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Kapitel 2

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Die Fahrt mit dem Taxi vom Flughafen „Ing. Ambrosio Taravella“ bis zur Innenstadt von Córdoba dauerte eine knappe Halbestunde, wenn man die E-53 nahm. Die Stadt ist mit 1,3 Millionen Einwohner die zweitgrößte des Landes und gilt als das industrielle und kulturelle Zentrum Zentralargentiniens. Cordoba wurde 1573 gegründet und lag einst an der wichtigen Handelsroute zwischen Buenos Aires und der Silberstadt Potosi in Bolivien.

Auf dem Parkplatz vor der Kanzlei von Notario Guzman in der Avenida Santa Ana standen nur zwei hochwertige Fahrzeuge, mehr nicht. Mia ließ das Taxi an einer Ecke anhalten und wollte aussteigen. Ihr Chauffeur, ein junger Bursche sah sie lächelnd an.

„Un momento, por favor, le ayudaré con el equipaje...“

Er wollte ihr beim ausladen des Gepäcks behilflich sein. Ihr Gepäck bestand aus einem mittelgroßen Koffer, das war alles. Es war November und in Argentinien stand der Sommer vor der Tür. Das bedeutete Hitze, Hitze und noch einmal Hitze. Dementsprechend hatte Mia nur leichte Kleidung eingepackt - das musste reichen. Sie gab dem Taxista einen zehn Dollar Schein. Damit war die Fahrt gut bezahlt, Trinkgeld inklusive. Der junge Mann bedankte sich und gab ihr zum Abschied seine Visitenkarte.

„...für den Fall, dass Sie einmal meine privaten Dienste in Anspruch nehmen wollen, vielleicht eine Stadtrundfahrt oder so etwas...“, sagte er, grinste und kniff ein Auge zu. Mia wusste was er meinte. Sie hatte schon davon gehört, dass die Latinos bei allein reisenden Frauen nicht lange fackelten. Allerdings verschwendete sie keinen Gedanken daran, sein Angebot anzunehmen. Sie streifte sich ihre Handtasche über die Schulter, griff nach ihrem Koffer und stöckelte los.

Die Kanzlei von Manuel Guzman lag in einer pompösen Villa. Sie stammte wie so viele Bauwerke in Córdoba noch aus der Kolonialzeit, also aus jener Zeit als hier noch die Spanier das Sagen hatten. Allein der Eingang war bemerkenswert. Die schwere, drei flügelige Eichentür, mit Oberlicht aus buntem Bleiglas, unterstrich eindrucksvoll die gesellschaftliche Stellung des Besitzers.

Einen festen Termin hatte Mia nicht, aber der Notar wusste, dass sie unterwegs war. Sie richtete ihre Kleidung und betrat die Räumlichkeiten. Eine freundliche Dame in ihrem Alter führte sie in ein Wartezimmer. Dies war genauso beeindruckend gestaltet, wie der Rest der Kanzlei. Bis auf einen waren die wenigen antiken Stühle unbesetzt. Mia setzte sich in die zweite Reihe und beobachtete den einzigen Anwesenden. Es war ein junger Mann in einem eleganten Anzug der seinen Blick starr auf irgendwelche Papiere gerichtet hatte, die auf seinen Knien lagen. Mia kam sich reichlich verloren vor. Ob sie nicht doch besser zuerst in ihr Hotel gefahren wäre und sich frisch gemacht hätte? Zu spät, jetzt war sie nun einmal hier und brannte darauf zu erfahren, was ihr Tante Juana hinterlassen hatte. Duschen gehen konnte sie später immer noch.

Nach ein paar Minuten erschien die freundliche Dame und brachte ihr einen Fragebogen, den sie ausfüllen sollte. Mia machte die entsprechenden Angaben, gab bei der Frage nach der Dauer ihres Aufenthaltes in Argentinien 14 Tage an und wunderte sich darüber, was der Notar so alles von ihr wissen wollte. Kurzdarauf erschien die freundliche Angestellte ein weiteres Mal und nahm ihr den Zettel wieder ab. Dabei erkundigte sie sich, ob Mia etwas zu trinken wünschte. Sie entschied sich für Mineralwasser, das ihr sofort gebracht wurde. Dann ging das Warten weiter. Der junge Mann, der noch anwesend war, würdigte Mia keines Blickes, sondern blätterte weiterhin in seinen Dokumenten herum. Mia wagte nicht ihn anzusprechen. Die Situation kam ihr ähnlich schlimm vor, wie bei den jungen Leuten heutzutage, mit ihren Smartphones. Die durfte man auch keinesfalls ansprechen. Es vergingen weitere endlose Minuten, bis die Angestellte abermals erschien. Diesmal schien das Warten ein Ende zu haben. Die Angestellte forderte Mia auf, sie in einen anderen Raum zu begleiten. Der war wesentlich größer und noch pompöser ausgestattet. Die Wände waren weiß gestrichen und behangen mit alten Ölgemälden ehemaliger politischer Größen. Mia erkannte, dass sich Abbilder von Eva und Juan Peron unter ihnen befanden.

Hinter einem schweren antiken Schreibtisch saß ein älterer Herr mit grauem Haar. Als er die beiden Damen eintreten sah, erhob er sich schnell, ging auf Mia zu und schüttelte ihr die Hand.

