper in aller Nacktheit, sie versuchen bis auf den Grund der Wahrheit zu gelangen, werden jedoch auf halbem Wege vom Sog einer kleinen Wehmut erfaßt.

„Ich trau mir das“, sagt Mie neckend.

Doch nun ist der Alte durch einen Igel abgelenkt, der zusammengerollt auf der Straße liegt. Und Schwindel durchbraust ihn, während er in Gedanken das Tier auf seinem Weg nach hinten verfolgt.

8.30

„Der ist zu groß“, sagt Ulrik, „den kriegst du nicht rein. Pack ihn um in einen anderen Korb.“

„Der kann doch im Auto stehen“, sagt sie, „das macht doch nichts. Ich kann den Kleinen anders hinlegen.“

Doch er besteht darauf, und sie geht hinein und legt den Säugling in eine kleine Kiste und kommt heraus, blendend, die Kiste gegen die linke Hüfte gepreßt.

„Haben wir denn nichts anderes?“ fragt er.

Sie ist mutlos.

„Es ist nicht so schön“, sagt sie, „aber was macht das schon.“

Ulrik will selber fahren, er kurbelt die Scheibe herunter und legt den Ellbogen ins Fenster, sie sitzt lange da und sieht sich nach dem kleinen Würmchen in der weißen Schachtel um, das ruhig schläft, ein Altmännerlächeln im Marzipangesicht.

„Es ist doch nicht so schön“, sagt sie.

„Das mag schon sein“, sagt Ulrik. „Bist du unzufrieden?“

Maja seufzt und dreht sich um und sieht hinaus auf die lange Straße, Auto an Auto rollt dahin, mit Zelten auf dem Dach, mit halboffenen Kofferraumklappen und mit Kindern, die aus den Heckfenstern blicken.

„Was für ein wunderschöner Tag das ist, Ulrik“, sagt sie. „Ich freu mich darauf, am Strand zu liegen und zu faulenzen.“

„Es werden unendlich viele dasein“, sagt er. „Es wird unerträglich werden. Wir fahren nach Hause, wenn wir es nicht mehr aushalten.“

„Laß mich erst mal am Strand liegen und den Kleinen auf dem Bauch haben und ihn vielleicht mit raus in die Brise nehmen und ihn das Meer sehen lassen, das hab ich mir gewünscht“, sagt Maja. „Wir sollten alle am Meer leben, am Meer kann keiner alt werden.“

„In dem Gestank“, sagt Ulrik. „Hast du an die Umweltverschmutzung gedacht? Wo, glaubst du, verrichten all die Leute ihre Notdurft?“

„Das ist doch so wenig im Vergleich“, entgegnet sie.

„Das ist enorm viel“, sagt er. „Du hast nicht den Situationsbericht der Kreisärzte gelesen, heutzutage ist es besser, in einem Inlandsee zu baden, selbst die Ozeane sind auf dem Wege, das reinste Gift zu werden. Und dann all die Mitteleuropäer, die Viren bei sich haben, die überhaupt noch nicht bis hier rauf gekommen sind.“

„Es ist ein so schöner Tag, Ulrik“, sagt sie. „Fahr bloß ein bißchen langsamer, ich bin schon seit Monaten kaum vor die Tür gekommen.“

„Glaubst du, ich vielleicht?“ fragt Ulrik. „Ist es nun gut?“ Er schluckt ein bißchen.

„Selbstverständlich, Ulrik“, sagt sie.

Und etwas später: „Wie lang der Weg trotzdem ist.“

9.15

Doch nun sind sie oben auf der letzten Bodenerhebung.

„Ah“, sagt sie und dreht sich um und klopft die weiße Decke um das Kleine ein wenig fest.

8.30

„Bis vor zwanzig Jahren“, hatte Mogens gerade gesagt, und es war viel Platz um ihn her, und er wies über das Ganze hin, „war der ganze Strand öde. Es gab vielleicht einhundertfünfundzwanzig Sommerhäuschen. Um die Jahrhundertwende wurde der Versuch gemacht, einen kaiserlichen Badeort mit Wikingerhäusern zu gründen, da könnt ihr mal sehn, tja, das ist gar nicht so leicht zu sehn.“

Lone hatte eine Qualle aufgehoben.

„Wenn’s gibt Quallen, gibt’s keine Feuerquallen“, sagte Mogens, „so ist das, ihr könnt also ruhig ins Wasser gehen.“

„Willst du denn nicht ins Wasser?“ fragte Grethe. „Ich hab Lust!“

„Ich geh ins Wasser“, sagte Lone, „sofort.“

Villy hörte Radio, ein kleines Transistorgerät, schaltete es nun aber ab.

