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Kapitel 5
ОглавлениеAm nächsten Tag fuhr Bernadette nach Köln. Es dauerte beinahe eine Ewigkeit, bis sie das Zentrum der Stadt erreichte. Unzählige Baustellen auf der Autobahn machten ein zügiges Vorankommen unmöglich. Überall wurde vergrößert, erweitert und ausgebaut, was das Zeug hielt. Erst nach dem Autobahnkreuz Köln-Ost lief der Verkehr ein wenig flüssiger. Sie bog in die Kanalstraße ein und sah den Dom vor sich.
„Köln hat wirklich ein ganz eigenes Flair“, dachte sie. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie bei all der Aufregung um ihre Schwester ganz vergessen hatte, für sich ein Hotelzimmer zu reservieren und in Deutz war gerade Möbelmesse.
„Na dann Mahlzeit, Bernadette. Das hast du ja wieder prima hinbekommen“, rügte sie sich selbst. „Die großen Hotels kann ich getrost vergessen, aber wo bekomme ich jetzt ein freies Zimmer her, verdammt noch mal?“
Sie fuhr langsam weiter und überlegte rechts ran zu fahren und mit ihrem Smartphone auf Airbnb ein Zimmer zu suchen, aber hinter ihr hupte bereits jemand, weil sie nicht schneller fuhr. „So viel zu den freundlichen Kölnern.“
Vor dem Hauptbahnhof sah sie einen Taxistand. „Das ist es. Die Taxifahrer müssten doch eigentlich wissen, wo in der Stadt noch eine Unterkunft zu bekommen ist!“
Sie hielt auf dem Taxistreifen, ließ das Seitenfenster herunter und rief dem erst besten Fahrer etwas zu.
„Hier kannst du aber nicht stehen bleiben, Liebchen“, bekam sie als Antwort. Bernadette spürte, wie sie rot wurde. „Nur ganz kurz bitte! Ich bin auf der Suche nach einem freien Hotelzimmer.“
Der Mann sah sie an. Seine Augen signalisierten Mitleid. „Auweia, das sieht aber gar nicht gut für dich aus. Im Moment findet in Deutz die Möbelmesse statt. Da geht hier im Zentrum überhaupt nichts. Aber warte mal, nicht verzagen, Jupp fragen! Ich ruf `nen Kollege an. Der ist in Nippes unterwegs. Vielleicht hat der eine Idee.“
Aber in Nippes war auch nichts zu bekommen, doch zehn Minuten später hatte jemand für sie ein freies Zimmer im Stadtteil Dünnwald gefunden. Hastig notierte sie sich die Adresse und bedankte sich bei dem Taxifahrer für dessen Hilfe.
„Die Kölner haben ihr Herz also doch am rechten Fleck“, dachte Bernadette, gab die Adresse in ihr Navi ein, setzte den Blinker und kurvte mit ihrem Wagen einmal rund um den Dom herum. Danach leitete sie das Navi Stadtauswärts Richtung Mühlheim und Dünnwald.
Das Hotel mit dem freien Zimmer hieß Petit-Colonia und lag in der Nähe des Stadtwaldes. Es war ein unscheinbares Gebäude aus den 50er Jahren, welches seine besten Zeiten schon lange hinter sich hatte. Bernadette parkte ihren Stadtflitzer auf dem Seitenstreifen, stieg aus und ging nach hinten um die Heckklappe zu öffnen und ihr Gepäck herauszuholen. Doch ein älterer Herr kam ihr entgegen. Er trug eine Baskenmütze.
„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“ fragte er mit freundlicher Stimme.