„Freut mich sehr, dass Sie doch noch zu uns gefunden haben, Senora Sastre. Ich bin Manuel Guzman.“

Der Herr vor ihr war also der Notar. Mia grüßte freundlich zurück, entschuldigte sich für ihr wie sie glaubte ungepflegtes Äußere, das in Wirklichkeit überhaupt nicht so schlimm war und Notar Guzman kaum zu interessieren schien. Schließlich erwähnte sie noch, dass sie nicht hätte früher kommen können, da sie sein Brief über die argentinische Botschaft nur verspätet und über Umwege erreicht hätte, und sie zweitens, nicht so ohne weiteres zwei Wochen hätte freinehmen können. Guzman nickte verständnisvoll und bat Mia vor dem wuchtigen Schreibtisch Platz zu nehmen. Sie tat wie ihr geheißen und blickte dabei auf die Zeiger einer französischen Konsolenuhr, die mit einer Halterung über dem Kopf des Notars an der Wand angebracht war und alt und äußerst kostbar aussah.

In dem Raum herrschte eine beinahe feierliche Atmosphäre. Es gab keine Unterhaltung, kein sich räuspern, kein Zeitungsrascheln, nur das stille Warten auf das, was jetzt kommen würde. Mia zählte die Sekunden. Notario Guzman saß mit verschränkten Armen vor ihr und blickte auf seine goldene Armbanduhr. Mia blickte wieder auf die Konsolenuhr. Der große Zeiger zuckte weiter und verharrte schließlich auf der vollen fünf. Guzman murmelte etwas vor sich hin, während er in die oberste Schublade seines Schreibtischs griff und einen großen braunen Umschlag herausholte, den er mit einem goldenen Brieföffner aufschlitzte. Mia konnte das runde Siegel erkennen, das er dabei beschädigte. Er brachte sich in Pose und erhob endlich das Wort.

„Gut, fangen wir an. Als Vertrauter von Frau Juana Marques eröffne ich nun das Testament der Verstorbenen, nachdem Sie, Frau Mia Sastre, sich ausgewiesen haben, um der amtlichen Korrektheit Genüge zu leisten. Ist das richtig, Frau Sastre?“

Mia war überrascht, dass sie so direkt angesprochen wurde, wunderte sich über so viel Amtsspanisch, nickte ein wenig unsicher und nahm eine gerade Sitzhaltung ein. Guzman sprach weiter.

„Ich danke ihnen dafür, dass sie sich extra hierher bemüht haben und verlese nun den Wortlaut des Testaments, welches mir die Verstorbene am 05. Mai 2014 diktiert hat. Der Text lautet wie folgt: Ich, Juana Maria Marquez, im Vollbegriff meiner Sinne, vermache für den Fall meines Ablebens, im Folgenden einzeln aufgeführten Besitz meiner Nichte Mia Sastre:

1. Mein Haus in Bariloche, Provinz Rio Negro.

2. Bargeld in Höhe von 50.000 US Dollar

3. Sachwerte, sowie meine persönlichen Notizbücher

Mia wurde unruhig. Schließlich ging es um ein beträchtliches Vermögen, dass sie erben sollte. Mit so viel hatte sie nicht gerechnet. Wieder sprach sie der Notario direkt an und lächelte zynisch.

„Senora Sastre, werden Sie das Erbe antreten?“

Mia dachte nicht lange nach, bejahten seine Frage. Und sie setzte sogar noch einen drauf, sagte das, was sie bereits gedanklich vorbereitet hatte.

„Ich bin gewiss, dass in mir verjüngt und verwandelt der Geist, der Wille und die Liebe meiner Tante weiterleben. Ich werde ihr Erbe in Ehren halten. In diesem Sinne und zum Gedenken an meine Tante Juana.“

Ihre Worte hörten sich zwar ein wenig abgedroschen an, verfehlten aber ihre Wirkung nicht. Notario Guzman schien schwer beeindruckt zu sein, erhob sich, nickte zustimmend mit dem Kopf und schüttelte abermals ihre Hand. Mia wusste, dass ihr kurzes Statement gesessen hatte. So etwas hatte sie in den USA gelernt. Sie unterschrieb noch einige Dokumente und vereinbarte sogleich einen weiteren Termin beim Notario Guzman. Sie hatte sich vorgenommen vorerst in Córdoba zu bleiben, zumindest, bis die Papiere aus Bariloche eingetroffen waren. Auch die Überweisung der Gelder würde ein paar Tage in Anspruch nehmen. Das, was sie sofort mitnehmen durfte waren eine Anzahl vergilbter Notizbücher sowie ein Metallisches Gefäß, das wie eine Geldkassette aussah. Mia staunte nicht schlecht, als Guzman ihr die Hinterlassenschaften ihrer Tante aushändigte. Sie verstaute die Utensilien in ihrer Handtasche und erkundigte sie sich nach dem Ort, wo genau ihre Tante begraben lag. Danach ließ sie sich ein Taxi rufen, verabschiedete sich und ging nach draußen. Hier rann ihr die Nachmittagsluft wie ein heißes Getränk durch die Kehle. Mia wusste, was sie zu tun hatte, bestieg das Taxi und ließ sich zu ihrem Hotel fahren. Sie wollte nur noch eins - raus aus ihren Klamotten und unter eine erfrischende Dusche.


Das Hotel Gran Victoria lag in der Avenida 25 de Mayo, genauer gesagt mitten im Zentrum von Córdoba. Von hier aus hatte man es nicht weit bis zur Fußgängerzone. Das Gebäude stammte aus der Kolonialzeit und strotzte nur so vor geschichtlichem Hintergrund. Es wurde bereits seit vielen Jahren als Gästehaus genutzt.