„Der Lohn kann sich ein bißchen erhöhen, aber der Reallohn ...“

„Das hatten wir ja vorausgesehn“, sagte Mogens. „Willst du nun ins Wasser, oder soll ich mit den Mädchen allein gehn?“

„Willst du trotzdem ins Wasser, Mogens?“ fragte Grethe. „Willst du nicht lieber einen Strandspaziergang machen?“

Mogens sah hinaus aufs Meer.

„Ablandiger Wind ist hier das schlimmste, im Laufe des Tages wird dann alles so jämmerlich.“

„Vielleicht dreht sich gegen Mittag der Wind“, sagte Grethe und wußte nicht, daß sie recht bekommen würde. „Vielleicht ändern sich die Temperaturverhältnisse dann so, daß wir eine frische Brise und schöne Wellen kriegen.“

„Ich denke, ich geh mit euch“, sagte Mogens. „Ich hab eigentlich große Lust.“

Und sie zogen sich alle aus.

Von den Liegestühlen aus, die schon aufgestellt worden waren, sah man ihnen nach, man kletterte aus den Sandburgen, an denen man gerade baute, und Autos nahmen neugierig Kurs auf die vier nackten Gestalten, die Hand in Hand zum Meer hinabliefen, das leise mit einer Verbrämung aus Muschelschalen und Bernsteintang schwappte, sie zurücklassend und bereits lange durch geriffelte Barrieren voneinander getrennte Wasserbecken freilegend. Sie liefen nebeneinander, Mogens, auf seinem Flügel, zog sie vorwärts, dann trennten sie sich und liefen paarweise weiter, und schließlich ging Mogens allein voran, die anderen, außer Atem, gestaffelt hinter ihm.

8.45

Biggie saß in seinem Auto am Strand und betrachtete sie, alle vier schlank, braune Rücken, glatte, federnde Pobacken, das eine Mädchen mit großem, ausladendem Busen und kurzgeschnittenem schwarzem Haar und einer Löwennase im breiten Gesicht, im ganzen ziemlich groß, das andere ein bißchen schwach über den Lenden und ein bißchen rundrückig wie ein Büroangestellter, mit leichter Hängebrust und dünnen, feinen Armen, über die das blonde Haar herabhing; die Mädchen trugen um Knöchel, Handgelenke und Hals auf Lederschnüre gezogene Glasperlen, die Männer nur um den Hals. Ihr Auto stand weiter oben am Strand, ein verbeulter Wellblech-Lieferwagen, zum Wohnen eingerichtet, vollgepinselt mit fröhlichen Menschen, Sonnen, Meer und Bäumen und vielen Aufforderungen.

Biggie fuhr weiter. Er beobachtete die vier noch im Rückspiegel, als sie sich in die Wellen warfen und prustend wieder aufstanden, hüpfend, rufend, das Haar zurückstreichend, sich übereinander ins Wasser werfend.

Als Typen waren sie ihm nur zu gut bekannt.

Er konnte etwas später wiederkommen.

8.55

„Faß mich um, Villy“, sagte Lone, „das Wasser zieht.“

Villy storchte auf Zehen zu ihr hin und umfaßte sie hoch unter den Armen, und während sie aufkreischte, trieb ihm die Strömung ihre Beine um die Schenkel. Er fiel hintenüber und zog sie mit sich hinab, und unten wirbelten sie in Süße und angstvollem Suchen nach Luft umeinander herum und gelangten durch das Grüne, wo sie ihre Gesichter erkannten, hinauf, hinauf ins Helle.

Sie fanden gerade noch Grund unter den Füßen.

Grethe stand weiter landeinwärts und warf sich in regelmäßigen Abständen ins Wasser, schwamm fünf Meter und stellte sich dann atemlos wieder hin. Mogens schwamm ruhig längst der Strandlinie.

„Sieh mal!“ rief er.

9.00

Auf dem ruhigen Wasser kam, immer gleichen Abstand zur Küste haltend, ein Brettsegler angeglitten, die ganze Zeit sein Segel nach der Brise richtend.

„Schöner Anblick“, sagte Mogens, „aber stellt euch mal vor, das würden alle machen.“

Sie sahen zum Strand zurück. Auto stand nun neben Auto. Windschutzdächer in Rot und Blau, Zelte, Luftmatratzen auf Autodächern, Liegestühle, Campingtische mit Kaffee und Brötchen.

„Das ist ja furchtbar“, sagte Villy.

„Ach was“, sagte Lone, „sie fühlen sich doch sehr wohl.“

„Sie langweilen sich“, meinte Grethe, „das siehst du doch.“

„Es gibt keinen, der sich am Meer langweilt“, sagte Lone. „Es ist größer als alles sonst.“

„Du vergißt, was sie alles tun, um sich auszustellen. Versuch doch mal zu sehn, wie sie sich einrichten, und dann guck dir das mal ein bißchen später an, wenn sich das Wasser etwas weiter zurückgezogen hat, dann fahren die hintersten vor, und es gibt einen Konkurrenzkampf ohnegleichen.“

„Ich sehe das nicht so“, sagte Lone. „Ich finde, ihr macht zuviel daraus.“

„Ich hab vor, hinterher ein bißchen rumzugehn und mir das anzuschaun“, sagte Mogens.