„Oh ja bitte, das wäre sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank. Gehören Sie zum Hotel?“
„Genau so ist es, mein Fräulein. Wenn Sie gestatten, ich bin der Willi. Mir gehört dieses Traumschloss.“
Er schnappte sich ihren Koffer und trug ihn ins Hotel. Bernadette folgte ihm, nur bewaffnet mit ihrer Handtasche. Darin befanden sich ihre Schminksachen, ihr Handy, und vorsichtshalber eine Sprühdose mit Pfefferspray zur Selbstverteidigung. Das erste, was ihr beim Betreten des Hotels auffiel, war eine alte Standuhr. Sie stand im Flur und war nicht zu übersehen. Bernadette blieb davor stehen und bewunderte die Rarität.
„Die habe ich von meinem Großvater geerbt“, erklärte Willi nicht ganz ohne Stolz. Die Rezeption befand sich im Hochparterre. Willi stellte den Koffer ab und zwängte seinen fülligen Leib hinter einen abgenutzten Empfangstisch.
„Ich hoffe, Sie haben noch ein freies Zimmer für mich,“ sagte Bernadette ein wenig besorgt.
„Äwer secher dat! Junge Damen sind bei mir stets herzlich willkommen.“ Er lachte und fügte schnell hinzu: „Nein, aber im Ernst, heutzutage bin ich nur noch sehr selten ausgebucht. Die großen Hotels in der Innenstadt machen mir sehr zu schaffen. Na Sie wissen schon …“
Natürlich wusste Bernadette was er meinte. Und mehr noch, als sie das Zimmer sah. Es war winzig und voll gestellt mit alten Möbeln. Wahrscheinlich stammten sie noch aus der Jugendzeit des Besitzers. Das Doppelbett war ohne Kopfteil. Der Schrank: Zweitürig, schräg, schäbig. Die Kommode mit Spiegelaufsatz: wackelig, eine Schublade fehlte. Des weiteren gab es: Zwei kleine Nachttische, einen rechteckigen Tisch, sowie zwei Stühle. Alles abgenutzt, wackelnd und aus dem gleichen hässlichen Nussbaumimitat gefertigt. Das ganze erbärmliche Bild des Raumes rundete eine Blümchentapete aus den 70er Jahren ab. Sie bestand im Wesentlichen aus den Farben Grün und Braun. Mit einem Seufzer ließ sich Bernadette auf das Bett fallen. „Na wenigstens scheint die Matratze in Ordnung zu sein und die Bettwäsche ist sauber“, dachte sie.
„Passt Ihnen das Zimmer?“, fragte Willi ein wenig besorgt.
Bernadette zuckte zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Willi zurückgekommen war. In der rechten Hand trug er ihren Koffer.
„J..ja, dd…doch“, stammelte sie.
„Prima. Dann müssen Sie nur noch das Meldeformular ausfüllen. Ordnung muss schließlich sein.“
Wieder lachte er und stellte den Koffer mit einer Kraft auf den Boden, die sie ihm niemals zugetraut hätte. Dann schien ihm noch etwas einzufallen. „Wie lange wollen Sie eigentlich bleiben?“, fragte er.
„Wenn ich das wüsste?“, dachte Bernadette, sagte aber: „Vielleicht eine Woche.“
Sie wusste, dass spätestens dann die Möbelmesse in Deutz zu Ende war und sie mit Leichtigkeit ein anderes Hotelzimmer finden würde. Das heißt, für den Fall, dass sie bis dahin immer noch nichts von Diana gehört hatte.
„Apropos...es kann ja nicht schaden, wenn ich ihm ein Foto von ihr zeige. Immerhin lebt Willi seit ewigen Zeiten hier in Köln und die Welt kann manchmal so verdammt klein sein.“ Sie griff in ihre Handtasche, zog ein Foto heraus, auf welchem sie zusammen mit ihrer Schwester zu sehen war, hielt es ihm hin und deutete auf die junge Dame an ihrer Seite.
