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Kapitel 1 Oktober 2002

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Ich mietete mir am Flughafen Hannover Langenhagen einen Leihwagen und fuhr auf die Autobahn 7 in Richtung Hildesheim. Unterwegs musste ich tanken. Ich fühlte mich sicherer, wenn der Tank voll war. Außerdem brauchte ich eine Straßenkarte. Benzin und Karte bezahlte ich mit meiner Kreditkarte, aber da waren auch noch die Kaugummis, die ich mir ausgesucht hatte. Die wollte ich bar bezahlen. Ein paar D-Mark Münzen hatte ich noch dabei.

„Das macht einen Euro“, sagte die Angestellte an der Kasse, während sie etwas in die Tastatur eintippte.

„Wie bitte?“ Ich glaubte, mich verhört zu haben. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ab dem Januar dieses Jahres hatte man in Europa den Euro eingeführt. Auch davon hatte ich gelesen. Besonders, dass sich die Menschen nicht so richtig mit der neuen Währung anfreunden konnten. Jetzt verstand ich auch, warum. Einen Euro für die Kaugummis. Das waren nach meiner Rechnung zwei D-Mark. Unglaublich! Ich ließ die Kaugummis liegen, stieg in meinen Leihwagen und fuhr weiter nach Göttingen. Mittlerweile war es Abend geworden, und ich spürte die Auswirkungen der langen Reise. Ich war jetzt gute achtzehn Stunden unterwegs, das mehrfache Umsteigen mit eingerechnet. Die Adresse, die mir Tante Ingeborg genannt hatte, lag im Ostteil der Stadt. Als ich von der A 7 abfuhr, landete ich im Westen. Ich hielt kurz an, schaute auf die Karte. Göttingen war nur als kleiner Punkt zu erkennen. Das half mir nicht weiter. Ich erkundigte mich bei einem Passanten. Er schickte mich über die B 3 und B 27 zum Stadtwald. Hier befand sich das sogenannte Villenviertel. Es erstreckte sich den Hang des Göttinger Waldes hinauf – eine feine Wohngegend.

Ich hatte es geschafft, parkte den Wagen auf dem Seitenstreifen und sah mich um. Bereits aus größerer Entfernung erkannte ich die niedrige hölzerne Gartenpforte im Licht der untergehenden Sonne. Es folgte ein grün angelaufenes, weit heruntergezogenes Satteldach, das das weiß getünchte Haus darunter fast völlig verdeckte. Ich atmete tief durch, als ich den Garten sah. Die rötliche Erde, die durch das Grün schimmerte, die würzige, warme Feuchtigkeit, die von ihr aufstieg, die bunten Schmetterlinge auf den unzähligen Blüten sowie der natürlich parfümierte Duft beruhigten mich. Ich ging um das Haus herum, rollte meinen Koffer hinter mir her. Großblättrige Pflanzen wucherten bis in die breiten Kronen der Bäume und ließen die letzten Sonnenstrahlen in grüngoldenen Flecken auf der erwärmten Erde tanzen. Zwei Elstern turnten an den Halmen eines dichten Lorbeerbusches. Auf den steinigen Wegen hatten die Pflanzen begonnen, sich ihren Grund zurückzuerobern. Naturbelassen nannte man das wohl.

Dann stand ich vor einer Holzveranda mit einem Geländer aus gitterartigem Zaungeflecht. Hier blätterte langsam die Farbe ab, ein neuer Anstrich war überfällig. Ich ließ meinen Koffer einfach stehen, stieg vorsichtig die kleine Holztreppe hinauf und betrat den warmen Holzboden der Veranda. Hier und da huschte ein Käfer vor mir über die ausgelatschten Bohlen. Die Fenster des Hauses standen offen, genauso wie die Eingangstür. Ich blickte an der hellen Fassade empor und empfand ein unerwartetes Bedauern. Wie schön doch dieses Haus war. Ein echtes Schmuckstück in einer Straße, in der selbst unbebaute Grundstücke bereits ein Vermögen kosteten. Es war Vaters Haus gewesen. Er hatte es in sein Heim verwandelt. Ich versuchte, mich an ihn zu erinnern, aber es gelang mir nicht. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer er gewesen war. Nur manchmal erinnerte ich mich an ein Gespräch, das sich seit meinen Kindertagen fest in meinem Kopf verankert hatte. Es war das letzte Mal, dass ich meine Eltern miteinander hatte streiten hören.