„Das ist doch ein herrlicher Strand“, sagte Lone. „Er behindert doch keinen, hier kann ja ganz Nordeuropa Sonnenschein schlecken.“

„Das tun sie doch auch, Lone!“ schrie Grethe. „Können sie sich denn nicht verteilen? Das würde ihnen viel besser bekommen.“

„Ich finde das ausgezeichnet“, sagte Lone. „Ich hab den Eindruck, ihr widersprecht euch selbst. Hier ist es doch wirklich wunderbar.“

„Wir müssen über das, was Lone sagt, nachdenken“, warf Villy ein.

„Selbstverständlich müssen wir das“, sagte Mogens, „wir müssen darüber nachdenken, wie wir sonst denken.“

„Ich hab mir übrigens nicht gedacht, mir Gedanken zu machen“, sagte Lone.

„So“, sagte Grethe, „warum denn das nun?“

„Für ein Weilchen, ja“, sagte Lone. „Ich leg mich oben in die Dünen.“

„Allein“, sagte Villy.

9.15

„Ja“, sagte Lone, „du kannst ja ein bißchen später versuchen mich zu finden.“

8.25

Im Hotel war niemand, davon war sie nun völlig überzeugt. Sie stand in der Vorhalle, und alles war aus Beton wie ein Bunker, und sie hatte sich so wild wie möglich ausstaffiert und so viel Make-up aufgelegt, daß sie nicht wußte, ob sie weinen oder lachen sollte.

Sie wollte hinaus in die Sonne, durch die Schwingtüren kamen sie ihr entgegengetaumelt, erfrischt und dennoch mit einem bitteren Geruch nach Schweiß.

Wenn sie wüßten.

Sie schlenderte an den Minimärkten vorbei bis zum Platz vor dem alten Restaurant und dann über die Dünen, den Vorstrand und den riesigen weißen Strand, wo sich die Autos bereits in zwei Reihen geordnet hatten. Über die ganze südliche und nördliche Küste verteilt standen überall Autos, wimmelte es überall von kleinen Ameisenwesen auf Hinterbeinen, die sich Menschen nannten. Sie kam sich wie ein Pferd vor. Über der Ponyranch war schon die Fahne gehißt, und obgleich es noch nicht einmal halb neun war, herrschte dort schon dichtes Gedränge vor dem Zaun aus Autos und Eltern, die ihre kleinen, überflüssigen und anstrengenden Sprößlinge auf Shetlandponys hoben, während die größeren auf Fjordpferden und Isländern Runden ritten, bevor der lange Ritt durch die Heide und die Anpflanzungen begann.

„Fräulein Rebecca!“ erklang es inmitten der Dünenlandschaft, und sie wurde von einem frohen Augenpaar, umgeben von feinstem Runzelspiel, angehalten.

Und wie schön doch das Wetter sei! Und ob sie all die Lerchen gehört habe.

Aber sie empfand nur Ungeduld.

Und versprach dennoch, mit dem ewig badenden Frauenarzt aus Berlin den Nachmittagstee zu trinken.

„Kann ich das größte Pferd haben?“ fragte sie und wurde taxiert.

Sie stieg auf, hatte das vorher nur wenige Male probiert und schämte sich trotzdem nicht.

Es paßte zu ihrem Hintern, umschloß ihn leicht von hinten und hatte doch Festigkeit. Vielleicht war das etwas für sie. Sie sah, daß alle sie anblickten, während sie das Pferd leicht zum Steigen brachte. Unterdrücktes Protestgeraun.

„Kann ich eine Peitsche haben?“ fragte sie den Pferdeknecht.

Sie erhielt eine mit gelbem Stiel und dachte an ihre Kindheit, an den Bruder, der mit einem Kreisel spielte.

Sie ritten langsam am Strand entlang, der Heide zu, es wurde heiß, sie wollte schon die Bluse aufknöpfen, überlegte es sich dann aber anders, mit ihr ritten lauter kleine Jungen von zwölf und noch jünger und vierzehnjährige Mädchen.

„Könntest du meinem Pferd ein paar Schläge hinterdrauf geben?“ sagte sie zu dem Jungen, der an der Spitze ritt, „es ist ein bißchen träge, gib ihm nur ...“

Er versetzte ihm einen hastigen Hieb und noch einen, und es schoß vor. Das half auch ihr, doch es genügte nicht. Sie bekam einen roten Kopf und war begeistert. Ihr wurde freier ums Herz, und sie fühlte sich ein bißchen jünger. Sie zog die Zügel an und ritt zurück.