„Das ist meine Schwester Diana. Ich bin auf der Suche nach ihr. Sie kennen sie nicht zufällig?“
Willi griff nach dem Foto und warf einen Blick darauf. „Schönes Mädchen“, sagte er anerkennend. „Ein bisschen jünger als sie, was?“
„Acht Jahre.“
„Und sie soll hier in Köln sein?“
„Ja, sie studiert an der Uni. Kommt sie Ihnen vielleicht bekannt vor?“
Willi schüttelte den Kopf. „Ich wünschte es wäre so, aber leider nein. Ich kenne sie nicht. Aber das will überhaupt nichts heißen, wo Köln doch so verdammt groß ist. Worum suchen Sie eigentlich nach ihr?“
Bernadette hatte keine Lust ihm die Einzelheiten zu erzählen. „Sagen wir einfach, weil ich seit längerer Zeit nichts von ihr gehört habe“, antwortete sie postwendend.
„Ach so, jetzt versteh ich. Unstimmigkeiten unter Geschwistern sollen ja häufiger vorkomme als man denkt. Übrigens gehen die meiste Studenten zum Abfeiern in die Altstadt. Vielleicht sollten Sie dort einmal nachfragen.“
„Prima Idee, das werde ich tun. Vielen Dank für den Tipp. Soll ich Ihnen die Woche im Voraus bezahlen oder lieber jeden Tag einzeln?“
„Das können Sie halten wie Sie wollen junge Dame, Hauptsache ich bekomme mein Geld. Das Zimmer kostet 20 Euro die Nacht.“ Er wandte sich zum gehen, blieb aber auf der Türschwelle noch einmal stehen und sah sie an.
„Also dann genießen Sie ihren Aufenthalt im schönen Kölle“, sagte er bevor er hinaus auf den Flur trat. Drinnen sah sich Bernadette das Zimmer genauer an. „Na ja, mehr als 20 Euro die Nacht ist diese Kammer auch wirklich nicht wert!“
Die Einrichtung war ihr so ziemlich egal. Hauptsache, es gab ein sauberes Bett und ein eigenes Bad. Sie bugsierte ihren Koffer vor das Bett und fing an auszupacken. Die Türen des alten Kleiderschranks waren verzogen und ließen sich nur schwer öffnen. Drinnen roch es muffig nach altem Holz. Sie überlegte, so viele Kleidungsstücke wie möglich auf die wenigen Bügel zu verteilen, die in dem alten Schrank hingen, verwarf den Gedanken aber schnell und legte stattdessen das, was sie benötigte, auf die Matratze neben sich. „Was zum Teufel tue ich eigentlich hier?“ fragte sie sich, während sie einen Blick in den Spiegel oberhalb der kleinen Kommode warf und feststellte, dass sie abgespannt aussah. Schnell ging sie ins Bad. Das Waschbecken war winzig, die Wände mit hellgrünen Kacheln gefliest. Sie drehte den Wasserhahn auf und wusch sich die Hände. Danach überprüfte sie ihr Make-up, ging zurück in ihr Zimmer und schob ihren Koffer unter den Holztisch, weil er ihr woanders im Weg war. Danach stellte sie die beiden Stühle davor, schnappte sich Jacke und Handtasche und ging hinaus.
Willi war gerade dabei ihre Anmeldung in einen Ordner zu heften. Er grüßte sie freundlich, sie erwiderte seinen Gruß, ging nach unten, stieg in ihren roten Flitzer und fuhr los.
Keine dreiviertel Stunde später stand sie vor einem alten Stadthaus im Kölner Ortsteil Lindenthal, welches den Studenten als Wohnheim diente. Während sie das Gebäude in Augenschein nahm und plötzlich spürte, wie sich ein Anfall von Nervosität in ihr breit machen wollte, trat ein Mann in einem blauen Overall aus dem Schatten des Eingangs, griff nach zwei Mülltonen, die seitlich davon aufgestellt waren und schob sie an die Straße.
„Der Hausmeister!“ kam es ihr in den Sinn. Sie holte tief Luft und ging auf ihn zu, noch bevor er wieder in dem Hauseingang verschwinden konnte.