Du sagst mir nie, dass ich hübsch aussehe! Wieso eigentlich nicht?“

Ich sag es dir doch andauernd, Liebling, aber du hörst ja niemals zu.“

Ich hörte das ferne Rascheln einer Zeitung. Vater las immer in der Zeitung.

Lass uns doch mal wieder tanzen gehen.“

Keine Antwort.

Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich sagte, gehen wir doch mal wieder tanzen …“ Mutters Stimme klang verärgert und schrill.

Wieder folgte ein Zeitungsrascheln. „Du hast doch getrunken!“

Nein, habe ich nicht!“

O doch, ich rieche deine Alkoholfahne bis hierhin.“ Vater würdigte Mutter keines Blickes, während er diese Worte sagte.

Ich stellte mir vor, wie sie schmollte.

Gut, dann gehen wir eben nicht tanzen. Wie sieht es denn mit dem Kino aus? Ich war schon so lange nicht mehr im Kino.“

Ich habe jetzt keine Lust. Geh doch mit einer deiner Freundinnen ins Kino.“

Ich hörte Mutter laut atmen. „Ich habe keine Freundinnen, im Gegensatz zu dir.“ Ihre Stimme wurde noch lauter.

Pst! Sprich nicht so laut! Du weckst noch die Kinder auf.“ Vater las weiter in der Zeitung.

Ich wette, deine Freundinnen behandelst du nicht so wie mich. Denen sagst du bestimmt nicht, sie sollen leise sein, wenn sie lustvoll stöhnen.“ Mutters Stimme glich einem lauten Krächzen.

Jetzt hör auf damit, verdammt noch mal! Das ist ja nicht zum Aushalten.“

Glaubst du etwa, ich weiß nichts von deinen Weiberbekanntschaften? Glaubst du wirklich, ich weiß nicht, wohin du gehst, wenn du mir sagst, du müsstest noch Überstunden machen?“

Ratsch! Aus dem Wohnzimmer ertönte ein eigenartiges Geräusch. Mutter hatte ihm die Seite seiner Zeitung aus den Händen gezerrt und sie vor seinen Augen zerrissen.

Vater sprang aus dem Sessel und warf den Rest der Zeitung auf den Teppich. „Du bist ja total verrückt geworden!“

Ich hörte ihn hinter dem grünen Velourssofa hin und her laufen.

Du bist hier der Verrückte“, donnerte Mutters Stimme zurück.

Ich stellte mir vor, wie sie im Begriff war, sich auf ihn zu stürzen.

Ja, ich bin wirklich verrückt! Verrückt, weil ich noch bei dir bleibe!“

Na, dann hau doch endlich ab, du Mistkerl!“

Ganz genau, das werde ich tun.“ Vater nahm etwas von der Garderobe und rannte zur Haustür, doch Mutter hatte noch nicht genug.

Ich weiß ganz genau, wohin du jetzt gehst, du Schwein!“

Die Haustür fiel ins Schloss.

Nein!“ Mutter fing an zu schreien. Dann schlug sie mit den Fäusten gegen die Tür, die Vater vor ihr zugeschlagen hatte.

Er kam nie mehr zurück.

Die Vorderfront des Hauses war blitzblank geputzt. Sie maß in der Breite etwa neun Meter. Hier gab es sogar Zimmer mit einem Blick auf den angrenzenden Park. Und was für einen. Für einen atemlosen Augenblick starrte ich auf das grandiose Panorama vor mir. Eine ältere Dame saß in einem altmodisch geschwungenen Korbsessel in der Tiefe von diesem Teil der Veranda und döste friedlich vor sich hin. Das musste Tante Ingeborg sein. Sie hatte graue Haare und war ganz in Schwarz gekleidet. Als sie die Augen öffnete, blickte sie direkt in mein fragendes Gesicht.

„Bist du das wirklich, Marie? Wie gut, dass du hier bist. Komm, setz dich zu mir auf die Terrasse und lass dich ansehen. Mein Gott, nach so vielen Jahren lerne ich dich endlich kennen.“

Ich war verlegen und setzte mich, unfähig, auch nur ein einziges Wort zu sagen.