„Siehst du, wie es kann?“ sagte sie, und er versetzte ihm noch einen Hieb, nun jedoch über den Rücken, und als die Peitschenschnur wieder hochschnippte, traf sie sie zwischen die Schulterblätter, ganz leicht nur.

Sie ließ es galoppieren, zügelte es dann aber und ließ es im Schritt gehen.

„Mehr nicht“, sagte sie und hob abwehrend die Hand, als der Junge ihr noch einmal diesen Gefallen erweisen wollte. Sie nahm die Peitsche und hielt sie hinter sich und reizte das Pferd damit leicht an der Schwanzwurzel und sagte: „Hopp, hopp“, wie es die Reiter getan hatten, wenn sie ihr auf dem Heimweg vom Wald begegnet waren.

9.50

Eine Katze fauchte sie von einem Vordach aus an, als sie auf ihrem Ziel, einem alten Hof im Süden, einritten. Wenn sie eine Maus gewesen wäre, hätte sie sich gern von ihr fressen lassen. Sie glitt herab. Es war heimgezahlt. Sie blickte sich um. Im Süden lag der Campingplatz. Im Norden sah sie die Kirche. Den Weg wollte sie gehen.

Sie folgte der breiten Bankette auf der rechten Seite. Autos rauschten vorbei, mit Familie beladen.

Es war noch immer nicht später als Punkt zehn. Sie würde den Pfarrer predigen und die Gemeinde singen hören, während sie über den Friedhof ging.

9.55

Die Kirchenglocke läutet, fern, verschwindend und dann wieder näher kommend.

Da ist ein Flugzeug in der Luft, hoch oben, eine kleine brummende Propellermaschine.

Da sind das Lerchengetriller, die durchdringenden Beunruhigungsschreie des Austernfischers, hoch über den Strandwiesen das jammernde Pfeifen der Brachvögel, der ekstatische Minimotorlärm der Grillen von den Rasenflächen unterhalb der Dünen.

Planschende, schleppende Trägheit, als ein paar Kinder durch den Priel waten, und das Plätschern mischt sich mit all den Zwischentönen und den leisen, interessierten Stimmen, ganz mit sich selbst beschäftigt, während sie südwärts zum Deich wandern.

Das Sausen über den Dünen, die stumme Antwort des Strandroggens, die Sandkörnchen, die rascheln und über den Kragen und den Rücken hinabrieseln, die Spitzen des Strandroggens, die kitzeln und in die Arme stechen, die weißen Fliegen, die von den Ähren herablaufen und sich zwischen den Haaren auf den Armen festsetzen und kribbeln und krabbeln.

Von den Wiesen landeinwärts duftet es schwach, eine Spur Honigduft, eine Spur Kiefernduft und vielleicht eine Spur nach angebrannter Rhabarbergrütze. Nun wird weit weg gerufen.

Er hat reichlich Zeit. Er hält die Augen geschlossen, und Ölseen treiben vorbei, und farbige Zellenwelten bauen sich in seinen Augenschalen auf.

Er redet sich ein, daß er nichts zu tun hat. Er hat hier zu ruhen. Er hat hier in Frieden zu ruhen, bis Inger kommt und ihn zu Mittag holt und ihm behilflich ist, von den Dünen herunterzukommen.

„Peter“, hört er sie sagen, während sie das Gelände am Fuß der Düne absucht, „bist du da oben?“ Und sie hat eine Flasche gefunden, die sie ihm zeigen wird.

9.56

So pflegt sie zu kommen.

Abraham war so wie üblich aufgestanden und hatte am Auto herumgepusselt, mit dem er nie fertig werden kann, nie kann es gut genug werden, und wenn er den Wachsfleck an der linken Vordertür, wo sein Platz ist, weggekriegt hat, ja, dann entdeckt er einen rechts auf der grauen Kühlerhaube.

Ach was, zum Teufel damit.

Er hat schon lange mit einem Vormittagsbier und einem ganzen Apfelbaum über sich dagesessen und auf Edith gewartet, die sich hinter dem vierteiligen Küchenfenster seitlich hin- und herbewegt und Brote schmiert und zusammenlegt, mit reichlich Pergamentpapier dazwischen. Sie kennt ihn.

Auf der Straße kommen sie vorbeigespritzt mit einem Tempo, das weit über der Geschwindigkeitsbegrenzung liegt, aber die Straße hält das wohl aus. Er hat selbst daran mitgebaut, im Schnitt fünfhundert Meter täglich, die Streifen fehlen aber noch, denn die Maler haben den ganzen Monat Urlaub gemacht. Es ist zweifelhaft, ob die Leute genug Charakter haben, auch ohne diese Weisungen zurechtzukommen.

