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Oktober 1976

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Die Hauswirtin, bei der ich wohnte, beobachtete mich argwöhnisch, als ich den Hörer entgegennahm. „Keine Männerbesuche“, hatte sie ausdrücklich betont, als ich mich bei ihr vorgestellt und nach dem Zimmer gefragt hatte. Es war winzig, aber billig. Also hatte ich es genommen. Auf eine Kontaktaufnahme seitens der Russen hatte ich bereits sehnlichst gewartet, aber dass die einfach bei mir anrufen würden, hatte mich doch überrascht. Woher die wohl die Telefonnummer meiner Hauswirtin hatten? Und überhaupt, wie konnten sie wissen, dass ich jetzt hier wohnte? Na ja, Geheimdienste wussten eben alles. Das beruhigte mich sogar.

„Fräulein Zertik?“

„Ja, am Apparat.“

„Bitte seien Sie morgen um 15:00 Uhr am Schloss Hohenschönhausen.“

„Wo?“

„Na, an dem alten Gutshaus, Hauptstraße 44.“

„Ja gut. Soll ich …?“

„Nicht am Telefon! Und seien Sie bitte pünktlich!“

Klick, aufgelegt. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, aber ich wusch sie sogleich mit dem Handrücken trocken. Das waren Profis. Ich befand mich auf dem richtigen Weg.

Der nächste Tag kam, und ich fuhr mit dem alten verrosteten Fahrrad meiner Hauswirtin nach Hohenschönhausen. Ich schauderte, als ich an der Untersuchungshaftanstalt der hiesigen Staatssicherheit vorbeifuhr. Die hohen Mauern und Wachtürme erinnerten mich an Torgau. Damit wollte ich nie wieder etwas zu tun haben. Das Schloss lag in Alt-Hohenschönhausen. Ich lehnte das Fahrrad an eine der wuchtigen Mauern und wartete. Ein gelblicher Doppeldeckerbus fuhr an mir vorbei. Dann sah ich die mir bereits bekannte schwarze Limousine. Sie kam schnell näher und hielt vor mir an der Bordsteinkante. Der Chauffeur stieg aus und öffnete mir wieder die hintere Tür. Oberst Kurganow saß auf dem Beifahrersitz. Er grüßte freundlich. Mir fiel auf, dass er in Zivil war. Er trug einen hellen Mantel und einen schwarzen Hut.

„Ich komme direkt aus Moskau“, erklärte er mir.

„Alle Achtung, war es dort schön?“

„Und ob! Der Gorky Park, die Moskwa. Katjuscha und Kalinka … ein Gedicht.“

„Sie waren bei Ihren Töchtern?“

Der Oberst grinste über das ganze Gesicht. „Wie, Sie kennen Katjuscha und Kalinka nicht? Von wegen Töchter. Das sind russische Volkslieder. Sie müssen noch sehr viel lernen, mein Kind, wenn Sie eines Tages wirklich zu uns gehören wollen. Hier, ich habe Wodka mitgebracht. Mögen Sie einen Schluck?“

Er reichte mir die Flasche. Sie war in ein Zeitungsblatt der Neuen Zeit eingewickelt. Ich griff danach und führte sie an den Mund.

„Pajéchali, auf geht’s, Nastrovje.“

Ich ließ die klare Flüssigkeit durch meine Kehle laufen. Der Wodka brannte und kitzelte meine Magenwände. Ansonsten war er gar nicht schlecht. „Ah, das tut gut.“

„Nicht wahr? Ist einer der besten, den wir bei uns in Russland haben.“

„Moskau, da möchte ich auch gern mal hin …“

„Nun ja, vielleicht kann ich Ihnen sogar dabei behilflich sein. Möchten Sie noch einen Schluck?“

„Warum nicht?“ Ich spürte bereits die Wirkung des Alkohols.

„Mögen Sie Kaviar?“

„Ich weiß nicht. Ich habe noch nie …“

Der Oberst nahm eine kleine Blechdose und einen Silberlöffel aus dem Handschuhfach.

„Hier, probieren Sie, zur Feier des Tages. Aber Achtung, der schmeckt ein wenig salzig.“

„Zur Feier des Tages? Haben wir denn etwas zu feiern?“

„Ja, das haben wir. Ich habe mich in Moskau für Sie starkgemacht. Aber zuerst verlangt man natürlich einen Beweis Ihrer Loyalität.“

Damit wusste ich nichts anzufangen. Ich zerkleinerte den Kaviar mit den Zähnen und schluckte ihn hinunter. Er schmeckte tatsächlich salzig. An die russischen Spezialitäten musste ich mich erst noch gewöhnen.