„Magst du eine Tasse Kaffee?“, fragte Tante Ingeborg, nachdem sie mich ausführlich begutachtet hatte.

„Ja gern, Tante Ingeborg.“ Dies waren die ersten Worte, die aus meinem Mund kamen.

Tante Ingeborg schenkte mir aus der Thermoskanne in eine saubere Tasse ein, die seitlich auf einem runden Tischchen stand. „Hattest du eine angenehme Reise?“

Ich schluckte. Dann bemühte ich mich, einigermaßen klar und deutlich zu antworten. „Ja, schon. Der Flug war zwar sehr lang und dann noch das viele Umsteigen, aber wenigstens hatten wir keine größeren Turbulenzen.“

„Na, dann bin ich ja beruhigt. Ich fliege überhaupt nicht gern. Ich stehe lieber mit meinen Füßen fest auf dem Boden.“

Ich sah mir Tante Ingeborg genauer an. Sie entsprach nicht ganz dem Abbild, dass ich mir von ihr nach dem Telefongespräch gemacht hatte. Sie war nicht groß, eher dünn und knochig. Ich hatte mir das genaue Gegenteil vorgestellt. Auf den ersten Blick wirkte sie liebenswürdig und freundlich, doch die tiefen Furchen in ihren Mundwinkeln bestätigten, dass sie auch ganz anders sein konnte. Mit anderen Worten, Tante Ingeborg hatte Haare auf den Zähnen, und das passte wiederum bestens zu ihrer Aussage, sie wolle lieber mit den Füßen fest auf dem Boden stehen.

„Gefällt es dir hier bei uns, Marie?“

„Ja, sicher. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich Vater hier sehr wohlgefühlt hat.“

„Das hat er in der Tat, meine Liebe, das hat er!“

„Er hat sicher viel dafür übriggehabt. Ich meine für den Garten, die Landschaft, das Haus …?“

„Nun ja, dein Vater war kein Mann, der so etwas kaufte, weil es standesgemäß war. Er hat das alles hier wirklich geliebt.“

„Ich verstehe, und doch komme ich mir hier ehrlich gesagt vor wie in einer anderen Welt.“

Tante Ingeborg schenkte mir ein verständnisvolles Lächeln. „Das kann ich gut verstehen. Es muss alles eine große Umstellung für dich sein. In Amerika war dein Leben bestimmt ganz anders.“

„Es kam alles so plötzlich, Tantchen, und jetzt diese vielen neuen Eindrücke. Dieses Haus hier zum Beispiel ist ein Teil des Lebens meines Vaters gewesen. Alles, was ich hier sehe, hat einem Mann gehört, den ich niemals richtig gekannt habe. Es fällt mir sehr schwer, das alles zu begreifen, und dazu sein plötzlicher Tod …“

„Schrecklich, nicht wahr? Glaub mir, ich kann dir nachfühlen, Marie. Ich kann es auch noch nicht fassen. Dieser grauenhafte Autounfall, dabei erfreute sich dein Vater bester Gesundheit. Doch was bedeutet das schon? Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, müssen wir eben gehen. Es ist gut, dass du so schnell gekommen bist.“

„Das ist wohl das wenigste, was ich noch für ihn tun kann. Außerdem bin ich in der Hoffnung hierhergekommen, etwas mehr über Vater in Erfahrung zu bringen. Willst du mir dabei helfen, Tante Ingeborg?“

Wieder lächelte die alte Dame. Diesmal war es ein zweideutiges Lächeln. Sie zögerte einen winzigen Augenblick. „Aber sicher, Marie.“

„Weißt du, da ist so vieles in mir drin, was ich gern verstehen möchte. Zum Beispiel, warum ich so geworden bin, wie ich bin, und wer meine Eltern wirklich waren. An Mutter kann ich mich noch ganz gut erinnern, aber bei Vater habe ich eine völlige Leere. Da ist nichts. Rein gar nichts. Oh, da fällt mir ein, mein Koffer … ich habe ihn vorhin unten vor der Veranda stehen lassen.“

„Das macht nichts.“ Irgendwie schien sie der Themenwechsel zu beruhigen. „Warte, ich werde nach Elisabeth rufen lassen. Sie kann den Koffer hinauf in dein Zimmer bringen. Sicher möchtest du duschen und dich umziehen? Elisabeth ist übrigens unsere Haushälterin.“ Sie zwinkerte mir zu.