Edith denkt angestrengt nach, ob es auch für sie beide reichen wird, sie bewegt die Lippen, sie redet mit sich selbst, sie zählt und rechnet, sie schlägt sich sogar einmal vor die Stirn und geht zum Küchenschrank und holt ein kleines Sägemesser hervor und schneidet damit Tomaten, schön dünn und schön gezackt.

Hm. Abraham blickt bald zu ihr hin und bald auf den Verkehrsstrom mit all den vielen sonnentrunkenen Gesichtern hinter den offenen Fenstern, die sich einen Augenaufschlag lang in der Einfahrt zwischen den beiden Ahornhecken zeigen.

9.30

„Bist du bald fertig?“ ruft er, er hat keine unangebrachten Zeichen von Geduld von sich gegeben, wohl aber fast eineinhalb Stunden gewartet.

Edith zählt mit einem Finger und blickt zum Übergardinenschal auf und dann zu ihm hinaus und sagt: „Ja, in ungefähr zehn Minuten.“ Auf dem Gasherd hinter ihr dampft es aus einem Topf.

Abraham sieht, daß schon ein Extrapaket fertig ist, ein bißchen unförmig und bucklig.

Edith will also den Hund mithaben. Er liegt mitten auf dem Hof unter dem Bornholmer Vogelbeerbaum und will sich einschmeicheln, schlägt mit dem Schwanz und hat das Maul aufgesperrt und läßt die Zunge heraushängen. Abraham ist der Meinung, daß ein Hund nicht an einen Badestrand gehört. Hunde sind doch keine Menschen. Er kann das nicht leiden, aber er will nichts sagen. Das soll ihnen nicht den Tag verderben. Nur ihm selbst verdirbt es ein bißchen den Tag.

9.35

Er geht hinaus auf die Straße. Da überholt einer sehr schnell und landet dabei fast in der Bankette, im Auto entsteht Panik, und im Wagen, der überholt wird, drohen sie vor Wut, und der Fahrer hupt mehrmals. Aber die Verkehrspolizei ist vormittags nicht allzu rührig. Vielleicht kann sich der Staat das nicht leisten, trotz all der Strafmandate. Solch eine Streife muß sich ja selbst ihr Gehalt verdienen.

Ganz nette Leute, wenn sie all ihr Lederzeug abgelegt haben.

9.45

Nun kommt Edith mit den Schachteln und Körben, der Thermoskanne und den Getränken.

„Ich hab deine Badehose mitgenommen“, sagt sie.

„Willst du denn baden?“ fragt er und sieht sie an.

So was sollte sie lieber bleibenlassen.

„Bei solchem Wetter“, sagt sie, und die Bronchitis rasselt kräftig in ihrem Hals. „Du kommst auch nicht drum rum!“

Er wird sich hüten, darauf zu antworten.

9.50

Und dann fahren sie. Der Hund steht zitternd und schwanzwedelnd auf dem Rückpolster. Edith sitzt in ihrem geblümten Kleid ein bißchen schräg auf dem Vordersitz, und Abraham achtet darauf, daß es nicht zu einer Karambolage mit ihrer linken Brust, ihrem Bauch und ihrem Schenkel kommt, wenn er runter in den dritten Gang oder rauf in den vierten schaltet.

„Es werden viele Leute da sein“, sagt Edith. „Sieh mal, wie sie aus allen Richtungen an der Ampel halten.“

„Wenn wir keinen schönen Platz kriegen, fahren wir wieder, dann können wir auf dem Deich sitzen und essen“, schlägt Abraham vor.

9.55

„Es ist ja genug Platz da“, sagt Edith. „Da fährt der Fischmann, er will raus und den Badegästen am Strand Räucherfisch verkaufen.“

Abraham muß daran denken, daß sie selbst auch dazu gehören, bald.

„Ich pfeif auf den Fisch, den sie draußen am Strand verkaufen“, entgegnet er – vielleicht ein bißchen hitzig.

„Ich könnte mir nach dem Baden ganz gut einen Räucheraal vorstellen“, sagt Edith, die die Hand unter der Wange, ja bis rauf zur Schläfe hat.

10.15

Bald sehen sie über der Insel das Meer, das sich weithin dehnt und so blau ist.

10.05

Biggie hat oben bei den Dünen vorm Hotel das Verdeck seines Wagens heruntergeklappt. Er trägt eine hellblaue Badehose mit weißem Gürtel und ein bauchfreies weißes Polohemd.

Er beobachtet alle, die vom Hotel kommen oder dort hinaufgehen, durch seine Sonnenbrille, in der sich, wenn man ihn ansieht, der große Strand spiegelt.