Mia stand vor der Rezeption und fragte nach ihrem Zimmerschlüssel. Ihr gegenüber stand ein Bild von einem Mann – schwarzer Anzug, dunkler Haaransatz, groß gewachsen mit ebenmäßigen und symmetrischen Gesichtszügen. Schon von weitem konnte man seine italienischen Wurzeln erkennen.

Er sah Mia prüfend an, wobei er mit keinerlei Regung verriet, ob er das, was er da vor sich hatte mochte oder nicht.

„Wenn Sie sich bitte in unser Gästebuch eintragen würden, Senora...“

„Sastre, ist mein Name. Mia Sastre“, antwortete Mia brav und tat was er von ihr verlangte. Der Mann schaute auf eine Liste, die er neben dem Telefon liegen hatte. Einen Moment später strahlte er Mia an.

„Ah ja, richtig, Sie kommen aus den USA, nicht wahr? Wie ich sehe, haben Sie für fünf Nächte reserviert.“

„Ja, das stimmt“, beteuerte Mia. Der Mann griff hinter sich wo ein Bord mit Schlüsseln hing.

„Muy bien, hier habe ich ihren Schlüssel. Ihr Zimmer liegt im zweiten Stock. Nummer 27. Ich werde ihr Gepäck sofort hinaufbringen lassen.“

„Oh, das geht schon in Ordnung. Ich habe nur diesen einen Koffer, den trage ich selbst nach oben“, erwiderte Mia.

„Ganz wie Sie möchten, Senora. Aber nehmen Sie wenigstens den Aufzug.“

Der Mann zeigte nach rechts, wo sich unverkennbar zwei Aufzüge befanden. Mia nahm den Schlüssel an sich, griff nach ihrem Koffer und stöckelte in die angezeigte Richtung. Der Aufzug kam und brachte sie in das gewünschte Stockwerk. Mia schlenderte den frisch gebohnerten Flur entlang und suchte das Zimmer mit der Nummer 27. Es befand sich ganz am Ende. Sie stellte ihren Koffer ab und steckte den Schlüssel ins Schloss. Nichts geschah. Sie drückte und zog beinahe gleichzeitig an dem Knauf der Tür. Wieder nichts. Die Tür war aus Holz. Wahrscheinlich war sie ein wenig verzogen. Sie versuchte es mit einem Trick, hob die Tür an ihrem Knauf ganz leicht ein wenig an und siehe da, diesmal ließ sich der Schlüssel einwandfrei umdrehen und die Tür sprang auf. Mia tat einen Schritt nach vorn und stand in einem Zimmer, das schlicht aber sauber war. An Möbeln war nur das nötigste vorhanden, eben das, was man so brauchte. Sie stellte ihren Koffer vor einem Kleiderschrank mit Facettentüren ab, knöpfte sich die Bluse auf und machte Anstalten ins Bad zugehen. Da fiel ihr Blick auf ihre Handtasche. Soll ich nicht zuerst...?

Die Dusche lockte wie ein Jungbrunnen, aber ihre Neugierde war stärker. Sie wollte unbedingt wissen, was sich in der kleinen Metallkassette befand. Das Ding besaß ein Zahlenschloss. Zum Glück hatte ihr der Notar die Kombination genannt 14-08-22. Es war das Geburtsdatum von Tante Juana. Nicht gerade originell, aber immerhin. Mia stellte die Zahlen mit Hilfe der kleinen Rädchen ein und drückte den Deckel der Kassette nach oben. Dann hielt sie den Atem an.

Ursprünglich hatte sie an alten Familienschmuck gedacht. Irgendetwas Wertvolles, was Tante Juana an sie weitergeben wollte, doch dass, was sie jetzt vor sich in der Kassette liegen sah, verschlug ihr vollkommen die Sprache:

Militärorden, Kriegsabzeichen und Fotos.

Mia schluckte und nahm die Fotos an sich. Sie zeigten eine junge Dame mit langen schwarzen Haaren in Begleitung eines ebenso jungen Mannes. Er trug einen schwarzen Dienstanzug von Hitlers SS. Mia hielt den Atem an. Unter den Fotos lag noch etwas. Sie spürte, wie ihre Finger etwas metallisches berührten. Dann hatte sie das Ding in der Hand und vollzog eine volle Rolle rückwärts.

Das was sie so derart erschreckt hatte, war ein Silberring mit einem Totenkopf. Auch der musste etwas mit der SS zu tun haben. Mia spürte, wie ihr ein eisiger Schauer den Rücken hinunterlief. Sie legte die Gegenstände zurück in die Kassette, ging ins Badezimmer und dort direkt unter die Dusche. Auch wenn draußen heiße Temperaturen herrschten, hier drinnen war es ihr plötzlich eisigkalt geworden. Daher drehte sie zunächst den Warmwasserhahn auf. Der wärmende Strahl beruhigte ihr Gemüt ein wenig. Langsam gab sie etwas von dem kalten Wasser hinzu, bis sie das warme Wasser ganz abdrehte und sich dem erfrischenden Nass hingab. Ganz allmählich spürte sie, wie sich ihr Körper entspannte. Sie ließ etwas von dem Shampoo in ihre Hand laufen und massierte es in ihre Kopfhaut ein. Es prickelte und roch nach exotischen Blumen. Sie seifte ihren nackten Körper ein und genoss den weißen Schaum auf ihrer Haut. Derweil ging ihr Wirres Zeug durch den Kopf. Was hatte Tante Juana mit der SS zu tun? War sie eine Nazi-Braut gewesen? War es das, worüber niemand hatte sprechen wollen? War sie deshalb von der Familie verstoßen worden?

