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Bevor ihn der Schlaf in die Arme nahm, dachte er an die Mutter, den Vater und die Schwester, ein wenig von ihrer Kraft steckte noch in dem Aschehaufen, aber meistens waren sie im Gildenhaus der Baummarder, wo sie sicher satt und fröhlich lebten. Vielleicht konnte er im Traum dorthin gelangen, bei ihnen sein und einen guten Rat bekommen.

Er dachte auch an das Bauernmädchen, das er eines Tages rauben wollte, und der Gedanke, daß er zu spät kommen könnte, beunruhigte ihn. Daß ein anderer sie raubte, bevor er einen Namen hatte und einen Ort, wohin er sie bringen konnte.

Dazu würde es vielleicht gar nie kommen.

Er merkte, wie ihn die Verzweiflung packte, und er drehte sich zur Wand. Durch die Dachöffnung schien das Dämmerlicht auf ihn herab, und bald würden die Sterne aufgehen.

Er schlummerte ein und träumte zuerst nichts, aber dann kam der alte Baummarder durch seinen Gang zu ihm, schaute ihn an, sagte, daß er ihm nichts zu sagen habe und verschwand. Sein buschiger Schwanz schleifte über den Boden des Ganges, der Marder hustete und lachte über ihn und sich selber. Er war es gewesen, der am Anfang der Welt aus einem hohlen Baum gekrochen war und alle Dinge der Welt gesehen und ihnen Namen gegeben hatte, damit sie Bestand hätten, auch wenn er nicht mehr wäre.

Der Junge verzweifelte im Traum, er schnappte nach Luft, und er erwachte bereits einen Tag später. Er kroch ins Freie und blinzelte unwillig in die Sonne, die auf der anderen Seite des Sees hoch über den Wäldern stand. Er hörte die Kraniche schreien, und er mußte sich nach ihnen umsehen, obwohl er gar nicht wollte. Dann kroch er wieder hinein zu seinem Schlafplatz und versuchte, richtig einzuschlafen, aber die Augen fielen ihm erst gegen Abend zu.

Er schlief, ohne zu träumen, obwohl er es wollte. Er schlief zwei volle Tage, es war Abend, als er wach wurde; er hörte den Wind in den Bäumen rauschen, hörte das Plätschern der Wellen am Ufer und das Gluckern des Baches. Im Wald bellte ein Fuchs, so daß es widerhallte, und auf einem Baum rief eine Eule. Er schlüpfte ins Freie, er sah alles in der Dunkelheit, und er ging zur Quelle, um zu trinken. Er sah seine Augen im Wasser, und darunter leuchtete der Sandgrund, von wo das Wasser in kleinen Wirbeln heraufströmte. Er schlüpfte wieder hinein zu seinem Lager, durch die Dachöffnung sah er einen blaßblauen Himmel leuchten und in der Mitte der Öffnung drei Sterne im Zeichen des Jägers. Da wußte er, daß er jederzeit mit dem Winter rechnen mußte.

Er war hungrig, aber nicht sehr. Vielleicht schickte ihn der Hunger tiefer hinein in die Träume.

Er schlief ein und träumte, daß alles so war wie damals, bevor er die Mutter, den Vater und die Schwester verlassen hatte. Aus der Tür der Hütte drang Rauch, die Mutter saß am Feuer und kochte, er und der Vater kamen vom Fischen heim. Es war hungrig im Schlaf, und der Fisch, den die Mutter über der Glut briet, sättigte ihn nicht. Das sagte er der Mutter, und sie gab ihm mehr, aber auch das machte ihn nicht satt, und bald war kein Fisch mehr da.

»Du wirst langsam erwachsen, kleiner Mann«, sagte die Mutter, holte den Lederbeutel hervor, öffnete ihn und zeigte ihm lachend die drei Federn des Kranichs.

Er schaute den Vater an und wollte, daß er ihm einen Namen gab. Aber er durfte nicht danach fragen.

»Was bedrückt dich«, fragte die Schwester, »du siehst so traurig aus. Hast du auf deiner Wanderung etwas Schreckliches erlebt?«

Und später am Abend sagte der Vater:

»Ich finde keinen Namen für dich, wie sehr ich mich auch ablenke und an andere Dinge denke, er kommt nicht von selbst. Ich könnte dir einen verdrehten Namen geben, den ich selbst erfunden habe, aber den sollst du nicht tragen. Du mußt warten.«

Es war keine Freude, sich zurückzuträumen. Sogar im Traum war alles leer und sinnlos geworden.

Er erwachte nach vielen Tagen und Nächten. Es war Morgen, als er erwachte, und seine Glieder waren steif. Durch das Loch in der Wand sah er, daß draußen Reif auf den Grashalmen glitzerte. Sein Atem war sichtbar. Er hatte Hunger, einen Bärenhunger. Er mußte sich etwas zu essen beschaffen.

Er schlüpfte ins Freie, tief über dem See hing der Nebel, aber über dem Waldrand erschien bereits die Sonne. Er schüttelte sich, er gähnte, er rieb sich die Augen und ging zum Bach, der von der Quelle kam. In dem tiefen Kiesloch nicht weit vom Seeufer entdeckte er die schwarzen Rücken der Forellen, sie standen gleich unter der Waseroberfläche. Er schlich lautlos, mit dem Schatten hinter sich, wartete, und packte dann mit einem raschen Griff eine Forelle, drehte sie und biß ihr in den Nacken.