„Vielen Dank, Tantchen, sehr gern, aber das mit dem Koffer schaffe ich noch allein. Wo sagtest du, befindet sich mein Zimmer?“

„Oben, unterm Dach. Dort gibt es gleich drei Gästezimmer. Du kannst dir eins aussuchen. Geh nur schon hinauf. Gleich gibt es bei uns Abendbrot. Du magst doch mit uns zu Abend essen?“

„Aber sicher, Tante Ingeborg.“

„Sehr gut! Ah, da ist ja Elisabeth. Darf ich bekanntmachen: meine Nichte Marie. Sie ist extra aus den USA zu uns gekommen. Bist du so gut und begleitest sie nach oben?“

Elisabeth lächelte, und ich gab ihr die Hand. Sie war etwa Mitte fünfzig, eine gepflegte und adrette Erscheinung. Danach holte ich meinen Koffer und schleppte ihn eigenhändig die Treppe zum Dachgeschoss hinauf. Oben angekommen, musste ich erst einmal tief durchatmen. Dann bemerkte ich die unglaubliche Aussicht. Von hier oben konnte man kilometerweit in die Landschaft blicken. Was für ein einzigartiger Ausblick!

Elisabeth übernahm die Initiative. Sie schnappte sich meinen Koffer und ging entschlossen auf das dritte Zimmer zu. Es lag direkt neben dem Dachgiebel. Die Tür war offen, und Elisabeth hob den Koffer auf das große Doppelbett. Ich staunte nicht schlecht. In dem Zimmer sah es aus wie auf einem bayrischen Ferienhof. Decke und Wände waren mit Holzpaneelen verkleidet. Die wuchtigen Möbel aus Kiefernholz passten dazu wie die Faust aufs Auge. Das Zimmer wirkte gemütlich. Hier konnte man sich wohlfühlen. Ich bedankte mich bei Elisabeth, öffnete meinen Koffer und begann, einen Teil meiner Kleidungsstücke in den Schrank zu räumen. Elisabeth sah mir eine Weile zu, dann ging sie nach unten und ließ mich mit mir und meinen Gedanken allein zurück. Diese drehten sich weiter um Vater.

Er hatte das Haus mit so viel Liebe zum Detail eingerichtet, er musste ein liebenswerter Mensch gewesen sein.

Nachdem der Koffer leer war, entschied ich mich für Jeans und ein rotes Westernhemd aus dem Schrank, angelte mir frische Unterwäsche aus einem der seitlichen Schubladen, verließ das Zimmer und suchte nach der Dusche. Die befand sich auf der anderen Seite des Giebels und war quasi in die Dachschräge integriert worden. Sie war ein weiteres Detail meines Vaters. So langsam bekam ich einen Eindruck davon, wie er tatsächlich gewesen war. Ich betrat das Duschbad und drehte den Warmwasserhahn auf.

Ah, wie gut tat das denn …

Danach war ich ein anderer Mensch. Ich trocknete mich ab, föhnte mein Haar und schlüpfte in Jeans und Hemd. Ich fühlte mich wie neugeboren, spürte nichts mehr von einem Jetlag. Ich pfiff die Melodie eines Countrysongs vor mich hin und ging die Treppe hinunter.

Tante Ingeborg saß bereits im Esszimmer, als ich den Raum betrat. Sie schluckte, als sie meine Aufmachung sah, und spätestens jetzt wusste ich, dass ich etwas ganz Entscheidendes außer Acht gelassen hatte. Vater war gestorben, Tante Ingeborg trauerte, und ich erschien in einem bunten Western-Outfit. Das ging gar nicht!

„Oh … verdammt … äh, ich bitte vielmals um Entschuldigung.“ Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte nach oben auf mein Zimmer.

