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Kapitel 3

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Als sie das nächste Mal erwachte, blinzelte bereits die Sonne durch die blitzblank geputzte Fensterscheibe ihres Hotelzimmers. Mia fühlte sich wie gerädert, auch wenn sie ein paar Stunden geschlafen hatte. Oder war es vielleicht, weil sie ein paar Stunden geschlafen hatte?

Der kleine digitale Wecker auf dem Nachttisch neben ihr zeigte 8.30 Uhr an. Der Morgen war viel zu schön um noch länger im Bett zu bleiben. Außerdem wartete ein reichhaltiges Frühstücksbuffet auf sie. Frohen Mutes stieg sie aus dem Bett, ging ins Bad und dort direkt unter die Dusche. Das half. Ihre Lebensgeister kehrten zurück. Allerdings war da auch eine Idee, die langsam Formen annahm. Sie hatte mit Tante Juanas Notizbuch zu tun. Ehrlich gesagt, der Anfang ihrer Geschichte hatte Mia ganz schön mitgerissen. Kamen daher die merkwürdigen Träume? Hatte sie deshalb so schlecht geschlafen?

Jedenfalls brannte sie darauf herauszufinden, was es mit jenem Sanatorium auf sich hatte, beziehungsweise ob diese Institution überhaupt noch existierte. Sie beschloss sich unten an der Rezeption zu erkundigen und genau das tat sie auch, bevor sie das Frühstücksbuffet aufsuchte.

Die junge Dame am Empfang staunte nicht schlecht, als sie von Mias Anliegen hörte. Aber weiterhelfen konnte sie nicht.

„Es tut mir furchtbar leid, aber von einem Sanatorium in unserer Stadt ist mir nichts bekannt. Aber ich kann Sie gerne mit der Touristeninformation verbinden. Vielleicht wissen die etwas...“, sagte sie.

Mia bedankte sich und wartete - die Empfangsdame hob den Hörer, wählte eine Nummer, sagte etwas auf Spanisch und drückte Mia den Hörer in die Hand. Eine Senora Rosario grüßte am anderen Ende der Leitung mit freundlicher Stimme.

„Guten Tag, mein Name ist Mia Sastre“, sagte Mia. „Ich hätte gerne Auskunft über ein ehemaliges Sanatorium, dass es in dieser Stadt gegeben haben muss.“

Stille.

„Hm...ein Sanatorium, sagen Sie? Davon ist mir nichts bekannt.“

„Aber es muss so etwas gegeben haben. Oder eine Spezialklinik für Psychisch Kranke vielleicht?“

„Einen Moment bitte, ich schaue mal nach.“

„Ja bitte.“

Die Minuten vergingen, ohne dass sich etwas tat. Mia wollte etwas in den Telefonhörer sagen, als sie das Besetztzeichen vernahm. Die Dame von der Touristeninformation hatte sie einfach aus der Leitung geworfen. Blieb noch das Internet. Mit ihrem Smartphone konnte Mia zwar das Whatsapp nutzen, sich aber nicht direkt ins Internet einloggen, da sie eine Sim-Karte besaß, die nur in den USA gültig war. Anders war es mit dem wlan des Hotels, das aus irgendwelchen Gründen aber nur sehr notdürftig funktionierte. Zum Glück gab es hier eine Bibliothek mit zwei, wenn auch älteren Computern. Frühstück oder Internet?

Mia entschloss sich zu einem schnellen Café mit zwei Croissants und etwas Marmelade. Eine weitere Tasse Kaffee und eine Apfelsine nahm sie mit in die Bibliothek, obwohl das eigentlich nicht gestattet war. Sie setzte sich an den Computertisch und ließ das Gerät hochfahren. Windows 98. Das Betriebssystem war total überaltert, aber trotzdem, nach einigem figurieren mit der Maus hatte sie die Webseite von Google auf dem Monitor.