Der Gedanke durchfuhr sie wie ein Stromschlag. Vor Schreck ließ sie die Seife fallen. Das machte Sinn, auch wenn sonst gar nichts einen Sinn machte. Sie stieg aus der Duschkabine und trocknete sich ab. Ihr Magen meldete sich. Erst jetzt stellte sie fest, dass sie seit jenem kleinen Snack auf ihrem Inlandsflug nichts mehr gegessen hatte. Über den Hausapparat rief sie die Rezeption an. Zum Glück gab es einen Zimmerservice und für ein Abendessen war es gerade die richtige Zeit. Sie bestellte sich Empanadas (Teigtaschen mit verschiedenen Füllungen) und Puchero (Gemüse und Fleischeintopf) und dazu einen Rotwein aus Mendoza, der Weinhauptstadt Argentiniens. Während sie auf den Service wartete wanderte ihr Blick zurück zu der kleinen Metallkassette. Was soll ich jetzt mit dem Kram anfangen?

Sie beschloss sich die einzelnen Objekte genauer anzusehen. Da war zunächst der Ring. Er war zweifelsfrei aus Silber gearbeitet. Auf seiner Stirnseite saß ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen. An seiner Seite waren einige mysteriöse Zeichen angebracht. Mia hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten. Der Ring flößte ihr Angst ein. Schnell legte sie ihn wieder aus der Hand und widmete sich stattdessen den Kriegsabzeichen. Die meisten waren Orden, Anstecknadeln, Spangen und Abzeichen mit Hakenkreuzen. Auch hier wusste Mia nicht genau, was sie bedeuteten, sie sahen jedenfalls sehr wichtig und bedeutsam aus. Besonders das große, schwarze Kreuz mit Silbereinfassung und Band in den Farben des ehemaligen Deutschen Reiches machte einen großen Eindruck auf sie. Wieder lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Was hatte Tante Juana mit all diesen Sachen zu tun?

Es klopfte an der Zimmertür. Mia zuckte zusammen, legte die Gegenstände schnell wieder weg und ging zur Tür. Es war der Zimmerservice. Mia dankte ihm und trug das Tablett mit den Köstlichkeiten zu dem kleinen Tischchen mit den beiden Stühlen, die neben Bett und Kleiderschrank ihr Zimmer zierten. Zuerst war der Wein an der Reihe. Sie goss sich ein halbes Glas voll und kippte den Rebensaft in einem Zug herunter. Das war zwar nicht gerade Ladylike, half aber immerhin einigermaßen in Stimmung zu kommen. Sie goss sich das Glas wieder halb voll und widmete sich ganz dem vorzüglichen Essen. Danach wurde sie müde. War es der Wein, das Essen oder die lange Reise? Sie konnte es nicht genau sagen. Jedenfalls schaffte sie es gerade noch bis zu ihrem Bett, ließ sich fallen und nickte sofort ein.

Der gemütliche Zustand hielt allerdings nicht lange an. Die verworrenen Gedanken in ihrem Kopf wollten nicht weichen. Sie träumte wirres Zeug, erschrak, wachte auf und wusste zunächst nicht wo sie war. Sekunden später fiel es ihr ein. Sie gähnte, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Sie war in einem Hotelzimmer in Córdoba - Argentinien. Langsam kam die Erinnerung zurück. Das galt auch für die mitgebrachten Erbstücke und für die Notizbücher von Tante Juana. Vielleicht würden die etwas mehr Aufschluss gegeben können. In der Weinflasche befand sich noch ein Rest des guten roten Tropfens. Mia kippte die Flüssigkeit in ihr Glas, schnappte sich die Notizbücher und fing an willkürlich darin zu blättern.


Die ersten Seiten gaben nicht viel her. Tante Juanas krakelige Handschrift war kaum zu entziffern. Außerdem waren sie voll mit Wasserflecken. Mia erkannte ein paar Jahreszahlen. Sie reichten bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Dann, ab der zehnten Seite besserte sich langsam die Schrift, so dass sie zumindest einen Teil des Geschriebenen entziffern konnte. Sie las:

...ich konnte es kaum glauben, aber sie wollten mich einfach loswerden. Ich saß mit einer Ordensschwester in dem Ford eines Geistlichen, wollte die Tür öffnen und die beiden fragen, ob es wirklich angehen konnte, dass sie mit ihrer Drohung ernst machten. Und tatsächlich drückte ich noch den Hebel nach unten und versuchte die Wagentür zu öffnen, nur um ihnen diese eine Frage zu stellen. Doch die beiden schwiegen und der Ford fuhr los.

Nach knapp einer Stunde hielt er am Hang unterhalb eines großen dunklen Gebäudes. Mir schwante übles.

„Hier musst du aussteigen“, sagte Paulus, der Padre. Ich starrte das Gebäude an und wollte nicht aussteigen. Der Padre fuhr den Ford hinauf auf den großen Vorplatz.

„Nun geh schon“, wiederholte er. Ich blickte ihn unsicher an. Er nickte langsam und deutete auf ein großes Tor. Wie von Geisterhand erschienen zwei Männer, nahmen mir den Koffer ab und packten mich unsanft am Oberarm. Ich wehrte mich, wollte nicht mitgehen, hatte allerdings gegen die beiden keine Chance.