Im Kleiderschrank hing eine schwarze Lederkombination, die ich mir noch extra vor dem Abflug gekauft hatte. Ansonsten besaß ich nichts Schwarzes. Ich hasste die Farbe. Sie wirkte düster und traurig, aber diesmal musste es wohl sein. Zehn Minuten später war ich wieder unten im Esszimmer und bemerkte Tante Ingeborgs wohlwollenden Blick auf mir ruhen. Alles war wieder in Ordnung. Ich setzte mich an den Tisch. Er war für zwei Personen gedeckt.

„Weißt du schon, wie es weitergeht?“, wollte ich wissen, während ich mir etwas von dem Essen auf meinen Teller schob.

Es gab Rinderbraten mit Rotkohl, biedere Hausmannskost. Ich probierte den Braten. Das Fleisch war zart und saftig. So etwas hatte ich schon lange nicht mehr gegessen.

Tante Ingeborg beobachtete mich eine Weile, ehe sie auf meine Frage antwortete. „Nun, ich denke, zunächst wirst du ein paar Tage brauchen, um dich von den Strapazen deiner Reise zu erholen und um dich einzugewöhnen. Danach haben wir einige Dinge zu erledigen. Immerhin geht es um das Wohl der Firma. Wie ich dir bereits geschrieben habe, besaß dein Vater eines der größten Industrieunternehmen in der Gegend. Und genau darum dreht es sich bei dem Notartermin am kommenden Freitag. Bei der anstehenden Testamentseröffnung sollen die Besitzverhältnisse geklärt werden. Als seine Tochter hast du natürlich gewisse Ansprüche …“

„Nicht nur ich, sondern auch Conny, meine Schwester. Apropos, hast du sie erreichen können?“

„Leider nein. Magst du noch ein Stück von dem Rinderbraten?“

„Bitte Tante, ich habe dich etwas gefragt.“

Sie zögerte, deutete auf die Schüssel mit dem Rotkohl. „Es ist noch genug da, Kindchen.“

Mich beschlich ein unangenehmes Gefühl. Wollte mir Tante Ingeborg etwas verheimlichen? Sie tat so, als würde sie überlegen. Schließlich schien sie eine passende Antwort gefunden zu haben.

„Unser Notar hat es versucht, genauso wie bei dir, aber er hat Conny nicht gefunden. Sein Brief kam zurück mit dem Vermerk ‚Adresse unbekannt‘. Aber dass du selbst keinerlei Kontakt zu ihr hast?“

„Nein, schon all die Jahre nicht. Als ich aus dem Heim kam, habe ich in Wolfersdorf nach ihr gesucht. Aber von meiner Familie hat niemand mehr dort gewohnt. Ich weiß nicht, wo sie abgeblieben ist oder ob sie überhaupt noch lebt?“

„Eben drum. Somit wärst du die Alleinerbin …“

„… und genau davon möchte ich im Moment überhaupt nichts wissen, Tantchen.“

„Das verstehe ich sehr gut, Marie, aber es ist unabdingbar, dass wir darüber reden. Früher oder später müssen wir uns um die Hinterlassenschaften deines Vaters kümmern. Ich habe einen Gedenkgottesdienst zu seinen Ehren eingeplant. Die Andacht könnte in der kleinen Kapelle des Stadtfriedhofes stattfinden. Außerdem denke ich, wir sollten ein Abendessen für die engeren Freunde deines Vaters geben, wobei auch die Direktoren der Firma geladen werden sollten, sowie einige wichtige Persönlichkeiten aus der Politik.“

„Damit kann ich leben. Obwohl, Politiker? Muss das wirklich sein?“

„So etwas nennt man gesellschaftliche Pflichten, Kindchen. Um die werden wir nicht herumkommen.“

„Wenn du meinst … Liegt sonst noch etwas an?“

„Nun, über die aktuellen geschäftlichen Dinge können wir zu einem späteren Zeitpunkt sprechen. Nachdem du die Herren der Werksleitung kennengelernt hast. Bist du damit einverstanden?“

„Grundsätzlich schon, aber ich möchte noch unbedingt hinaus nach Wolfersdorf. Nach alldem, was geschehen ist, bin ich sehr gespannt, wie es dort aussieht.“

„Kein Problem. Wir werden sehen, wie wir das zeitnah einbauen können.“

Ich strich mir nachdenklich die Haare nach hinten. Das Ganze nahm ganz andere Ausmaße an, als ich zunächst angenommen hatte.