Da ist so eine Schicke, ganz in Weiß, langer weißer Rock, weiße Bluse und weiße Mütze, sehr braun. Sie entblößt die Zähne und reißt das eine schwarze Auge in Richtung zu ihm auf, und er wird ein bißchen zu eifrig, und sie sieht weg, hält den Körper ein klein wenig schräg, in einer schrägen Achse, so wie die Mannequins, etwas kühl, aber wer weiß.

In der Luft fauchen kleine Modellflugzeuge. Väter und Söhne stehen unten am Strand über winzige Stationen gebeugt und dirigieren. So was kostet gut und gerne ein paar hundert Mark. Hoch über den Dünen stehen Plastedrachen von den Sommerhäuschen weiter landeinwärts. Und gleich nachdem die Kirchenglocke aufgehört hatte zu läuten, war das Motorengeräusch einer einmotorigen Propellermaschine zu hören.

Sein Vater hatte immer von dem Zeppelin von 1934 erzählt, der so tief flog, daß man alle Passagiere sehen konnte, die an den Fenstern standen und zu den wenigen Badegästen herabwinkten, die es damals gab. Ein Propagandaflug.

Er stellt das Autoradio an, schaltet es aber gleich wieder aus.

Er ist ein sehr gut aussehender Mann, aber das reicht trotzdem nicht.

10.15

„Wo ist denn deine Frau, Biggie?“ redet Paul ihn an. „Was denn, du stehst hier und hältst nach Damen Ausschau, wo du doch am Nachmittag springen sollst? Paß bloß auf, daß du auch die Reißleine ziehst, Biggie.“

Biggie sieht auf Paul hinunter, der in seinen grauen Shorts flachbrüstig dasteht und zu ihm aufsieht, den weichen Stoffhut tief in die Stirn gezogen.

„Das ist doch nicht schlimm“, sagt Biggie, „wir haben das ja oft genug geübt. Es ist herrlich, je höher, um so besser.“

„Eine Art Freiheit“, meint Paul.

„Das kann man wohl sagen“, antwortet Biggie, „es ist ein Vergnügen, das jeder Mann haben kann, wenn er Lust dazu hat, besonders der freie Fall, die haarfeine Berechnung, das Abbremsen, das Rumschwingen und das Abgleiten. Verstehst du.“

„Das ist so“, sagt Paul.

Biggie sagt, daß es so sei.

„Das ist übrigens ein flotter Wagen, den du dir da zugelegt hast“, sagt Paul und streicht über die heiße Kühlerhaube. „Farbfernseher müssen sich im Augenblick ganz gut absetzen lassen, trotz all der Einschränkungen.“

„Was der Mensch braucht, muß er haben“, sagt Biggie.

10.20

Sie blicken über den Strand, um eine Pause zu gewinnen, damit sie sich trennen können. Die Toilettenwagenburg ist nun an allen Seiten von Autos umgeben. Die Würstchenbuden werden gerade an ihren Platz gerollt. Die hintersten Autos sind im Begriff, zu den trockenfallenden Flächen vorzufahren.

„Jetzt kommt der Hubschrauber“, sagt Biggie.

Die Maschine umfliegt die vorspringende Düne, die im äußersten Süden aufragt, und folgt dann der Küstenlinie nach Norden.

„Bin gespannt, wieviel heute auf ihren Luftmatratzen raustreiben, das Wetter ist danach“, sagt Paul.

Sie schweigen.

Da war so vieles.

Sackert hatte eine Woche lang ganz unten im Süden in einem Verschlag gelegen, der aus Treibgutstücken zusammengestoppelt war. Er war rot und immer röter geworden und auch ein bißchen dünner, aber es ging ihm nicht besser. Dafür war das Wetter besser geworden.

„Geht’s dir gut?“ fragte Kæthe und blickte zu ihm hinunter. Sie hatte braune, mandelförmige Augen und war ungefähr sechzehn.

„Ach, das juckt“, antwortete er, „das juckt und juckt.“

„Ich komm und juck dich“, sagte sie, „brauchst es nur zu sagen.“

9.55

Er blickte über die Brettkante und verfolgte ihren Gang; lange schlanke Beine, ein magerer Rücken, der Kopf leicht geneigt, eine einzelne braune Flechte den Nacken hinab; aber dieser orientalische Blick und das freundlich-spöttische Lächeln, wo hatte sie das her? Sie bückte sich nach einem Brett, ihr Körper breitete sich aus, als schwebe sie tief über dem brennendheißen Sand, gerade da sah sie zurück und bemerkte ihn, wie er mit seinem schwarzen Schnurrbart dastand und über die Wand blickte. Spöttisch-freundlich, aber er hatte sich nicht lächerlich gemacht.

Er legte sich wieder hin.

Die Jugend hatte nicht mal dafür Interesse.

Vielleicht war es die Seele, die sie sich geben wollten.

Sich Seele geben.