„Hallo, hören Sie. Kann ich Sie bitte einen Moment sprechen?“
Der Mann drehte sich um und sah sie verdutzt an.
„Was gibt es denn, junge Dame. Ich habe meine Zeit nicht gestohlen!“
„Noch so ein freundlicher Kölner“, dachte Bernadette und spürte plötzlich den berühmten Kloß in ihrem Hals sitzen. So nah war sie ihrer Schwester schon lange nicht mehr gewesen.
„Bitte entschuldigen Sie. Sie sind doch hier der Hausmeister, nicht wahr? Ich bin auf der Suche nach meiner Schwester Diana. Sie soll hier wohnen. Wenn Sie so freundlich wären und sich einmal dieses Foto hier anschauen würden. Ich bin mir sicher, sie kommt Ihnen bekannt vor.“
Die fleischige Hand des Hausmeisters griff nach dem Foto. Er betrachtete es eine Weile, dann schüttelte er mit dem Kopf. „Ich kann nicht behaupten, dass ich sie kenne“, sagte er bestimmt. Bernadette rutschte das Herz in die Hose.
„Sind Sie sich da ganz sicher?“, fragte sie ungläubig. „Sie ist Studentin hier an der Uni! Sie müssen sie doch schon einmal gesehen haben.“
„Die Uni liegt am Albertus-Magnus-Platz. Das ist noch ein gutes Stück von hier entfernt, junge Dame. Und wenn ich Ihnen sage, dass ich das Mädel auf dem Foto nicht kenne, dann kenne ich es auch nicht! Schließlich gibt es hier hunderte von Studenten und ihre Schwester kann genauso gut auch woanders wohnen.“
Sofort schossen Bernadette Tränen in die Augen.
„Herr Kowalski…“, flötete eine schrille Stimme hinter ihr. Eine stämmige junge Frau hatte den Hausmeister gesichtet und befand sich im Begriff, den armen Mann in Beschlag zu nehmen. Mit einer eindeutigen Geste deutete sie auf ein Apartment zu ihrer Rechten und zog ihn entschlossen mit sich. Bernadette stand allein auf der Straße und fühlte sich einsam und verlassen. Wie in aller Welt sollte sie so Diana finden?
Einige junge Leute zogen lachend an ihr vorbei. Es waren Studenten.
„E…einen Moment bitte.“ Bernadette reagierte beinahe panisch. Wild mit den Armen gestikulierend hielt sie ihnen das Foto ihrer Schwester entgegen.
„Bitte! Nur einen kurzen Moment. Ich suche meine Schwester. Haben Sie sie vielleicht schon mal gesehen?“
Die jungen Leute sahen sich an. Ihre Blicke waren eindeutig. Was wollte diese Verrückte von ihnen? Sie schüttelten ihre Köpfen, lachten und gingen weiter. Ein junger Mann drehte sich nochmals um und rief ihr etwas zu.
„Versuchen Sie es doch bei der Universitätsverwaltung. Dort sind alle Studenten registriert. Wenn ihre Schwester hier studiert, dann muss sie dort eingetragen sein.“
„Gute Idee!“ Bernadette ging zurück zu ihrem Wagen, setzte sich hinter das Lenkrad und fuhr noch ein gutes Stück die Universitätsstraße hinunter. Am Ende bog sie rechts ab. Den Uni-Campus am Albertus-Magnus-Platz konnte sie gar nicht verfehlen. Es war der größte Gebäudekomplex weit du breit. Sie parkte ihren Wagen auf dem Parkplatz, löste einen Parkschein für eine halbe Stunde und betrat das Uni-Gelände. Hier begab sie sich auf ein völlig unbekanntes Terrain
Zunächst glaubte sie, der Schilderwald würde sie verwirren, aber sie fand die Universitätsverwaltung auf Anhieb. Sie befand sich im Untergeschoss des Hauptgebäudes. Die Eingangstür eines der Büros stand weit offen. In dem Raum saßen zwei Angestellte und tippten irgendetwas in ihre Computer ein. Bernadette räusperte sich. Eine der Damen blickte zu ihr auf. Bernadette nahm all ihren Mut zusammen.