Das große Tor öffnete sich. Ich stand einfach nur da, ohne zu wissen, was ich tun sollte. Ich war umgeben von hohen Mauern und Stacheldraht und dachte: Dies ist ein richtiges Gefängnis, hier komme ich so schnell nicht wieder raus.

Ich sollte recht behalten. Jemand schickte mich auf den Flur. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Meine fragile Blase verlangte dringend nach einer Toilette, aber da war keine. Endlich kam jemand, eine Frau in Uniform. Ich wollte sie fragen, wo die Toilette war, aber die streng drein blickende Dame schrie mich an und sagte, ich sollte mich an die Wand zu stellen. Ich tat, was sie von mir verlangte. Dabei kniff ich mir die Beine zusammen.

„Aber ich wollte doch nur...ich meine, ich muss dringend auf die Toilette!“, sagte ich.

Statt einer Antwort schlug die Frau zu. Mit einem Bambusstock, auf meinen Rücken. Ich schrie auf, klappte zusammen. Die Schmerzen in meinem Unterleib waren zurück. Die Frau hob abermals den Stock und schlug erneut auf mich ein. Und dann noch ein drittes Mal. Ich zitterte am ganzen Leib, als ich zu Boden ging, konnte nichts mehr bei mir halten, verrichtete meine Notdurft in der Hose und auf dem polierten Fußboden. Dafür hagelte es weitere Schläge. Und damit war noch lange nicht Schluss. Die Frau zog eine Schere aus der linken Uniformtasche, drückte mich brutal nach unten und schnitt mir die Haare ab. In Sekundenschnelle, lagen meine schönen schwarzen Locken auf dem Boden - In meinem eigenen Blut und Urin. Ich wäre am liebsten gestorben. Doch der Albtraum ging weiter. Ein männlicher Pfleger brachte mich in den Waschraum. So lief das hier. Die männlichen Pfleger kümmerten sich um die Mädchen und die weiblichen um die Jungs. Das war eine Frage der Würde. Sie sollte uns Neuankömmlingen genommen werden.

Der Waschraum war feucht und kalt. Ich musste mich vor dem fremden Mann entkleiden, wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Der Mann sah das Blut, das aus mir herauslief, schmierte mich mit einem groben Scheuermittel ein und steckte mich unter die kalte Dusche. Danach rieb und tastete er meinen geschundenen Körper ab und steckte mich in eine Zelle. Ich fühlte mich hundeelend und trotz der Behandlung mit dem Scheuermittel, schmutzig. Mein Körper brannte und schmerzte. Ich war allein. Alleingelassen von meinen Eltern, von meinen Geschwistern, von der ganzen Welt. Ich befand mich in einer Hölle, die sich Sanatorium nannte. Der Name war glatter Hohn. Was hatte ich nur verbrochen, das man mich derart bestrafte?

Nach einer Ewigkeit öffnete sich die Tür.

Vielleicht bringt man mir jetzt endlich etwas zu Essen, dachte ich. Weit gefehlt. Vor mir stand derselbe Mann, der mich vorhin gesäubert und abgetastet hatte.

„Anmelden!“, verlangte er.

Ich verstand nicht sofort, was er von mir wollte und fragte vorsichtig nach.

„Wie anmelden?“

„Ich denke, du solltest bereits wissen, was das ist“, antwortete der Mann barsch.

„Ich weiß nur, dass ich wissen wollte, wo sich die Toilette befindet und dafür Schläge bekommen habe“, erwiderte ich vorsichtig. Die Antwort darauf kam prompt und beinhart.

"Hier wird nicht gefragt! Du hast zu warten, bis du Anweisungen bekommst! Du bist hier, um zu lernen, Anweisungen zu befolgen, dich ein- und unterzuordnen!"

Ich sank auf die harte Matratze und fing an zu weinen. „ Wo bin ich, was passiert mit mir?“

Bald darauf wusste ich es. Ich war in einer klinischen Einrichtung gelandet, in der man mich fertig machen und meinen Widerstand brechen wollte, anstatt mir zu helfen. Und das obwohl ich an der ganzen Misere keine Schuld trug.


1939

In Europa war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen und ich befand mich noch immer in dem sogenannten Sanatorium. Die Einrichtung war ein Witz. Alles war alt, vergammelt und heruntergekommen. Mein Tagesablauf bestand im Wesentlichen aus - aufwachen, waschen, Frühstück, Medikamenteneinnahme, Küchen, - oder Gartenarbeiten, Mittagessen, Mittagsruhe, Beschäftigungstherapien, Abendbrot, schlafen.

Ich beschloss von hier abzuhauen. Die Gelegenheit dazu bekam ich, als der Wäschewagen kam. Ich versteckte mich auf der Ladefläche und schaffte es tatsächlich durch das geöffnete Tor zu verschwinden. Erst danach wurde mir bewusst, dass ich nicht einen einzigen Ort, nicht eine einzige Person kannte, zu der ich gehen konnte. Ich versteckte mich eine Zeitlang in einer alten Scheune, bis ich vor Hunger und Durst schier wahnsinnig wurde. Daraufhin verließ ich mein Versteck und versuchte auf den Hinterhof einer Bäckerei zu gelangen. Dabei schnappten sie mich.

Diesmal brachten sie mich in eine noch stärker gesicherte Abteilung. Hier gab es keine medizinische Behandlung mehr sondern militärischen Drill auf dem Hof bis zum Zusammenbrechen. Noch schlimmer waren die Demütigungen durch die anderen Insassen.