Zwei Tage später fuhr ich nach Wolfersdorf. Ich tauchte in eine Zeit ab, die ich glaubte, längst vergessen zu haben, und meine Stimmung wurde genauso wie das Wetter – trist und grau.

Das schlossähnliche Gebäude war gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts errichtet worden. An seiner verwitterten Fassade rankten mannshohe Schlingpflanzen in die Höhe. Entlang der hohen Natursteinmauer, die das große Grundstück umgab, verbreiteten Disteln und Philodendron einen bitteren Geruch. In der Mitte des verwilderten Gartens, zwischen der Mauer zur Straßenseite hin und dem wuchtigen grauen Bauwerk, stand eine uralte Eiche. Ihre Blätter bildeten einen mächtigen Schirm gegen Regen und zu viel Sonne. Auf dem festgetretenen Lehmboden verteilten sich vereinzelte Felsbrocken. Zwischen ihnen wuchsen Löwenzahn und farnartige Pflanzen. Dahinter bot ein kleiner Durchgang dem neugierigen Eindringling einen schnelleren Zutritt als das Hauptportal, das zusätzlich durch ein eisernes Tor gesichert war. Der alte Bau machte einen unheimlichen Eindruck. Von den einstmals vergitterten Fensterscheiben waren nur noch zwei intakt. Die Fensterbänke waren morsch und faulten vor sich hin. Die Haustür hing schräg aus den Angeln. Das Dach hatte zur Ostseite hin mehrere Löcher, sodass der Regen ungestört in den Innenraum strömen konnte. Er plätscherte auf die alten Holzdielen und hinterließ kleine hässliche Pfützen auf dem unebenen Untergrund. An anderen Stellen rann er weiter und bahnte sich seinen Weg über die Korridore bis hin zu den kleinen Zellen, in denen hier und da noch die Überreste verrosteter Bettgestelle standen. Sie stammten noch aus jener Zeit, als das Gebäude ein Heim für schwer erziehbare Kinder beherbergte. Das waren Kinder mit angeblichen Disziplinschwierigkeiten, oder solche, deren Eltern wegen versuchter Republikflucht und Staatshetze im Gefängnis saßen. Im Heim war alles streng reglementiert. Die Gruppe war alles, was zählte. Der Einzelne musste zurückstecken und seine Bedürfnisse hinten anstellen. Besonders schlimm erging es jenen Kindern, die eine Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit verweigerten. Sie waren der Willkür des Personals ausgesetzt, wurden misshandelt und gedemütigt. Das war vollkommen legal und gewollt, in einem Land, das 1961 die Mauer gebaut hatte.

Dunkle Wolken zog über das Land. Sie brachten Nieselregen und Nebel mit sich. Ich zog hastig an meiner Zigarette und blies den blauen Dunst in den grauen Himmel. Dann knöpfte ich mir den Mantel zu. Ich fröstelte. Allerdings weniger wegen des einsetzenden schlechten Wetters, sondern aufgrund der Erinnerungen, die mir der baufällige Koloss bescherte. Hier hatte vor langer Zeit mein Leidensweg begonnen.

Zögernd passierte ich den versteckten Durchgang. Der Lehmboden wurde mit zunehmendem Regen glitschiger. Meine schwarzen Stiefeletten schlitterten durch den Dreck. Vor dem Eingang blieb ich stehen, sah mich vorsichtig nach allen Seiten um. Nein, hier war niemand, konnte niemand mehr sein. Das Gebäude stand einsam und Furcht einflößend vor mir. Ich überlegte, blickte unruhig die verwitterte Fassade hinauf. Etwas fehlte. Die Erinnerungen kamen langsam zurück. Neben der Eingangstür hatte sich ein auf Hochglanz poliertes Messingschild befunden. Wie von Geisterhand erschien ein Name vor meinem geistigen Auge. Ein Name, der für mich gleichbedeutend war mit Höllenqualen und Folter: Spezialkinderheim Wolfersdorf.

Allein die Gedanken an das Wort ‚spezial‘ ließen mich erschaudern. Es war der Ausdruck für eine Behandlung, die ich jahrelang ertragen musste.