„Entschuldigen Sie bitte, dass ich hier einfach so hereinspaziert komme. Ich bin auf der Suche nach meiner Schwester und wollte mich nur erkundigen, für welches Semester sie sich eingeschrieben hat.“
Die Angestellte deutete auf die große Uhr, die über der Eingangstür hing. Bernadette, die von draußen hereingekommen war, hatte sie noch nicht gesehen. Die Zeiger standen auf 13 Uhr.
„Normalerweise haben wir nur an den Vormittagen geöffnet“, sagte die Dame und ihre Stimme klang missmutig. „Aber jetzt, wo Sie sich schon einmal hier sind, wie heißt denn ihre Schwester?“
„Diana Meyfarth.“
„Einen Moment bitte. Ich schau gleich nach.“ Sie bearbeitete ihren Computer, zögerte, spielte mit einer Haarsträhne und wandte sich dann wieder an Bernadette.
„Ich sehe hier tatsächlich einen Eintrag. Eine Diana Meyfarth ist bei uns registriert, allerdings ohne jemals an einer Prüfung teilgenommen zu haben. Ein wenig seltsam ist das schon. Möglicherweise hat sie ihr Studium abgebrochen...“
Bernadette war entsetzt. „Aber sie hat mir doch immer…“
„Tut mir leid. Das ist alles, was der Computer hergibt. Mehr kann ich nicht für Sie tun. Falls Sie noch weitere Auskünfte wünschen, müssen Sie zu den öffentlichen Zeiten wiederkommen.“
Sprach es und schenkte wieder ihre ganze Aufmerksamkeit ihrem Computer. Bernadette bedankte sich und verließ den Raum. Sie war ratlos und enttäuscht. Diana hat ihr Studium an den Nagel gehängt. Was zum Teufel soll das nun wieder bedeuten? In einem unserer letzten Telefonate hat sie sich noch über die schweren Klausuren beklagt. Dann macht es auch keinen Sinn, wenn ich weitere Studenten nach ihr befrage. Diana ist nicht mehr an der Uni. Aus und fertig. Damit muss ich mich wohl oder übel abfinden.“
Blieb noch Kommissar Gereon. Nach den mageren Ergebnissen, die Bernadette bisher gesammelt hatte, kam der Begegnung mit ihm eine ganz besondere Bedeutung zu. Außerdem war es an der Zeit, dass die Polizei endlich etwas tat. Diana schien wie vom Erdboden verschwunden zu sein. Handeln war angesagt, bloß wie?! Als die unerschütterliche Bernadette Meyfarth, ja genauso wollte sie auftreten. Warum bloß gelang es ihr nicht diese verdammte Nervosität in den Griff zu bekommen? Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend stieg sie in ihren Wagen und fuhr in Richtung Innenstadt.