1940

Ich hielt es nicht mehr aus und versuchte erneut zu fliehen, doch der Versuch misslang. Jemand hatte meine Fluchtpläne verraten. Dafür bekam ich die schlimmste Strafe, die es gab: Tagelange Einzelhaft in einer fensterlosen Zelle ohne Behälter für die Notdurft. Wenn ich nur wüsste, wer mich damals bei den Erziehern verpfiffen hatte? Aber war das überhaupt noch wichtig?

Für die Missstände verantwortlich war auch die Hierarchie unter den Insassen. Natürlich war das von der Obrigkeit so gewollt. Die sogenannten Patienten sollten gezielt gegeneinander aufgehetzt werden. Für kleinere Vergehen gab es Essensentzug. Dann wurde gesagt: „Ihr wisst ja, wem ihr das zu verdanken habt.“

Und dann rechneten die Patienten unter sich ab. An so manchem Morgen war ich mit einer aufgeplatzten Lippe oder einem blauen Auge aufgestanden. Und die Pfleger hatten noch hämisch gefragt: „Juana, bist du gefallen...?“

Über Jahre hinweg versuchte ich mehrere Male aus dem Sanatorium zu verschwinden. Wir waren damals mehr als fünfzig Patienten aller Altersklassen, vom Teenager bis zur alten Oma. Die meisten von uns galten als schwer therapierbar, aber es gab auch ein gutes dutzend, die freikamen oder einfach verschwanden. Ich hatte kaum Kontakt zu den anderen Insassen, bis auf Matias, einem Jungen mit blass-blondem, weichem Haar. Eines Nachts kam er in mein Zimmer, bewegte sich zögernd auf die Seite zu, wo mein Bett stand.

„Juana...“, seine Stimme war ein vorsichtiges Flüstern. Ich erwachte sofort.

„Matias? Was in aller Welt ist denn mit dir los?“

Er schluchzte angsterfüllt.

„Ich habe Angst. Darf ich mich zu dir ins Bett legen?“

„Ja, aber sei still.“

Matias war sechzehn, zwei Jahre jünger als ich, aber zu schmächtig für sein Alter. Er war als Kleinkind missbraucht worden, litt unter furchtbaren Albträumen und wachte manchmal mitten in der Nacht schreiend auf. Die anderen Patienten schikanierten ihn, aber ich versuchte ihn zu beschützen, wo ich nur konnte. Matias kroch zu mir unter die Bettdecke und ich konnte spüren, wie ihm Tränen über die Wangen rollten. Ich hielt ihn fest umschlungen, versuchte ihn zu beruhigen.

„Es ist alles gut.“

Dazu wiegte ich ihn sanft in meinen Armen. Bald schon merkte ich, wie sein Schluchzen aufhörte. Stattdessen drückte er sich noch fester an mich. Ich spürte, wie seine Erregung wuchs.

„Matias!“

„Es tut mir leid, ich kann nichts dagegen tun.“

Seine Erektion presste sich an mich.

„Ich liebe dich, Juana. Du bist die einzige auf der Welt, die sich um mich sorgt.“

„Aber wie viel hast du denn bereits gesehen…, von der Welt“, meinte ich?“

„Bitte lach mich nicht aus.“

„Das tu ich ja gar nicht.“

„Ich habe doch niemand anderen als dich.“

Ich weiß.“

„Ich liebe dich, Juana.“

„Ich liebe dich auch, Matias.“

Stille. Dem folgte:

„Juana? Würdest du es mir erlauben, dich zu lieben? So richtig, wie ein Mann es mit einer Frau macht?“

„Nein.“

Wieder Stille.

„Tut mir leid, dass ich dich belästigt habe. Ich glaube, es ist besser, wenn ich in mein Bett zurückgehe.“

Das Gesicht von Matias war ausdruckslos und traurig. Ich hatte eine Idee.

„Warte Matias.“

Ich schmiegte mich fest an ihn, fühlte mich auf einmal seltsam erregt.

„Matias, ich kann jetzt nicht mit dir schlafen, aber ich kann etwas anderes für dich tun, damit du dich besser fühlst. Würde dir das gefallen?“

„Oh ja.“

Seine Stimme war nur noch ein säuseln. Er trug einfache Pyjamas. Ich knotete die Schnur seiner Schlafanzughose auf und griff vorsichtig hinein.

Großer Gott, er ist ein richtiger Mann...

Ich hielt ihn in der Hand und begann ihn vorsichtig zu streicheln. Matias stöhnte leise auf.

„Das ist wundervoll. Ich liebe dich, Juana.“

Ich spürte das Feuer in meinem Körper und wenn er mich jetzt noch einmal gebeten hätte mit ihm zu schlafen, ich hätte es ihm höchstwahrscheinlich erlaubt, aber er lag einfach nur ruhig da und genoss meine Bewegungen. Wenige Minuten später verschwand er dahin, woher er gekommen war. In jener Nacht fand ich keinen Schlaf, doch danach erlaubte ich ihm nie wieder in mein Bett zu kommen. Die Versuchung war einfach viel zu groß. Zwei Jahre später trieb ich es mit einem Pfleger. Hätte ich doch bloß damals den Kleinen an mich heran gelassen...

