Читать книгу ABGRÜNDE - Peter Splitt - Страница 7

Kapitel 4

Оглавление

Wie so oft erwachte Bernadette Meyfarth kurz vor Sonnenaufgang. Sie liebte es, das perlenfarbige Licht am Horizont von ihrem Bett aus beobachten zu können, noch ehe es zu einem rötlich-gelben Streifen herangewachsen war. Dieser Moment stellte für sie eine Art Ritual dar, bot er ihr doch die nötige Ruhe um nachzudenken und sich auf den neuen Tag einzustellen. Bis spät in die Nacht hinein, hatte sie mit ihrem Lebensgefährten Stefan Niedermeyer zusammengesessen, Wein getrunken und einen Artikel überarbeitet, den er in Kürze veröffentlichen wollte. Dabei hatte Stefan zu viel getrunken und war einfach auf dem bequemen Sofa im Wohnzimmer eingeschlafen. Bernadette hatte noch nicht einmal halb so viel getrunken wie er, trotzdem fühlte sie sich schlapp und abgespannt. Sie versuchte aufzustehen, spürte jedoch eine aufkommende Verkrampfung ihrer Muskeln in den Beinen und im Rücken. Sie fluchte, schaffte es aber dann doch im zweiten Anlauf aufzustehen. Ihr Blick streifte das Familienfoto, welches auf ihrer Kommode stand. Sie fühlte eine innere Leere aufkommen, die sofort von ihr Besitz ergreifen wollte. Seit dem Tod ihrer Eltern war ihre Schwester Diana die einzige Familienangehörige, die sie noch besaß.

Apropos Diana, ich muss mich unbedingt mal wieder bei ihr melden! Ist schon eine ganze Weile her, seit ich etwas von ihr gehört habe. Bevor sie nach Köln an die Uni gegangen ist, haben wir fast jede freie Minute miteinander verbracht. Wie ich diese Zeit vermisse! Zeitweilig konnte Stefan die Lücke schließen, die ihre Schwester hinterlassen hatte, aber mit der Beziehung zu ihm stand es mal wieder nicht zum Besten. Sie nahm sich vor Diana gleich nach dem Duschen anzurufen, schnappte sich ihren Morgenmantel und ging ins Bad. Die Wechseldusche erweckte ihre Lebensgeister. Danach zog sie sich an und ging die Treppe hinunter, um die Tageszeitung zu holen. Dabei kam sie an ihrem Wohnzimmer vorbei. Die Tür stand offen. Stefan lag zusammengekauert auf dem Sofa und schnarchte friedlich vor sich hin. Bernadette verdrehte die Augen, holte die Zeitung rein und ging in die Küche. Dort stellte sie routinemäßig die Espressomaschine an und beobachtete, wie die braune Brühe in ihre Tasse floss. Vom Wohnzimmer aus drang Stefans Schnarchen zu ihr herüber, sie nahm die Tasse, setzte sie sich an den Küchentisch und las die Überschrift der Tageszeitung. „GROSSEINSATZ DER POLIZEI AM FÜHLINGER SEE FÜHRTE ZU NICHTS“, stand da in großen Lettern geschrieben. Bernadette beugte sich vor, um den Artikel genauer lesen zu können. Dabei stieß sie mit dem Ellenbogen gegen ihre Kaffeetasse. Die braune Flüssigkeit schwappte auf den Tisch. Hastig sprang sie auf und griff nach einem Stück Zewa. Dabei fiel ihr Blick auf das Schnurlose Telefon, welches auf ihrem Kühlschrank stand.

„Verdammt, Diana! Beinahe hätte ich schon wieder vergessen dich anzurufen! Jetzt aber... Sie schnappte sich den Apparat, wählte Dianas Nummer und fing gleich an freudig drauf los zu plappern, bis sie bemerkte, dass die weibliche Stimme, die zu ihr sprach von einem Band kam. „Hier spricht der automatische Anrufbeantworter von Diana Meyfarth. „Leider können Sie im Moment keine Nachricht hinterlassen. Das Band ist voll. Versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal“ Klick, das war`s.

Hm, komisch“, dachte Bernadette. „Wie kann denn das Band ihres Anrufbeantworters vollgesprochen sein? Normalerweise hört Diana den AB regelmäßig ab, und ruft dann auch sofort zurück. „Sie wird doch nicht krank geworden sein? Also gut, dann versuche ich es eben später noch einmal.“

Ein vertrautes Geräusch drang in ihre Ohren. „Stefans tiefgezogener und rasselnder Atem hörte sich an wie das Grunzen eines größeren Tieres. Als nächstes vernahm Bernadette ein abruptes Stottern und ein Stöhnen. Im Wohnzimmer gähnte und reckte sich Stefan, stand dann auf und trottete in die Küche.