Das Polizeipräsidium in Köln sah anders aus, als wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte angenommen, dass der Polizeiapparat in einem historischen Prachtbau untergebracht sein würde. So etwas wie das alte Bankgebäude, mit seinen kunstvoll gemeißelten Pfeilern, die den Platz zweier Ladenfronten auf dem Marktplatz einnahmen, doch dem war nicht so. Die Kriminalhauptstelle befand sich in einem hypermodernen Gebäudekomplex, dessen Mittelbau über einen gläsernen Sockel mit Panoramafenster verfügte. Darüber streckten sich vier Vollgeschosse in die Höhe und mündeten in ein leicht geneigtes und deutlich über die Fassade reichendes Flachdach. Seitlich begrenzt wurde der Bau von der Barcelona-Straße und der Geschwister-Katz- Straße sowie rückwärtig vom Walter-Pauli-Ring. Der mit einer Sicherheitsschleuse versehene Eingang im erhöht liegenden Erdgeschoss war über eine Freitreppe zu erreichen. Auch wenn dieser Komplex den Charme historischer Gebäude vermissen ließ, so war er dennoch ziemlich beeindruckend. Um Schaulustige fernzuhalten und Platz für die Einsatzfahrzeuge zu schaffen, hatte man einen Bereich von gut dreißig Metern in beide Richtungen abgesperrt. Bernadette sah die Einsatzfahrzeuge der Polizei und etwa noch mal so viele Zivilfahrzeuge. Sie parkte den Fiat 500 in der zweiten Reihe und stieg die Treppenstufen zum Eingang des mit Steinplatten verkleideten Gebäudes hinauf. Der Empfang befand sich auf der rechten Seite. In dem gläsernen Kasten saß ein Mann mittleren Alters hinter einem großen Pult und begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. „Kann ich etwas für Sie tun?“ fragte er. Bernadette versuchte selbstbewusst aufzutreten. Sie lächelte kurz zurück.
„Ich möchte zu Kommissar Gereon“, sagte sie bestimmt.
„Dürfte ich Ihren Namen wissen?“
„Bernadette Meyfarth.“
„Sind Sie angemeldet?“
„Nein, aber der Kommissar weiß, wer ich bin.“
„Prima, dann werde ich schnell nachfragen, ob er da ist. Wenn Sie sich in der Zwischenzeit bitte hier eintragen wollen.“ Er reichte ihr eine Liste auf der bereits mehrere Namen standen. Bernadette fügte den ihren hinzu und beobachtete, wie der Mann telefonierte. Nachdem er aufgelegt hatte, nickte er ihr freundlich zu.
„Sie können hinaufgehen. Der Kommissar erwartet Sie in seinem Büro. Kennen Sie sich aus?“
Bernadette schüttelte den Kopf. „Nein, sagte sie leise.
„Dritter Stock, zweites Büro auf der rechten Seite“, erwiderte der Mann immer noch freundlich. „Der Aufzug befindet sich gleich da vorne.“ Er deutete in die entsprechende Richtung. Bernadette bedankte sich und machte sich auf den Weg zum Aufzug. Im Gang an der Wand hing eine Pinnwand. Eine junge Polizistin war gerade dabei Fotos aufzuhängen. Bernadette sah genauer hin. Unter den Fotos standen irgendwelche Namen und Daten. Daneben hing ein Plakat mit fünf kleineren Fotos. Darüber stand ein Wort in großen, schwarzen Buchstaben geschrieben: Vermisst. Bernadette schauderte.
„Also gibt es noch mehr Personen, die vermisst werden“, dachte sie, als sie in den Aufzug stieg. Während dieser nach oben fuhr, versuchte sie ihre Nervosität unter Kontrolle zu kriegen, hatte sie doch gehört, wie Polizisten reagierten, wenn man nicht sicher genug auftrat. Sie fand das Büro des Kommissars ohne Probleme. Die Tür stand offen. Trotzdem klopfte sie vorsichtig an.
„Kommissar Gereon?“ fragte sie mit sanfter Stimme. Der Mann hinter dem großen Schreibtisch blickte zu ihr hin und lächelte. Er war etwa fünfzig. Sein dunkles Haar wurde langsam grau und sein Gesicht war fein geschnitten. Über einem wohlgeformten Mund trug er einen kleinen Oberlippenbart.
„Er sieht verdammt gut aus“, entschied sie auf der Stelle, auch wenn sie den Ausdruck seiner Augen nicht richtig deuten konnte, und ihr sein Lächeln ein wenig zu professionell vorkam.
„Genau der bin ich, junge Dame. Was kann ich für Sie tun?“
„Mein Name ist Bernadette Meyfarth, ich komme wegen meiner Schwester..., Sie erinnern sich sicher...“
Sein Lächeln wurde ein Tick schmaler.