„Sanatorium in Córdoba“, schrieb sie mit der Tastatur. Es erschienen alle möglichen Informationen zu solchen Einrichtungen in Córdoba-Spanien.

„Verdammter Mist!“

Sie versuchte es mit Córdoba Argentinien. Es erschien das Sanatorio Allende und ein Link zu „Obskuren Geheimnissen der Santa Maria Klinik. War es das, was sie suchte?

Sie öffnete den Link und fand einige Informationen über eine Psychiatrische Klinik neuern Datums. Das, was dort geschrieben stand, war keineswegs schön, konnte sich aber auf keinen Fall auf jenes Sanatorium beziehen, von dem in Tante Juanas Notizbuch die Rede war. Sie musste weitersuchen. Zwischendurch nippte sie immer wieder an ihrem Kaffee, der mittlerweile schon kalt geworden war.

Auch unter „Ehemaliger Psychiatrie“, fand sie keinen Eintrag. Sie dachte daran, wie das Gebäude ausgesehen haben mag. Normalerweise waren Psychiatrische Kliniken in historischen Prachtbauten untergebracht – etwa in einem Herrenhaus oder in einem Schlösschen? Sie bearbeitete die Tastatur aufs Neue.

Bingo! Diesmal gab Google etwas her. Mia fand einen Eintrag über ein mysteriöses Schloss in Córdoba. Dazu gab es auch die entsprechenden Bilder. Nachdem sie diese gesehen und den dazugehörigen Text gelesen hatte, war sie sich sicher den Ort gefunden zu haben, wo ihre Tante mehrere schlimme Jahre ihrer Jugendzeit verbracht hatte.

Auf den Fotos glich das Gebäude einem Geisterschloss. Mia konnte sich gut vorstellen, welcher Horror sich hinter seinen Mauern abgespielt haben musste. Sofort reifte ihn ihr der Entschluss das verlassene Gebäude aufzusuchen und es mit eigenen Augen zu begutachten. Vielleicht würde es ihr helfen Tante Juana besser zu verstehen. Zumindest wollte sie es versuchen.

Sie öffnete noch einige andere Links und fand heraus, dass in dem Schlösschen einst das ehemalige Sanatorium Bermann untergebracht war. Der Name klang deutsch, gehörte aber zu einem Juden russischer Abstammung, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Argentinien eingereist war - Gregorio Bermann.

In den Jahren 1938 bis 1943, als Tante Juana in besagter Institution einsaß, beinhaltete das sogenannte Sanatorium eine psychiatrische Klink. Was also war mit Tante Juana geschehen, dass man sie in eine Anstalt steckten? War sie psychisch krank gewesen? Hatte sie etwas Schlimmes verbrochen? Mia erhoffte sich insgeheim mehr Klarheit über die Ereignisse jener Zeit zu bekommen. Sie musste unbedingt das verlassene Gebäude finden.


Es lag im Stadtviertel Escobar, in der Nähe des Flusses Suquia, knapp 30 Minuten von ihrem Hotel entfernt. Obwohl relativ nah gelegen, wusste erst der dritte Taxifahrer, den sie fragte, wohin sie wollte. Und das auch nur, weil er einmal in unmittelbarer Nähe gewohnt hatte. Dementsprechend überrascht war sein Gesichtsausdruck, als Mia ihm ihr Fahrziel nannte. Er duzte sie sofort, so wie es die Argentinier gewöhnt waren und sagte: „Das ist aber kein guter Ort für eine allein reisende Touristin...“

Mia war baff.

„Aber...wieso denn nicht? Ich dachte...“

„Das Schlösschen ist nicht geheuer. Ich meine, dort gehen unheimliche Dinge vor sich. Ich selbst habe nachts Schreie gehört und dunkle Schatten gesehen, die durch den anliegenden Park schlichen. Besser, du gehst nicht dorthin.“

„Das ist schon Okay, aber ich muss zu dem ehemaligen Sanatorium. Es ist wichtig “, erwiderte Mia.