„Guten Morgen, Bernie. Ich habe vielleicht einen dicken Schädel!“

Bernadette schaute ihn böse an. Sie hasste es, wenn sie Bernie genannt wurde und fuhr ihn an: „Kein Wunder, so viel wie du getrunken hast!“

„Ach nun sei doch nicht so! Kann doch mal vorkommen. Wie spät ist es überhaupt?“

Bernadette schaute zur Küchenuhr. „Gleich halb acht.“

„Ach, doch noch so früh? Ehrlich gesagt, mir hat es wesentlich besser gefallen, als wir zwei noch in einem Bett geschlafen habe. Da sind wir niemals vor halb zehn aus den Federn gekommen.“

„Ja, lange ist es her. Da waren wir auch noch frisch verliebt.“

Stefans Miene wurde ernst. Kommentarlos ging er ins Badezimmer. Bernadette schüttelte den Kopf und drückte abermals den Startknopf der Espressomaschine. Sie griff nach einer weiteren Kaffeetasse, da klingelte das Telefon. Was für eine Gedankenübertragung“, dachte sie, ließ die Kaffeetasse stehen und schnappte sich stattdessen das kleine Telefon.

„Bist du das Schwesterherz?“

Sie war es nicht.

„Spreche ich mit Bernadette Meyfarth?“ fragte eine weibliche Stimme, die sie nicht kannte.

„Ja, wieso?“, antwortete Bernadette.

„Einen Moment bitte, ich verbinde.“

Hoffentlich ist das nicht schon wieder einer dieser Telefonfuzzies, die mir irgendeinen neuen Tarif andrehen wollen?“, dachte Bernadette.

Am anderen Ende der Leitung wurde wieder gesprochen. „Hier spricht Kommissar Gereon aus Köln. Sind Sie die Schwester von Diana Meyfahrt?“

Bernadette zuckte zusammen. Automatisch ließ sie sich auf den Küchenstuhl fallen.

„Ja, die bin ich“, antwortete sie vorsichtig. „Um was geht es denn? Ist etwas mit Diana nicht in Ordnung?“

„Nun, das wissen wir noch nicht genau, aber wir machen uns Sorgen um sie. Wir glauben, ihre Schwester hatte möglicherweise einen Unfall.“

Bernadette erstarrte. „Wie bitte, einen Unfall? Wollen Sie mir bitte sagen, was genau passiert ist!“ Woher haben Sie überhaupt meine Telefonnummer?“

„Das sind aber gleich zwei Fragen auf einmal, junge Dame. Aber ich will sie gerne beantworten. Ihre Telefonnummer hat mir ein Kollegen aus Daun gegeben. Ich habe ihn angerufen, weil wir eine Verbindung zwischen Ihnen und einer eigenartigen Geschichte herstellen konnten.“

„Was denn für eine eigenartige Geschichte?“ fragte Bernadette und spürte, wie sie immer nervöser wurde.

„Einen Moment Geduld bitte, Frau Meyfarth, ich bin ja dabei Ihnen alles zu erzählen, aber immer schön der Reihe nach. Also zunächst ist bei uns die Medlung eingegangen, dass ein Kanu herrenlos und kopfüber auf dem Fühlinger Sees treiben würde. Das allein wäre sicher noch kein Grund zur Beunruhigung oder für irgendwelche Aktivitäten meinerseits, aber dazu kommt, dass wir bei der genaueren Durchsuchung des Geländes ein Kleidungsstück und eine Handtasche mit Papieren gefunden haben. Darunter befindet sich ein Personalausweis, ausgestellt auf den Namen Diana Meyfarth, was mich nun zu ihrer Schwester, beziehungsweise auch zu Ihnen bringt. Ihre Schwester heißt doch Diana Meyfarth, nicht wahr?“

„J…ja das schon, aber…ich verstehe nicht ganz. Wo sagten Sie, haben sie die Sachen gefunden?“

„Das habe ich noch gar nicht erzählt. Sie lagen an einem Baumstumpf, ganz in der Nähe des Seeufers.“

„Und meine Schwester?“ fragte Bernadette. Ihr Gesicht war leichenblass geworden.

„Wir suchen nach ihr!“

Hoffnung keimte in ihr auf. „Gott sei Dank. Das bedeutet, dass sie noch lebt.“

„Das wissen wir leider nicht genau. In der Nacht herrschte ein starker Wind.“

Bernadette fühlte wie ihr Herz einen Sprung tat. Ganz langsam löste sich ihre Schockstarre. „Und um wie viel Uhr soll das gewesen sein?“

„So gegen 22 Uhr.“

„Ach was, Herr Kommissar. Das gibt es doch gar nicht. Meine Schwester rudert doch nicht so einfach auf den Fühlinger See hinaus, und dann noch zu so später Stunde. Sind Sie sich wirklich sicher, dass die Sachen meiner Schwester gehören?“

„Der Ausweis in jedem Fall. Er ist auf eine Diana Meyfahrt ausgestellt, geboren in Daun/Eifel und da kommen wohl nicht allzu viele Personen in Frage, oder?“

„Wahrscheinlich nicht.“

„Sagen Sie, wäre es möglich, dass ihre Schwester in ernsthaften Schwierigkeiten war?“

Bernadettes linke Hand umfasste die kleine Espressotasse. Ihre Hand zitterte.