„Ah, Frau Meyfarth. Das nenne ich eine Überraschung.“
Seine Hand deutete auf einen der freien Besucherstühle, die an der Wand standen. „Bitte treten Sie ein, in mein bescheidenes Büro und nehmen Sie Platz. Möchten Sie etwas trinken?“ Er griff automatisch zum Telefon.
„Danke nein“, erwiderte Bernadette kurz angebunden. „Ich möchte lieber gleich zur Sache kommen. Sie wissen warum ich hier bin!“
Gereon schaute in ihre Augen, dann senkte er seinen Blick. „Sicher weiß ich das! Ich fürchte nur, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Es gibt keine neuen Erkenntnisse bezüglich dem Verschwinden ihrer Schwester. Aber das hätte ich Ihnen auch am Telefon sagen können. Dafür mussten Sie sich nicht extra her bemühen.“
„Aber meine Schwester verschwindet doch nicht einfach so!“
„Ach nein? Und wo bitte schön steckt sie dann?“
Bernadette bemerkte, wie sie wütend wurde. „Das herauszufinden ist doch Ihre Aufgabe, oder etwa nicht?“
Gereon tat gelassen. „Hören Sie, hier bei uns gehen fast täglich Vermisstenanzeigen ein und die meisten tauchend dann später irgendwann wieder auf. Manche gönnen sich einfach eine Auszeit, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Wie bitte?“ Bernadette empfand seine Antwort als blanken Hohn. Sie bemerkte wie ihre Hände zitterten. Sie legte sie in ihren Schoß und presste die Schenkel zusammen. „Und wenn ihr etwas zugestoßen ist?“
Gereon sagte erst einmal nichts, sondern sah sie nur an. Fast kam es ihr so vor, als wollte er sie mit seinem Blick durchlöchern. Ihr fröstelte.
„Na ja“, sagte er schließlich. „Die Möglichkeit, dass ihre Schwester einen Unfall hatte, ziehen wir durchaus in Betracht. Ich habe einen Taucher an die Stelle geschickt, wo das Kanu zuerst gesichtet wurde, aber da war sie nicht. Danach hat ein Kollege telefonisch alle Krankenhäuser der Stadt abgeklappert. Auch nichts. Es gibt keine Leiche und keinen Hinweis darauf, wo sie abgeblieben sein könnte. Das einzige was wir haben, sind die Aussagen eines Passanten, ein Kanu, einen Mantel sowie die Handtasche ihrer Schwester mit ein paar persönlichen Gegenständen. Sehen Sie selbst, die Sachen gehören doch ihrer Schwester, nicht wahr?“
Er bückte sich und nahm etwas aus der untersten Schublade seines Schreibtischs hervor. Bernadette erkannte sofort was es war: Dianas Handtasche und ihr Ausweis mit ihrer Geldbörse. Alles war ordentlich in separaten Plastikbeuteln verpackt. Und da war auch ihr Mantel, den sie immer so gerne trug.
„Mein Gott, das sind wirklich ihre Sachen“, dachte Bernadette.“
Gereon bemerkte ihren fragenden Blick und versuchte versuchte ein paar tröstende Worte zu finden. „Sehen Sie, manchmal sind es gerade die Menschen, die uns am nächsten stehen, die wir am wenigsten kennen“, sagte er.
Bernadette dachte kurz über seine Worte nach. Darin steckte eine Menge Wahrheit, das ließ sich nicht leugnen Bis vor kurzem hatte sie noch fest daran geglaubt, Diana würde in Köln studieren, doch ihr Besuch in der Universitätsverwaltung, hatte sie eines Besseren belehrt und Gereon legte noch einen drauf.