Vorsichtig strich ich über das raue Mauerwerk. Meine Hände zitterten. Ich wunderte mich über mich selbst. Wunderte mich darüber, dass ich es nach all den Jahren geschafft hatte, an diesen Ort zurückzukehren.

Auch wenn das Gebäude völlig verwahrlost vor mir stand, die Empfindungen und die Erinnerungen waren geblieben. Mit der Zeit hatte ich gelernt, keinerlei Emotionen nach außen zu zeigen, mir jegliche Mimik zu verkneifen. Ich hatte nicht mehr gelacht, nicht mehr geweint. Das 24-stündige Sprechverbot von damals und die absurden Strafmaßnahmen hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Damals, das war auch die Zeit gewesen, bevor man mich ins Heim steckte. Als ich zusammen mit meiner Zwillingsschwester Cornelia aufwuchs, kurz nachdem Vater uns verlassen hatte.

„Das Schwein hat in den Westen gemacht und uns einfach im Stich gelassen“, sagte Mutter immer dann, wenn ich sie auf Vater ansprach.

Die einzige Existenz, die es von ihm gab, war ein Foto auf dem gebogenen Holzbrett im Wohnzimmer, das Mutter als Regal diente. Daneben lag das einzige Buch, das im ganzen Haus zu finden war. Es war ein altmodisches Buch mit dem Abbild eines großen Schmetterlings als Titelbild. Auf der zweiten Seite stand Mutters Name mit großen, geschwungenen Buchstaben geschrieben: Waltraud Zertik.

Die Seiten waren glatt und sauber, obwohl sie so rochen wie alles andere in unserer armseligen Behausung – nach Feuchtigkeit und Desinfektionsmitteln. Letztere verwendete Mutter für die Toilette hinter dem Haus. Ich blätterte gern in dem Buch, sah mir die illustrierten Seiten an. Sie handelten von einheimischen Tieren. Von dem, was sie fraßen, wie sie ihren Unterschlupf bauten und wie sie sich paarten. Besonders das interessierte mich. So wusste ich frühzeitig über Paarung Bescheid. Sowohl bei den Tieren als auch bei den Menschen. Damit verdiente sich Mutter den Lebensunterhalt. Hauptsächlich nachts, wenn sie glaubte, dass niemand etwas davon mitbekam. Aber ich bekam natürlich alles mit.

Meine früheste Kindheitserinnerung war eine Prozession von nackten, fremden Männern, die in oder aus Mutters Bett stiegen.

Dazu erklärte sie immer: „Das sind alles deine Onkel, Mariechen. Sei nur nett und höflich zu ihnen.”

Die Männer waren grob und stark. Sie blieben für eine Nacht, für eine Woche oder manchmal auch für einen Monat. Danach verschwanden sie so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren. Kaum war einer fort, schaute sich Mutter schon nach einem neuen Liebhaber um. Fand sie einen, so kam das, was immer kam.

Eigentlich sollte ich schlafen, in dem kleinen, kalten Hinterzimmer, während sich Mutter im vorderen Zimmer aufhielt. Das war wenigstens warm und wurde vom Licht der rosa Lampe auf dem Tisch beleuchtet. Meistens wartete sie, bis sie glaubte, wir Kinder wären eingeschlafen. Erst dann ließ sie die Männer ins Haus. Und meistens schlief ich dann auch tatsächlich, aber die Geräusche holten mich wieder zurück. Im Vergleich zu meiner Schwester hatte ich den leichteren Schlaf und die unruhigere Blase. Ich musste damals dauernd aufs Klo. Das stand für sich allein hinter dem Haus. Manchmal schaffte ich es nicht mehr bis dorthin. Und draußen war es kalt. Da machte ich lieber gleich ins Bett, auch wenn ich mir dafür Schelte und Schläge einhandelte. Bettnässen war ein auffälliges Verhalten.