Meine Augen werden feucht, während ich das hier aufschreibe. So ganz emotionslos, wie ich geglaubt hatte, bin ich also doch nicht. Tatsächlich stecken noch so etwas wie Gefühle tief in mir drin. Ich überlege einen Moment und frage mich, was wohl aus dem kleinen Matias geworden sein mag. Bis dato habe ich nie wieder etwas von ihm gehört.

1941

Sie versuchten weiterhin unsere Persönlichkeiten zu brechen. Das ging bereits im Waschraum los. Der wurde damals zu allem Möglichen verwendet, auch zum Schlachten von Tieren. Einmal musste ich mit ansehen, wie sich die scharfen Zähne eines Sägeblattes durch weiches Fleisch fraßen und wie Blut aus jedem Spalt spritzte, den die Säge hinterließ. Es war das Fleisch eines Wildschweins gewesen. Die Pfleger hatten wohl geahnt, dass sie dabei eine ziemliche Schweinerei veranstalten würden und bewusst einen der Waschräume mit gefliestem Boden ausgewählt, deren Ablauf direkt in die Kanalisation führte. Dort traf das Blatt auf den ersten Knochen. Der Widerstand war gering und das Sägeblatt arbeitete sich weiter vor. Mitten durch den Leib des Tieres.

Mit Ekel hatte ich mir die blutigen Teile angesehen. Das restliche Blut, welches sich noch in dem Tierkadaver befand, hatte sich über den gefliesten Fußboden ergossen. Selbst die Säge war blutig gewesen. In Gedanken sah ich das Werkzeug vor mir. Ich sah auch, wie die beiden Männer versuchten das Blatt zu reinigen, die fleischigen Einzelteile in mehrere Kühltaschen packten und wegtrugen. Grausig! Das war wirklich Ekelhaft!

Danach traute ich mich für eine längere Zeit nicht mehr allein in den Waschraum, obwohl ich, genau genommen, dort niemals ganz für mich alleine war. Viele meiner Leidesgenossen gingen an der unmenschlichen Behandlung zu Grunde, ließen ihr Leben in fensterlosen Zellen oder funktionierten danach genau so, wie man es von ihnen verlangte. Auch mich wollten sie ruhig stellen. Ich bekam täglich irgendwelche Medikamente zugeteilt, die ich zunächst ablehnte, aber schließlich unter Zwang eingeflößt bekam. Von nun an ging es mir noch schlechter.

Für uns Mädchen kam noch eine ganz andere Gefahr hinzu - Vergewaltigung. Ich wusste von weiblichen Patienten, die innerhalb von fünf Monaten mehrere Male vergewaltigt wurden. Nicht von den Mitinsassen, sondern von den Pflegern und vom Direktor selbst, der dann auch noch stolz verkündete, man brauche in seiner Institution durchschnittlich drei Tage, „um die Patienten auf seine Linie einzustellen“.

Wie ich sie alle hasste!

Aber ich überlebte. All die genannten Grausamkeiten und Repressalien vermochten meine Willensstärke nicht zu brechen, auch wenn mich der Hass auf die Leitung des Sanatoriums beinahe wahnsinnig werden ließ. Ich wollte sie vernichten, wollte, dass sie meine Wut zu spüren bekamen, wollte, dass sie Angst vor mir hatten.


1942

Ich war zu einer attraktiven Frau herangewachsen, mit Rundungen, genau an den Stellen wo sie sein mussten. Mit festen Brüsten, vollen Lippen, einer schlanken Taille und Hüften, die sich mit einem provozierenden Versprechen bewegten. Mit zwanzig hatte ich wieder langes Haar und fing an, meine körperlichen Reize gezielt einzusetzen. Ich sammelte Kontakte und Informationen über Personen, die mir später einmal von Nutzen sein konnten. Mein erstes Opfer war Bertram Reyes, ein junger Pfleger, der gerade seine Ausbildung absolviert hatte. Eines Abends klopfte er an meine Zimmertür, wollte sich nach irgendetwas erkundigen. Er bekam keine Antwort. Unsicher blickte er auf seine Uhr, öffnete vorsichtig die vergitterte Tür und trat ein. Der Raum war dunkel. Mein Schatten näherte sich ihm.

„Bertram…“, flüsterte ich mit heiser Stimme. Er erkannte sie und drehte sich um. „Juana, ich möchte etwas mit dir besprechen.“

Weiter kam er nicht. Ich näherte mich ihm langsam und kam so nah, dass er sehen konnte, dass ich nackt war.

„Großer Gott“, Bertram verhaspelte sich. „Was ist…“

Ich nahm seine Hand und legte sie auf meine Brust. „Ich möchte, dass du mit mir schläfst.“

„Du? D…du bist doch noch nicht volljährig!“ Bertram war sichtlich überrascht.

„Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“ Er trat einen Schritt zurück und wandte sich der Tür zu, aber ich ahnte, was er vor hatte.

„Geh nur weiter, und ich erzähle dem Direktor, dass du mich zwingen wolltest….“

„Das wagst du nicht…“

„Mach dich nur davon… und du wirst es erleben…“

Er hielt inne. Er wusste, wenn ich wirklich ernst machte, wäre seine letzte Stunde gekommen. Also versuchte er es auf die sanfte Tour. „Juana, Kleines, sei doch vernünftig…“

„Ich mag es, wenn du mich Kleines nennst.“

„Jetzt hör schon auf, Juana! Sei doch vernünftig. Der Direktor wird mich entlassen, wenn du ihm das sagst.“

„Ach was, der doch nicht!“

Er versuchte es abermals. „Ich bin doch erst seit kurzem hier. Ich würde bei allen in Ungnade fallen.“

„Aber nein! Da waren schon ganz andere, vor dir...“

„Wie bitte?“

„Ach, nichts.“

Es war hoffnungslos. „Was willst du nun wirklich von mir?“,fragte er.