Er mußte wieder aufstehen, aber er durfte sich nicht kratzen. Er schlich zum Wasser hinunter, dort gab es ein bißchen Linderung. Etwas weiter nördlich war man bei den ersten Autos dabei, Sonnensegel aufzustellen, Frauen, deren weiße Partien leuchteten, und Haar, das im Wind flog.

Und ein paar im Anzug, die sich hinsetzten, das Haar in die Stirn geweht.

Ganz oben am nördlichen Horizont die zusammengeballte Hauptmasse, blinkend, in innerer Bewegung, und in der flachen Schaumverbrämung des Meeres Gesicht neben Gesicht, in Selbstverzückung und in Verzückung füreinander, angehoben, sinkend und verschwindend und zurückkehrend, Kugel, Blasen und diese hochaufgerichteten dunklen Körper vor dem Himmel, der hinter ihnen und um sie her brannte.

Er setzte sich mit vorgestreckten Beinen ans Wasser, legte sich hin und ließ sich überspülen, schloß die Augen.

10.00

Vom Wind und den energisch Wandernden, die, ihre Hemden um die Lenden gebunden, an den Baken vorbeischritten, klang es herüber:

„... aber kein Mensch könnte das machen ...“

„... und dann – ja vielleicht ...“

„... und an einem Tag ist das Ganze zugewachsen – und an einem anderen ist es überflutet, hier ist nichts fest ...“

„... jetzt sind sie selber der Meinung, daß es reicht, jetzt sagen sie selbst, daß es zu viele sind ...“

Der Hubschrauber flog tief über ihn hinweg. Sackert öffnete die Augen und begegnete vielleicht dem Blick des Piloten, obgleich das nicht nötig war. Er war einer, und da war einer und da noch einer, und vielleicht behielten sie sie allesamt im Auge. Was tat das schon?

10.15

Als er hinaufging, kam Adriane, ausgetrocknet, runzlig, faltig.

„Guck mich an“, sagte sie mit einem Lächeln, als er sich ihren Anblick ersparen wollte.

Er sah ihr in die Augen.

„Nicht nur dahin“, sagte sie, „mach mir die Freude.“

10.17

Er versuchte hinzusehen.

„Nun machst du mir eine Freude“, sagte sie und versetzte ihm einen Klaps.

Sie mußten vor dem alten Restaurant einen Kaffee haben.

Und die Fensterscheiben spiegelten den ganzen Strand.

„Der Pavillon hier, der wurde zur Einweihung des Kanals gebraucht, hab ich mir erzählen lassen“, sagte Bloch.

„Du bist oft hier gewesen?“ fragte Gerard.

„Nicht so oft, und trotzdem, doch, ziemlich oft“, antwortete Bloch. „Eine alte Tante von mir ging zur Kur hierher. Als ich Kind war, ging man noch zur Kur, da wanderten die Leute noch, da schwammen sie noch, da suchten sie noch die Ruhe, da lagen sie draußen in den Dünen, um Luft zu schnappen, selbst im steifsten Sturm legten sie sich da hin, natürlich in Decken gewickelt, und sie gingen bei riesigen Wellen ins Wasser, und sie lasen Bücher, und sie aßen sehr maßhaltend, alles drehte sich um die Gesundheit, um das Wohlbefinden ...“

„Und trotzdem starben sie“, warf Gerard ein.

„Ja, oft sogar früher“, sagte Bloch, „sie waren noch nicht darauf eingestellt, lange zu leben, alles hatte seine Zeit, die verkürzte Sexualität in der Ehe, die Begrenzung der Gefühle, die Formalisierung aller Dinge, das Eingestelltsein aufs Sterben – aber dafür war das Leben intensiver.“

„Die Äpfel schmeckten damals auch besser, hab ich gehört“, sagte Gerard.

„Alles schmeckte besser, das Leben selbst ist verflacht, wir sind jetzt alle ein Industrieprodukt, wir halten ein bißchen länger, aber dementsprechend ist auch der Inhalt. Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, so lange zu leben.“

„Und damit fanden sie sich ab“, sagte Gerard.

„Ja“, sagte Bloch, „damit fanden sie sich ab, selbst sie fanden sich damit ab, sie waren ja trotzdem Optimisten, sie konnten es nicht lassen ...“

9.55

„Komm“, sagte Bloch, und sie standen auf, „sieh sie dir mal alle auf einmal an, fast hunderttausend, fünfundneunzigtausend gleich hier an der Abfahrt konzentriert, hier sind die Angebote: Unterhaltung, Erste Hilfe, dort hinten sind die anderen, die Platz brauchen, am weitesten weg sind jene, die ganz allein sein wollen, jene, die allein sein müssen, jene, die nur allein sein können. Wer von ihnen schafft es, was glaubst du?