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie glauben, meine Schwester hätte...? Das ist doch völlig absurd.“

„Frau Meyfarth, Sie halten es also nicht für wahrscheinlich, dass sich ihre Schwester etwas angetan haben könnte?“

„Diana? Ach du liebe Güte. Nein, niemals. Das ist völlig ausgeschlossen! So etwas würde sie niemals tun. Dafür liebt sie das Leben viel zu sehr.“ Bernadettes Stimme klang jetzt wütend und aufgeregt zu gleich.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Herr Kommissar?“

„Im Moment nicht, vielen Dank Frau Meyfahrt.“ Er wollte sich gerade verabschieden, als ihm doch noch etwas einfiel.

„Einen Moment noch. Dürfte ich wohl wissen, wann Sie das letzte Mal mit ihrer Schwester Kontakt hatten?“

Bernadette musste nicht lange überlegte. „Das war etwa vor einem Monat“, antwortete sie rasch. „Aber gerade vorhin wollte ich sie anrufen, doch da war nur ihr AB dran und das Band war voll.“

„Hm…und Sie können sich auch nicht vorstellen, wo sie sich aufhalten könnte?“

„Leider nein.“

„Ok, wir werden an der Sache dran bleiben und Sie auf dem Laufenden halten.“

„Ich bitte da drum“, erwiderte Bernadette und legte auf. Danach blieb sie eine Zeitlang regungslos an ihrem Küchentisch sitzen. Erst langsam wurde ihr klar, was der Kommissar ihr da erzählt hatte.

Sie war so sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkte, wie Stefan, frisch geduscht und vollständig angezogen, in die Küche kam.

„Mein Gott, was ist denn mit dir passiert?“, fragte er. Als sie nicht direkt antwortete fragte er weiter. „Ist dir nicht gut Liebes? Du bist ja ganz blass im Gesicht.“

„D…Diana“, stotterte sie. Die Polizei hat angerufen. Sie ist verschwunden. Möglicherweise ist ihr etwas passiert.“

„Hä? Ich verstehe nur Bahnhof. Da geht man kurz unter die Dusche und bei der Rückkehr findet man dich wie ein Häufchen Elend vor. Kannst du mich bitte aufklären?“

Und Bernadette erzählte ihm, was der Kommissar am Telefon gesagt hatte. „Wie hieß der denn noch gleich? Gregor oder Georg?“ Verdammt, sie hatte vergessen sich den Namen zu merken. „Gereon!“ Das war es. Stefan konnte nicht glauben, was er zu hören bekam.„Was sagst du da? Diana soll mit einem Kanu hinaus auf den Fühlinger See gefahren sein, und das bei Nacht? Ich habe noch nie davon gehört, dass sie rudern geht.“

„Ich auch nicht!“ Bernadette zuckte mit den Achseln.

„Das ist es ja, was ich nicht verstehe. Diana macht sich überhaupt nichts aus Wassersport. Sie liebt Volleyball und Tennis, aber Kanufahren? Nie und nimmer. Aber anscheinend hat die Kölner Polizei ihre Papiere gefunden. Das hat mir jedenfalls dieser Kommissar erzählt.“

„Hm…was für eine seltsame Geschichte, aber vielleicht gibt es dafür eine plausible Erklärung.“ Stefan nippte an seinem Espresso, der schon fast kalt war.

„So, glaubst du? Aber da ist noch etwas. Noch vor dem Anruf des Kommissars habe ich versucht Diana telefonisch zu erreichen. Ihr AB lief, aber das Ding war voll. Ich konnte nicht einmal eine Nachricht hinterlassen.“

Stefan sah seine Lebensgefährtin ungläubig an. Er wusste, dass Bernadette für gewisse Dinge einen siebten Sinn besaß. Deshalb zweifelte er auch nicht an ihren Worten.

„Es gibt nur eine Möglichkeit herauszufinden, was dahinter steckt“, sagte er schließlich und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Nimm dir ein paar Tage frei und fahr nach Köln. Sicher gibt es für alles eine Erklärung. In der Zwischenzeit halte ich hier die Stellung. Das ist kein Problem. Ich muss sowieso noch an dem Artikel für dieses Heimatblatt arbeiten. Du weißt schon, der Weinpanscherskandal, der gestohlene Trecker von Bauer Aumann, die goldene Hochzeit von Irene und Wolfgang und ganz, ganz wichtig, die zunehmenden Beschwerden über zu lautes Rasenmähen an den Wochenenden.“ Er grinste und versuchte sie ein wenig aufzuheitern.

„Danke, das ist lieb von dir, Stefan.“ Bernadette formte ihre Lippen zu einem Kussmund. „Wenn du willst, kannst du so nett sein!“

Im Grunde genommen, war sie froh darüber, dass er so schnell für sie entschieden hatte. Diana war nun einmal die einzige Familienangehörige, die sie noch hatte. Sie würde nach ihr suchen, koste es, was es wolle.

ABGRÜNDE

Подняться наверх