„…das du es mit mir tust…“

„Aber das geht doch nicht. Wenn der Direktor davon erfährt… er würde mich auf der Stelle hinauswerfen.“

„Ganz bestimmt nicht. Er muss ja auch gar nichts davon erfahren. Nur wenn du jetzt gehst, dann erzähle ich ihm, dass du es bei mir versucht hast und dann… „

„Juana, bitte nicht.“

Ich blickte ihn herausfordernd an. „Du hast keine andere Wahl, oder?“

Er starrte mich an, fühlte Panik in sich aufsteigen. „Warum denn gerade ich, Juana?“

„Weil ich dich mag. Du bist immer freundlich und nett zu mir.“

Ich nahm seine Hände und führte sie vorsichtig an meinen Schoss.

„Siehst du, ich bin eine richtige Frau. Zeig mir wie es ist. Lass mich fühlen, wie eine Frau liebt.“

Was konnte er anderes tun?

Ich führte ihn zu meinem Bett, half ihm sogar aus Hose und Shorts. Dann kniete ich mich vor ihm nieder und berührte seine Männlichkeit mit meinen Lippen. Er stöhnte auf. Kurz darauf nahm ich sein Ding ganz in den Mund.

Das macht sie doch nicht zum ersten Mal...

Ich spürte, wie hart er war, ließ von ihm ab und legte mich auf ihn drauf. Bertram schlang seine Hände um meinen Nacken und drang von unten tief in mich ein. Er spürte keinen Widerstand, sah mich erschrocken an, aber ich drückte mich noch enger auf ihn, während meine Hüften sich fordernd an die seinen pressten.

Mein Gott, das ist umwerfend.

Ich fühlte mich gut. Es kam mir so vor, als sei ich dafür geboren. Instinktiv wusste ich genau, was ich zu tun hatte. Mein Körper übernahm allein die Initiative. Als es vorbei war blieb ich noch ein Weilchen neben ihm liegen, dann sagte ich: „Und Morgen machen wir es gleich noch einmal…“

Von diesem Zeitpunkt an, war Bertram mein Verbündeter. Durch ihn genoss ich Freiheiten, von denen meine Mitinsassen nicht einmal zu träumen wagten. Ich bekam gesonderte Essensrationen, Süßigkeiten und Obst, und durfte sogar ab und zu Musik hören. Außerdem hielt er mich auf dem Laufenden über das, was außerhalb der Mauern des Sanatoriums geschah. Anscheinend stand mein Land ganz im Zeichen eines großen Umbruchs. Reaktionäre Kräfte gewannen zunehmend an Einfluss und Macht. Innerhalb des Militärs bildeten sich geheime Gruppierungen, welche die Achsenmächte Deutschland, Japan und Italien unterstützten. Die wichtigste von ihnen war die GOU (Grupo De Oficiales Unidos) unter der Führung von Oberst Juan Domingo Perón. Der Mann war eine Wucht. Bertram brachte mir Fotos mit. Sie zeigten den General in strahlenden Posen und eleganten Militäruniformen. Ich spürte, wie er mich immer mehr in seinen Bann zog. Ich wollte ihm so nah wie möglich sein und begriff plötzlich, was ich nach meiner Entlassung aus dem Sanatorium tun musste. Doch noch war es nicht ganz so weit. In der Folgezeit lernte ich, wie der Hase lief, wurde abgebrüht und emotionslos. Ich nahm mir mehrere Aufseher als Liebhaber, von denen ich mir gewisse Vorteile erhoffte. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit 1943, durfte ich das Sanatorium verlassen. Bei der Entlassung musste ich mich verpflichten, über das Erlebte zu schweigen. Dies brachte das Fass zum überlaufen. Mein Hass gab mir Kraft, ich wollte meine ganz persönliche Rache nehmen. An dem politischen System und an meinen Eltern. Meine ersten Schritte in Freiheit führten mich direkt nach Buenos Aires. Bertam stellte einen Kontakt zu den Kameraden der GOU her. Ihre Organisation sollte schon bald zur mächtigsten Institution des Landes heranwachsen.


Es war spät geworden und Mia fielen die Augen zu. Gern hätte sie noch den genauen Grund dafür erfahren, warum man Tante Juana in das Sanatorium gesteckt hatte, aber darüber gaben ihre Aufzeichnungen keinerlei Auskünfte - wenigstens bisher noch nicht. Und was es genau mit der Gruppe Vereinter Offiziere auf sich hatte, interessierte Mia nicht wirklich. Das Notizbuch lag noch auf ihrer Brust, als sie in einen unruhigen Schlaf verfiel. Kurz nach Mitternacht wachte sie erschrocken auf. Ein uniformierter Mann in einer SS Uniform war hinter ihr her. Oder war es nur ein Pfleger gewesen? Sie konnte es nicht mit Gewissheit sagen, wusste nur, dass sie ziemlichen Schwachsinn durcheinander geträumt hatte. Ihr Herz pochte wie wild. Sie ging ins Bad, trank ein Schluck Wasser und legte sich wieder hin. Das Notizbuch war auf den Fußboden gerutscht. Sei´s drum, sie würde später darin weiterlesen.

ABGETAUCHT

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