„Bitte glaube mir. Auf dem Gelände und in dem Gebäude geschieht unheimliches. Es existiert auch noch ein Friedhof, auf dem man die verstorbenen Patienten beerdigt hat. Sie sind niemals von ihren Verwandten und Familien gesucht worden. Die meisten von ihnen seien bei merkwürdigen Experimenten ums Leben gekommen, erzählt man sich in der Stadt.“

„Genau aus diesem Grund muss ich dort hin. Ich glaube meine Tante war dort jahrelang inhaftiert gewesen.“

„Und? Hat sie überlebt?“

„Ja, das hat sie allerdings.“

„Du willst also wirklich hinaus zu dem alten Schlösschen?“

„Aber sicher. Ich glaube nicht an Geister und Dämonen.“

„Das solltest du aber besser. Soll ich wirklich...?“

„Nun fahr´ schon los!“

Sie fuhren über die Circunvalación Agustin Tosco. Mia fühlte wie sich ein unangenehmes Gefühl in ihrem Magen festsetzte. Aber noch war sie entschlossen, den Spuren ihrer Tante zu folgen. Nach einer halben Stunde hielt ihr Taxi am Hang unterhalb einer schlossartigen Ruine.

„Soll ich besser auf den Vorplatz fahren?“, fragte der Fahrer.

„Nein, lass uns einen Augenblick hier stehenbleiben“, antwortete Mia. Sie starrte das alte Gemäuer an, glaubte Tante Juanas Schatten an einem der Fenster zu erkennen, erinnerte sich, wie sie sich gefühlt hatte, als sie von Paulus dem Geistlichen hier abgeliefert wurde.

„Wie lange sollen wir hier stehenbleiben?“

Mia zuckte beim Klang der Stimme des Taxifahrers zusammen. Sie war ganz in ihre Gedanken versunken gewesen.

„Wie viel bekommst du?“, fragte sie mit einer Stimme, die nicht wie die ihre klang.

„150 Pesos.“ Das waren 10 Dollar. Mia reichte ihm den Geldschein. Der Taxifahrer bedankte sich.

„Soll ich vielleicht auf dich warten?“

„Nein, vielen Dank. Ich weiß noch nicht, wie lange ich hierbleiben werde, aber ich komme schon zurecht.“

Sie versuchte sich selbst zu überzeugen. Zu ihrem Glück bemerkte der Fahrer ihre Knie nicht, die vor Aufregung zitterten, als sie aus dem Taxi stieg.


Das verfallene Schloss sah alles andere als einladend aus. Es war gegen Ende des 19.Jahrhundert errichtet worden. An seiner Fassade rankten mannshohe Schlingpflanzen in die Höhe. Entlang der hohen Natursteinmauer, die das große Grundstück umgab, verbreiteten Disteln und Philodendron einen leichten Aasgeruch. In der Mitte des verwilderten Gartens, zwischen der Mauer zur Straßenseite hin und dem wuchtigen, grauen Bauwerk, stand eine uralte Eiche. Ihre Blätter bildeten einen mächtigen Schirm gegen Regen und zu viel Sonne. Auf dem festgetretenen Lehmboden verteilten sich vereinzelte Felsbrocken. Zwischen ihnen wuchsen Löwenzahn und farnartige Pflanzen. Dahinter bot ein kleiner Durchgang dem Fußgänger einen schnelleren Zutritt, als das Hauptportal, das noch zusätzlich durch ein eisernes Tor gesichert war.