„Loyalität?“, fragte ich. „Wie kann ich die denn unter Beweis stellen?“

„Indem Sie für unsere Sache kämpfen.“

Ich blickte den Oberst ungläubig an. „Wo soll ich denn kämpfen? Der Krieg ist doch längst vorbei.“

„Ja, sicher ist er das, aber mit jeder neuen Nation, die sich aus dem Eis hervorwagt, mit jeder Wiederentdeckung alter Identitäten und Leidenschaften, mit jeder Auflockerung des alten Status Quo bekommen unsere Agenten haufenweise Arbeit. Wenn Sie nur einmal Ihre schönen blauen Augen öffnen, werden Sie erkennen, dass der imperialistische Feind uns stetig einkreist und bedroht. Aber wenn man die Gefahr erkennt, ist sie keine mehr, und das verdanken wir nur den wachsamen Augen unserer Spione. Wir haben in bösen Ländern gute Leute, die ihr Leben für unsere Sache riskieren. Hier, trinken Sie noch einen Schluck Wodka. Auf unsere lautlosen Helden!“

„Ja, hicks, auf die Helden.“

Ich war schon leicht beschwipst. So viel Wodka hatte ich noch niemals zuvor in meinem Leben getrunken. Dafür schien der Oberst umso nüchterner zu sein.

„Marie, ich darf Sie doch Marie nennen?“

„A… aber sicher, Genosse Oberst.“

„Also gut, Marie, was würden Sie sagen, wenn Moskau auch Sie …?“

„Mich?“

„Wie ich bereits anfangs erwähnte, habe ich mich mächtig für Sie ins Zeug gelegt.“

„Aber wieso denn gerade für mich? Ich habe doch keinerlei Erfahrung?“

„Nun, ich habe denen erzählt, wie Sie bei uns aufgetreten sind, und glauben Sie mir, die in Moskau verstehen sich darauf, zu beurteilen, wen sie gebrauchen können und wen nicht. Sehen Sie sich das hier einmal an.“ Er griff in die Seitentasche seines Mantels und holte ein Schriftstück hervor.

Ich nahm es an mich und las.

Hiermit verpflichte ich mich zu vollkommener Loyalität dem sowjetischen Staat gegenüber. Des Weiteren werde ich strengsten Gehorsam leisten, sämtliche Aufträge befolgen, sowie alle Hemmungen und Scham über Bord werfen. Ich bin bereit, notfalls auch meinen Körper sowie mein Leben in den Dienst der Sache zu stellen.

Ich schluckte. Das war verdammt starker Tobak.

Oberst Kurganow reichte mir seinen Kugelschreiber. „Hier, unterschreiben Sie.“

Ich dachte nicht lange nach und unterschrieb. Was sollte ich auch anderes tun? Schließlich hatte ich den Stein ins Rollen gebracht und damit mein Schicksal herausgefordert.

*

Oberst Kurganow saß in seinem geräumigen Dienstzimmer und dachte über seine neuste Rekrutierung nach. Sie war ein Glücksfall. Hübsch, klug, ehrlich und unverbraucht. Er würde sie nach Belieben formen können. Sie war etwas anderes als diese Stümper, die die Rekrutierungen an Hochschulen normalerweise hervorbrachten. Wenn er nur an die letzte Veranstaltung dachte, die er in Leipzig organisiert hatte. Das sogenannte ‚Konfliktforschungsseminar‘ war ein großer Flop gewesen. Niemand hatte sich wirklich für sein Anliegen interessiert. Und dann stand da so ein Prachtmädchen quasi direkt vor seiner Haustür und fragte an, ob er eine Verwendung für sie hätte. Natürlich hatte er die. Er würde …

Das Telefon klingelte, und das penetrante Geräusch unterbrach seine Gedanken, auch wenn er den Anruf erwartet hatte.

„Boris?“

„Dobryy vecher, Juri. Hat alles geklappt?“

„Ja, sie hat unterschrieben.“

„Und jetzt?“

„Na, ich werde sie perfekt ausbilden lassen. Du weißt schon: Treffs, Mikrofone, Geheimschrift, Funk, Code, Fototechnik, das volle Programm. Die Kleine ist sehr begabt. An der werden wir viel Freude haben.“

„Und ideologisch?“

„Ich habe sie auf Herz und Nieren geprüft. Das Mädchen ist klasse. Sie hat Charakter, falls du verstehst, was ich meine.“

„Du meinst, sie hat Format?“

„Ja, und gute Umgangsformen. Sie ist wirklich ganz außergewöhnlich.“

„Wie alt ist sie eigentlich?“

„Gerade achtzehn geworden.“

„Was, noch so jung? Na, in dem Alter stellt man sich unsere Tätigkeit noch als großes Abenteuer vor.“

„Na und? Ist es das etwa nicht?“

„Schon, aber nicht so, wie sie sich unsere Arbeit vorstellen wird. Glaub mir, sie träumt wahrscheinlich noch davon, sich im Kleiderschrank des Bundeskanzlers zu verstecken oder das Hauptquartier der amerikanischen Armee in die Luft zu sprengen.“

„Ach was. So naiv kann sie nicht sein. Wir sind doch hier nicht bei der RAF.“

„Das sagst du was. Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe sitzen schon längst in Stammheim, und Ulrike Meinhof weilt schon nicht mehr unter uns.“

„Das ist mir bekannt. Sie hat sich am 9. Mai in ihrer Zelle erhängt. Somit ist die gesamte Führungsmannschaft der RAF ausgeschaltet.“