„Haben Sie einmal daran gedacht, dass ihre Schwester überhaupt nicht mit Ihnen in Kontakt treten möchte?“
Das saß! Bernadette schenkte ihm einen frustrierten Gesichtsausdruck. „Das kann und will ich mir gar nicht vorstellen. Sicher, wir waren nicht immer einer Meinung, aber…“
„Sehen Sie, genau das wollte ich sagen. Wenn ihr etwas zugestoßen wäre, wo sind dann die Blutspuren, und wo ist ihre Leiche? Wir haben keinerlei Kampfspuren gefunden. Es tut mir sehr leid, aber im Moment können wir nicht mehr tun als abwarten. Warten darauf, dass sie sich meldet oder irgendwo wieder auftaucht.“
Das war deutlich genug. Gereon wollte nichts unternehmen. Erst jetzt fielen Bernadette die Fotos wieder ein, die unten im Foyer an der Wand hingen. Sie alle zeigten Personen, die irgendjemandem als vermisst gemeldet hatte. Da war es wieder, dieses schreckliche Wort vermisst. Sie schluckte ihren Ärger hinunter.
„Herr Kommissar, ich habe unten im Foyer die Fotos gesehen. Meine Schwester ist also nicht die einzige Person, die in Köln verschwunden ist?“
Gereon zuckte mit den Achseln. „Das sagte ich doch bereits. Jeden Tag gehen bei uns Vermisstenanzeigen ein und die Personen tauchen dann irgendwann und irgendwo wieder auf. Natürlich gehen wir jeder einzelnen Sache nach und selbstverständlich legen wir auch für jede Person eine eigene Akte an.“
„Gilt das auch für meine Schwester?“
„Selbstverständlich! Wir haben ihre Daten im Computer gespeichert.“
„Aber Sie wollen nichts unternehmen?“
Gereon wurde ungeduldig. „Doch, verdammt noch mal! Liefern Sie mir Beweise dafür, dass ihrer Schwester wirklich etwas zugestoßen ist und ich schwöre Ihnen, ich setzte diesen ganzen verflixten Polizeiapparat in Bewegung, um die Angelegenheit aufzuklären.“
„Also gut“, sagte Bernadette und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie wusste, dass sie ihre Chance vertan hatte.
„Ich werde Sie beim Wort nehmen, Herr Kommissar. Ich bin fest entschlossen, meine Schwester zu finden.“
Sein Mundwinkel verschob sich nach unten. „Na dann viel Glück. Ich bewundere ihre Ausdauer. Nur bezweifele ich, dass sie Ihnen in diesem Fall nützen wird. Schließlich arbeite ich ja nicht erst seit gestern bei der Polizei…
„Ich werde Sie auf dem laufenden halten“, erwiderte Bernadette cool. Sie versuchte sich nach außen hin emotionslos zu geben. Innerlich jedoch machte sich eine tiefe Verzweiflung in ihr breit, während sie sich von Kommissar Gereon verabschiedete und aus dem Zimmer ging. Sie war keinen Schritt weitergekommen. Missmutig stieg sie in den Aufzug und fuhr nach unten. Eigentlich wollte sie schnurstracks bis zum Ausgang marschieren, doch etwas zog sie magisch zu der Pinnwand mit den Fotos hin. Irgendetwas war ihr aufgefallen. Ganz tief in ihrem Unterbewusstsein. Sie sah sich die Fotos genauer an. Bei den abgebildeten Personen handelte es sich ausschließlich um Frauen. Und die angegebenen Daten bezogen sich auf einen Zeitraum, der bereits längere Zeit zurück lag. Die Fotos auf dem Plakat jedoch zeigten Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts. Und die Daten darunter waren aktuell. Das war es, was sie stutzig gemacht hatte. Hastig notierte sie sich die Namen der fünf Personen. Möglicherweise bot sich ihr hier etwas, womit sie etwas anfangen konnte. Der Mann am Empfang plauderte mit der jungen Polizistin, die vorhin die Fotos aufgehangen hatte. Beide grüßten freundlich, als Bernadette an ihnen vorbeikam und durch die Ausgangstür nach draußen ging.