Der alte Bau machte einen unheimlichen Eindruck. Von den einstmals vergitterten Fensterscheiben waren nur noch zwei intakt. Die Fensterbänke waren morsch und faulten vor sich hin. Die Haustür hing schräg aus den Angeln. Das Dach hatte zur Ostseite hin mehrere Löcher, so dass der Regen ungestört in den Innenraum strömen konnte. Er plätscherte auf die alten Holzdielen und hinterließ kleine hässliche Pfützen auf dem unebenen Untergrund. An anderen Stellen rann er weiter und bahnte sich seinen Weg über die Korridore bis hin zu den kleinen Zellen, in denen hier und da noch die Überreste verrosteter Bettgestelle standen. Sie stammten noch aus jener Zeit, als das Gebäude ein Heim für psychisch kranke Patienten beherbergte. Das waren Menschen, die mit ihrem Leben nicht Zurecht kamen, beziehungsweise, die mit angeblichen Disziplinschwierigkeiten hier eingeliefert wurden. In dem sogenannten Sanatorium war alles streng reglementiert. Die Gemeinschaft war alles, was zählte. Der Einzelne musste zurückstecken und seine Bedürfnisse hinten anstellen. Besonders schlimm erging es jenen Patienten, die eine Re-Integration verweigerten. Sie waren der Willkür des Personals ausgesetzt, wurden oftmals an ihre Betten fixiert und mit Medikamenten still gesetzt. Das war vollkommen legal und gewollt, in einem Land, das in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor einem gewaltigen Umbruch stand.

Greller Sonnenschein zog über das Land. Er brachte hohe Temperaturen mit sich. Mia zündete sich eine Zigarette an, zog hastig am Filter und blies den blauen Dunst in den Morgendlichen Himmel. Dann zog sie sich ihre Strickjacke aus. Sie schwitze. Allerdings weniger wegen der heißen Temperaturen, als vor Aufregung und den Erinnerungen an ihre Tante, die ihr der baufällige Koloss bescherte. Hier hatte vor langer Zeit Tante Juanas Leidensweg begonnen.

Zögernd passierte Mia den versteckten Durchgang. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Ihr Herz fuhr Achterbahn und drohte ihr aus der Brust zu springen. Ihr Körper wurde von einem geheimen Verlangen in Besitz genommen, über das sie keine Kontrolle hatte und das sie zu einem Verhalten zwang, das ihr völlig fremd war.

Bleib ruhig, ermahnte sie sich selbst, während sie unsicher auf den Eingang zu wackelte. Der Lehmboden war trocken und rissig. Ihre schwarzen Sandalen schlitterten durch den Dreck. Vor der Eingangstür blieb sie stehen, sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. Nein, hier war niemand mehr, konnte niemand mehr sein. Das Gebäude stand einsam und furchteinflößend vor ihr. Sie überlegte, blickte unruhig die verwitterte Fassade hinauf. Etwas fehlte. Die Erinnerungen an Tante Juanas Notizen kamen langsam zurück. Neben der Eingangstür muss sich ein auf Hochglanz poliertes Messingschild befunden haben. Wie von Geisterhand erschien ein Name vor ihrem geistigen Auge. Ein Name, der für ihre Tante gleichbedeutend war mit Höllenqualen und Folter.

“Sanatorio Bermann.“

Allein die Gedanken an das Wort Sanatorio ließ Mia erschauern. Es war der Ausdruck für eine Behandlung, die ihre Tante Jahrelang ertragen musste.

Mias Hände zitterten, als sie vorsichtig, fast schon liebevoll über das raue Mauerwerk strichen. Sie wunderte sich über sich selbst. Wunderte sich darüber, dass sie es geschafft hatte, diesen Ort aufzusuchen. Auch wenn das Gebäude jetzt völlig verwahrlost vor ihr stand, die Empfindungen und Erinnerungen an ihre Tante waren allzu lebendig. Wie muss sie damals gelitten haben...?