Er aß sie roh, sie schmeckte nach Quellwasser, sie hatte wohl nie etwas anderes gekannt als Quellwasser. Sie war gut zu ihm. Alle ihre Brüder und Schwestern würden gut zu ihm sein, sich fangen lassen und ihn im Winter ernähren, bis er ausgeschlafen hatte.

Er ging auch zur Mulde und versorgte sich mit Moosbeeren. Sie waren noch süßer als vorher. Der Frost hatte sie berührt. Der Frost machte alle Dinge süßer.

Er saß in der Sonne, er dachte an das Bauernmädchen, er dachte so verrückt, daß er ihre Stimme hörte. Er hörte sie lachend mit ihren Schwestern oder Freundinnen aus dem Wald laufen, und sie lief ihm entgegen, er brauchte sie nicht zu entführen. Dieser Gedanke ließ ihn nicht einschlafen, ließ ihn nicht ruhig liegen. Er wanderte den See entlang, aber bei der Gänsebucht hielt er inne und kehrte zurück, um die Gänse nicht unnötig aufzuschrecken, wenn er nichts von ihnen wollte. Er ging zur Quelle und trank Wasser, und er sah sein Gesicht und unter dem Gesicht den gewölbten Sandgrund der Quelle, und unter dem Sandgrund sah er ihr Gesicht, das ihn durch seines anlachte. Er verbarg sein Gesicht in den Händen, um sie nicht zu sehen.

Aber er hörte sie reden, und sie redete zu ihm. Sie sagte, er solle kommen, aber davon wollte er nichts wissen. Er mußte durch die Trauer hindurch.

Er schlummerte einige Tage, verdrossen über sich selbst, weil er richtig schlafen und sich ein Zeichen erträumen wollte, damit die Trauer deutlich wurde und sichtbar wie ein Vogel, mit dem er reden konnte.

Der Frost verschwand nicht mehr, das Eis auf dem See wuchs von den Ufern der Buchten zur Mitte hin; dann setzte der Wind ein. Das Krachen des zerbrechenden Eises hielt ihn nachts wach, er mußte aufstehen und sich bewegen. Er überlegte, ob er einen Fuchs oder Luchs jagen sollte, um ein Fell zum Wärmen zu haben. Tagsüber aß er viele Forellen, damit das Loch im Magen nicht zu groß wurde. Er legte auch eine Forelle in den einen Steinring vor der Hüttentür, und in den anderen legte er immer, wenn er für sich Moosbeeren holte, ein neues Häufchen. Und jedesmal, wenn er nachsah, waren die Ringe leer. Jemand kam vorbei, der seinen Gruß bemerkte und ihm nichts zuleide tat.

Das mußte einer von denen sein, die eines Morgens den Aalspeer des Vaters und seinen Eishammer an die Reste des Türpfostens gelehnt hatten. Beides stand da, als hätte es immer dagestanden. Vielleicht hatte der Vater selbst für eine Weile den Aschehaufen verlassen, in der Absicht, sein Bestes weiterzugeben.

Jetzt wurde der Junge froh und munter, er mußte ein paar Luftsprünge tun, er mußte ein Lied singen, das mit aj-aj-aja endete wie alle guten Lieder, und obwohl das Eis, das sich wiedergebildet hatte, dünn war, wagte er sich darauf. Er machte sich leicht, wie es ihm der Vater gezeigt hatte. Er ließ den Blick übers Eis schweifen, um eine Stelle zu finden, wo Luftblasen aufstiegen.

An einer Stelle atmete der Aal gerade aus, als er kam. Er klopfte ein Loch, hob den Speer ganz hoch und stieß ihn hinein. Er spürte deutlich, wie sich der Aal an dem Speer wand.

Er holte die Beute heraus, ein dicker, gelbgrüner Kerl, genug für eine ganze Familie. Er löste den Fisch von der Spitze, trug ihn an Land und schnitt den Nacken durch. Der Aal war ihm sehr freundlich gesinnt.

Er legte ihn in den kleinen Steinring, wanderte ziemlich weit den See entlang, und als es dunkel wurde und er sein Nachtlager aufsuchte, überprüfte er den Steinring nicht. Er schlief traumlos und voller Erwartungen.

Noch vor Sonnenaufgang erwachte er, frierend vor Kälte, aber er nahm sogleich den Rauchgeruch wahr, nicht aus dem Aschehaufen, sondern lebendigen Rauch, wie er gehofft hatte. Er schlüpfte ins Freie, und da fand er den Aal in dem Steinring, gebraten und nach Fett duftend, so, als hätte die Mutter ihn zubereitet.

Er tat einen Luftsprung vor Freude und sang ein Lied, noch ein Lied, das mit aj-aj-aja endete.

Jetzt sollte ihn die Trauer nicht mehr in Versuchung bringen.

Aber er wollte den Rest des Winters bleiben und fischen und jagen.

Das Schiff der Fremden

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