Die Haustür schlug zu. Schwere Schritte ertönten auf der schmalen, abgenutzten Treppe. Männerstimmen, Lachen. Ein Lichtspalt fiel vom Treppenabsatz auf ihr Gesicht, als Mutter auf Zehenspitzen in das Zimmer schlich und im Schrank herumkramte, um die Blechdose zu suchen, in der sie ihr Geld aufbewahrte. Sie fand die Dose, hielt sie in die Höhe, sodass ich das zerkratzte Blech glänzen sehen konnte, während Mutter den kleinen Schlüssel umdrehte und die gefalteten Banknoten wegschloss. Danach steckte sie das Blechding wieder sorgfältig unter einen Stoß alter Decken.

Zu diesem Zeitpunkt war Mutter noch eine wirkliche Schönheit. Das exotisch wirkende Gesicht, die hohen Wangenknochen, dazu die großen, traurigen Augen, der sanfte Mund und das volle, lange blonde Haar. Allmählich jedoch begann sich das harte und unbarmherzige Leben in ihrem Gesicht widerzuspiegeln. Trotzdem war ich stolz auf sie. Wenn da bloß nicht immer die Prügel wegen des Bettnässens gewesen wären. Für die Männer war Mutter verfügbar. In Wolfersdorf eilte ihr der Ruf voraus, eine leidenschaftliche Bettgefährtin zu sein. Doch ihr Charakter veränderte sich stetig. Sie konnte ohne besonderen Grund aufbrausen und in Wutausbrüche verfallen. Ich litt zunehmend unter ihren Gemütsschwankungen. Daher flüchtete ich mich immer öfter in eine Scheinwelt, erfand neue Freunde und Spielkameraden, die mich weder hänselten noch verspotteten.

Einmal kroch ich aus meinem Bett, schlich hinaus auf den Treppenabsatz und lauschte. Dabei stieß ich unabsichtlich mit meinem großen Zeh gegen die abgestoßene Holztür, die zu Mutters Kammer führte. Die Tür ging auf, und ich sah einen Mann ohne Kleider vor der Lampe stehen. Sein Ding stand heraus, rot und hart. Schnell legte ich eine Hand auf meinen Mund, um ein Kichern zu unterdrücken, so lächerlich sah der Mann aus. Und dann sah ich Mutter, die ebenfalls keine Kleider anhatte. Sie machte Paarung mit dem Mann, wie die Hunde auf der Gasse und die Katzen im Garten, oder auch die anderen Tiere aus dem Buch, das ich mir immer wieder anschaute.

Mein Bettnässen wurde langsam zu einem ernsten Problem. Immer öfter geriet ich deswegen mit Mutter in einen heftigen Streit.

„Ich steck dich in ein Heim, wenn das so weitergeht“, bekam ich zu hören. „Du bist doch bald ein großes Mädchen. Sieh nur zu, dass du dich auch dementsprechend benimmst.“

Aber ich wollte mich nicht benehmen, sah keine Notwendigkeit. Und dann kam der Tag, der mein noch so junges Leben von einem Augenblick zum anderen verändern sollte. Der Tag, an dem Mutter beschloss, mich in ein Heim zu stecken.

Er begann trüb und grau. Mutter kam in mein Zimmer, packte ein paar meiner Anziehsachen in einen alten Koffer und holte mich aus meinem Bett. In diesem Moment erstarrte ich zu Eis, alles in meinem Kopf begann sich zu drehen, während ich verzweifelt einzuordnen versuchte, was mit mir geschah. Frühstück bekam ich keins, ich wurde direkt zu dem Wagen des Nachbarn gebracht. Ich wusste immer noch nicht, wie mir geschah. Auf einmal saß ich in dem Wartburg von Herrn Schulze, wollte die Tür öffnen und Mutter fragen, ob es wirklich angehen konnte, dass sie mit ihrer Drohung ernst machte. Und tatsächlich drückte ich noch den Hebel nach unten und versuchte, die Wagentür zu öffnen, nur um ihr diese eine Frage zu stellen. Doch Mutter war nicht mehr da, und der Wartburg fuhr los.

Ich zögerte, hineinzugehen, blickte mich nach allen Seiten um. Erst, als ich mir vollkommen sicher war, dass hier niemand herumirrte, drückte ich meinen Arm gegen die schief hängende Tür. Sie gab sofort nach, ließ sich einen Spaltbreit öffnen. Das genügte mir, um hindurchzuschlüpfen. Dabei hielt ich inne. Die Erinnerungen an damals waren übermächtig.

Die Liebesfalle

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