Sie zögerte hineinzugehen, blickte sie sich nach allen Seiten um. Erst als sie sich vollkommen sicher war, dass hier niemand war, drückte sie mit dem Arm gegen die schief hängende Tür. Die gab sofort nach, ließ sich einen Spalt breit öffnen. Der genügte ihr, um hindurch zu schlüpfen. Hinter ihr heulte der Wind. Sie hielt inne. Ihre Vorstellungskraft war einfach übermächtig. Zögernd betrat sie den Gang. Er war dunkel und roch nach Feuchtigkeit. Sie fragte sich, ob es nicht besser wäre umzukehren. Linker Hand befand sich der sogenannte Empfang. Hier hatte Tante Juana damals Meldung machen müssen, hier waren ihre Daten aufgenommen worden. Die Tür war morsch und stand halb offen. Mia stieß mit ihrer Sandale dagegen. Im Inneren des Raumes lag ein umgekippter Stuhl. Sein Metallrahmen war verrostet. Das Holzregal, in dem damals die Akten standen, lag zertrümmert und in allen Einzelteilen verteilt auf dem Boden. Daneben lagen mehrere vergilbte Blätter. Mia bückte sich und hob eins davon auf. Es war eine Seite aus einer alten Personalakte. Auf der Vorderseite stand der Name Zaida Gonzales mit Schreibmaschine geschrieben - ein Deckname? Oder ein Pseudonym für all die vielen Leidensgenossen, die man hier eingesperrt hatte. Was mag wohl mit der Akte von Tante Juana geschehen sein?, fragte sie sich. Sie wusste es nicht.

Die fensterlosen Zellen gab es noch immer. Mia fand sie auf Anhieb. Sie befanden sich Im Untergeschoss, ganz am Ende des Flurs. Bis dahin schaffte sie es noch. Dann musste sie sich übergeben.

Verdammt, was tue ich hier eigentlich? Was will ich mir beweisen? Das mir Tante Juanas Vergangenheit nichts anhaben kann?

Sie blieb vor der Zelle stehen, betrachtete die schwere, massive Holztür. Sie war noch in Takt, nur die Schlösser fehlten. In den Putz der Wände waren einzelne Worte und ganze Sätze eingeritzt. Sie konnte sich vorstellen, was hier geschrieben stand. Es waren die verzweifelten Worte jener Insassen, die man hier eingesperrt hatte.

Sie verließ den Ort, der ihrer Tante die schlimmsten Qualen ihres Lebens beschert hatte. Auf der anderen Seite lagen die Waschräume und die Toiletten. Die Räume mit den sanitären Anlagen sahen genauso trostlos aus, wie alles andere in dem ehemaligen Sanatorium. Die Metallteile waren stark verschmutzt, oxidiert oder lagen herausgerissen auf dem staubbedeckten Boden. Mia blickte auf die alten blass blauen Fliesen. Wie hässlich sie doch waren. Genauso hässlich wie das, was hier mit Tante Juana geschehen war. Mia fühlte ein Gefühl des Bedauerns in sich, aber auch so etwas wie Wut und Empörung. Wie konnten Menschen ihren Artgenossen nur so etwas antun?

Sie blickte auf ein zerbrochenes Waschbecken. Es war genauso zerstört worden, wie das Leben der Patienten zu jener Zeit. Alles war in Schein und Rauch aufgegangen, auch die vielen Jahre, die man ihrer Tante gestohlen hatte.

Mia verließ die Waschräume und trat zurück auf den Flur. Der Besuch des baufälligen Gebäudes brachte ihr nicht viel. Der Zustand der ehemaligen Heimstätte stimmte sie irgendwie traurig. Der Staat gab so viel Geld für unnütze Projekte aus. Hätte man hier an der Stelle nicht ein Museum oder eine Gedenkstätte errichten können? Sollten die vielen Insassen hier etwa umsonst gelitten haben? Aber was nützte es schon in der Vergangenheit herumzuwühlen. Allerdings wollte sie nicht gehen, ohne Tante Juanas Zimmer gesehen zu haben. Den Ort, an dem sie viele lange Jahre verbracht hatte. Wie mochte es dort aussehen?