„Und dafür haben sie sich 1970 extra in Jordanien ausbilden lassen. Aber es gibt doch sicher eine Nachfolgeorganisation?“

„Sicher, die gibt es. Nennen sich ‚Die zweite Generation‘. Da hatten sogar unsere Jungs die Finger mit im Spiel. Wusstest du, dass sie aus dem 1970 gegründeten Sozialistischen Patientenkollektiv entstanden ist?“

„Mein Gott, Juri, was für ein Wort. Ne, das wusste ich allerdings nicht. Wer ist denn dabei?“

„Zwei Typen namens Haag und Mayer sollen die Anführer sein.“

„Ist mit denen etwas anzufangen?“

„Keine Ahnung. Unsere Leute versuchen gerade, einen Kontakt herzustellen, was sich allerdings als sehr schwierig erweist. Die beiden sind äußerst misstrauisch.“

„Verstehe. Also was ist nun mit der Kleinen? Ist sie naiv oder nicht?“

„Ich denke schon. Immerhin hat sie einen unserer Wachsoldaten nach dem KGB gefragt.“

„Ich würde sie mir ja gern selbst ansehen, aber leider schaffe ich es nicht, von hier wegzukommen. Du weißt schon, das Z. K. bereitet gerade die große Militärparade vor. Da brauchen sie jeden Mann.“

„Kann ich mir vorstellen.“

„Also, du willst sie ausbilden und dann als Kundschafterin nach Westdeutschland schicken?“

„Als einfache Kundschafterin? Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass sie davon sehr begeistert sein wird.“

„Nicht? An was hast du dann gedacht?“

„Daran, dass sie einmal einen prima Führungsoffizier abgeben würde.“

„Was, du willst sie Führungsaufgaben übernehmen lassen?“

„Später einmal wird sie bestimmt so weit sein.“

„Das verstehe ich nicht. Solch einen Posten muss man sich doch erst erarbeiten. Führungsoffiziere werden nur unsere besten Leute. Sie hat noch nichts für uns geleistet! Warum setzen wir sie nicht erst einmal als Lockvogel ein? Auf dem Foto, das du mir mitgebracht hast, sieht sie ja ganz passabel aus. Typ Unschuld vom Lande, na, du weißt schon, auf so etwas fliegen die Männer.“

„Du wohl auch, was?“

„Aber natürlich. Jedenfalls weiß ich, wovon ich spreche.“

„Alter Schlawiner … obwohl, darüber habe ich auch bereits nachgedacht, nur eigentlich bräuchten wir dringenden Ersatz für Werner Metzger. Du weißt schon, unser Agent, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Die Sache hat ziemlich viel Staub aufgewirbelt. Besonders, als die im Westen das mit der doppelten Identität geschnallt haben. Dabei war seine Identität hervorragend. Nun ja, sei’s drum. Wir müssen nach vorn blicken, müssen unsere alten Träume in den Köpfen junger Leute entfachen und uns am Feuer ihrer Jugend wärmen.“

„Das hast du aber schön gesagt, Juri. Bist du unter die Poeten gegangen?“

„Nein, ich bin mit Leib und Seele Geheimdienstler, das weißt du doch.“

„Na gut. Den Agentenjob können auch andere erledigen, denn wenn die Kleine ihre Sache gut macht, dann werden wir alle davon profitieren.“

„Du meinst also, Anika soll sie mal unter ihre Fittiche nehmen?“

„Kann jedenfalls nichts schaden. Die bringt ihr die richtigen Kniffe bei, und ich übernehme alles Weitere. So bekommen wir eine neue ‚Schwalbe‘, die bereit sein wird, ihren Körper als Waffe einzusetzen. Na, was meinst du?“

„Klingt gut. Wir schicken sie nach Westdeutschland. Dort kann sie sich erst einmal bewähren und sich die ersten Sporen verdienen. Ich möchte jedenfalls nicht, dass sie ein anderer Verein bekommt.“

„Denkst du dabei an das Ministerium für Staatssicherheit?“

„Unter anderem.“

„Ach was, das kommt überhaupt nicht in Frage. Nur was, wenn sie überläuft und auspackt?“

„Nie im Leben! Wenn ich mit ihr fertig bin, kenne ich sie besser als sie sich selbst. Glaub mir, sie ist die Beste, die ich jemals bekommen habe. Wir müssen ihr nur das Gefühl geben, dass wir sie anerkennen und dass sie eine von uns ist. Eine Soldatin, die sich für das Wohl ihres Vaterlandes einsetzt. Dann können wir alles von ihr haben.“

„Bist du sicher? Sollen wir sie nicht erst einmal tote Briefkästen leeren lassen?“

„Aber Boris!“

„Ist ja schon gut, Juri. Ich kann das sowieso nicht allein entscheiden. Die Entscheidung, ob jemand an der umfangreichen Ausbildung teilnehmen darf, trifft einzig und allein das Präsidium.“

„Von dem du ein wichtiger Teil bist. Du könntest zumindest ein gutes Wort für sie einlegen.

„Also gut, ich werde sehen, was ich tun kann. Das MFS bekommt sie jedenfalls nicht!“

„Do svidaniya.“

Die Liebesfalle

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