Hier sind einige zwanzigtausend Autos, sie stellen lediglich einen Wert von ungefähr einer Milliarde dar, jeder Mensch ist mit einer Million versichert, das sind hundert Milliarden plus eine Milliarde für die Autos, du hast bestimmt nicht gewußt, daß Autos so wenig wert sind. Das sind einhunderteine Milliarde, völlig schutzlos, ohne Ärzte, ohne irgend etwas. Ist das nicht großartig? Ein paar Polizeiautos, ein Hubschrauber, doch im Prinzip total entblößt. Um der Sonne und des Badens willen. Und das geht.“

„Es ist eine Religion“, sagte Gerard.

„Vielleicht“, sagte Bloch, „es ist eine Ergriffenheit, die keiner so recht in Betracht zieht – bis auf die Grundstücksspekulanten –, das Meer läßt sie alle total vergessen. Alles, was an Unbehagen mit dem Körpergewicht verknüpft ist, wird eliminiert, die Bewegungen werden freier, das Gemüt gewinnt seine Kindlichkeit zurück, sieh dir die Zehntausenden Buddhas an, die das Gesicht der Sonne zugekehrt haben. Ja, das ist ein religiöses Fest, ein Eskapismus, eine Erlösung der ursprünglichen Art, aber total konsequenzlos, asozial erfrischend für die, die vor dem allumfassend Regulären flüchten müssen. Beachte bitte, daß am Strand nie Verkehrsunfälle vorkommen, aber dann sieh dir das mal an, wenn die Leute nach Hause fahren.“

„Es gibt Menschen, die es lieben, schnell zu fahren“, sagte Gerard.

„Natürlich“, sagte Bloch, „die Geschwindigkeit ist eine andere Religion, alles geht in Richtung Reduzierung eines Bewußtseins, das keinen Inhalt hat und keinen finden kann, das ist der Strand.“

„Ist das der Strand?“ fragte Gerard.

„Ja“, sagte Bloch, „das ist der Strand. Und deshalb werden sie kommen, ganz gleich, wieviel sie sind, je mehr, desto besser, und sie werden ins Wasser gehen, selbst wenn es verunreinigt ist, denn das lindert, das erlöst, das nimmt weg, und selbst wenn man ganz in der Nähe der Küste Bohrtürme baut, werden sie unter und zwischen ihnen baden, so stark ist die Überredung des Wassers.“

„Und niemand weiß davon“, sagte Gerard, „sie sind ja einfach nur hier, sie kommen mit Tausenden von Absichten.“

„Ja“, sagte Bloch, „mit Tausenden von Absichten, so nähern wir uns alle den heiligen Stätten, aber hier können sie sein, hier ist alle Rastlosigkeit von ihnen genommen, hier haben sie keine Verpflichtungen, hier sind sie nichts und brauchen nichts zu sein.“

„Es genießen, nennen sie es“, sagte Gerard mit einem Lächeln.

„Das ist eine neue Tatsache“, sagte Bloch, „sie ist furchtbar, denn sie ist ohne Geschichte, der Mensch will sich nicht mehr zu sich selbst bekennen, und das ist überall so.“

„Glaubst du, daß du recht hast?“ fragte Gerard.

„Ja“, antwortete Bloch, „ich glaub, da ist was dran.“

„Das ist eine Geschichte“, sagte Gerard.

10.00

„Ja“, sagte Bloch, „aber noch kennt sie keiner ganz.“

10.30

Paul hatte gerade den Teereimer aus dem Geräteschuppen geholt, als Inger an der Hausecke stand. Er setzte den Eimer ab und legte den Pinsel hin.

Und nun kann man sie von allen Nachbarhäusern aus sehen.

„Warum bist du gekommen?“ fragte er. „Du weißt ja, wie es ist, du weißt ja, ich kann nicht ...“

„Ach Paul“, sagte sie, „Paul ...“

„Inger“, sagte er, „du weißt ja, daß es unmöglich für mich ist, du wußtest es, und nun wollte ich gerade den Sockel teeren, und was soll ich jetzt, wozu willst du mich jetzt haben?“

„Paul“, sagte sie, „ich bin am Strand, zusammen mit Peter und mit Freunden, ich geh über Mittag nach Süden, ich bin vor drei zurück – am Meer entlang können wir uns gar nicht verfehlen.“

„Ich weiß nicht, was ich zu dir sagen soll“, entgegnete Paul.

„Das macht nichts, Paul, du sollst bloß eins wissen“, sagte sie.

„Sag es jetzt!“

„Hier kann ich es nicht“, sagte sie, „hier wird es zu lang. Dort draußen kann ich mich vielleicht mit sehr wenig Zeit begnügen.“

„Ja“, sagte er.

10.35

„Dann“, sagte sie, „dann, Paul ...“

Am Meer

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