Mia stieg vorsichtig die ausgetretenen Stufen empor. Das war nicht ganz ungefährlich, denn von dem ehemaligen Metallgeländer waren nur noch einzelne Bruchstücke vorhanden. Das obere Stockwerk sah noch schlimmer aus, als wie sie es befürchtet hatte. Durch das undichte Dach war Wasser in die Räume und auf die Flure gelaufen. Überall lag verwestes und vermodertes Zeug herum. Dementsprechend streng war der Geruch. Es stank bestialisch. Ein paar Zentimeter vor ihren Füßen lief eine Ratte den Flur entlang. Mia erschrak, schrie kurz auf und stützte sich an der Wand ab. Ein tiefes durchatmen, dann ging sie weiter.

Der erste Raum zu ihrer rechten war früher einer der Gemeinschaftsschlafräume gewesen. Hier hatte ihre Tante ab und zu übernachtet, nämlich immer dann, wenn man sie nicht gerade weggesperrt hatte. Der Raum war dunkel und kalt. Das gebrochene Licht, das durch die zerbrochenen Dachziegel in den Raum drang war gerade stark genug, um Silhouetten von vergammelten Gegenständen erkennen zu lassen. Meist waren es Metallteile oder Reste von Gestellen, die früher zu den Betten gehörten. Mia blieb stehen und betrachtete die groteske Szenerie. Sie kam ihr irgendwie unwirklich vor.

Blieb noch das Pförtnerhäuschen, beziehungsweise das, was von ihm übrig geblieben war. Es sah genauso elendig aus, wie zuvor das Hauptgebäude, welches das frühere Sanatorium beherbergte. Auch die ehemalige Schrankenanlage fehlte. Das gleiche galt für die robuste Eingangstür. Sie existierte einfach nicht mehr. Die große Frontscheibe war zerschlagen worden und im Inneren sah es aus wie nach dem Krieg. Sämtliche Kabel und Steckdosen waren aus den Wänden gerissen, Holz und Metallteile lagen verstreut auf dem Boden und moderten vor sich hin. Hier gab es nichts mehr, was einen längeren Aufenthalt gerechtfertigte. Frustriert schlingerte Mia auf dem staubigen Boden zurück zu dem kleinen Durchgang durch den sie vor fast einer Stunde das große Grundstück betreten hatte.

Gefühlschaos Pur! Tausende verschiedene Emotionen streiften ihre Gedanken. In ihrem Hals steckte ein Kloß, der immer größer wurde. Hatte sich das Leiden von Tante Juana wirklich hier abgespielt?

Nachdenklich passierte Mia die verwitterte Mauer hinter der sich die Hauptstraße befand. Augenblicklich wurde sie wieder von der Gegenwart eingeholt. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen von Autos, Mopeds, Kombis und Linienbusse erfüllte die Luft um sie herum. Sie beobachtete den dichten Verkehr auf der Straße. Hier spielte sich das wahre Leben ab. Mia hielt die Handtasche, die sie bei sich trug, fest umklammert. Sie ließ sich absichtlich viel Zeit. Falls ihr jemand folgte, würde sie es hier viel schneller bemerken, als später im Zentrum, wo stets ein reges Treiben herrschte. Doch bisher war ihr niemand aufgefallen. Je näher sie dem Stadtzentrum kam, desto mehr Gitter befanden sich vor den einzelnen Geschäften. Ihre Besitzer wollten sie vor Einbrüchen schützen.

Vor ihr tauchten die ersten Häuserblocks auf. Aus ihren Ecken roch es nach Urin. Mia rümpfte die Nase und ging schnell weiter. An der nächsten Straßenecke kam ihr ein Mann auf einem Dreirad entgegen. Er hatte Kartons und leere Flaschen geladen. So etwas gab es zuhauf in Südamerika. Mia wartete bis er sie passiert hatte, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Auf einmal erschienen zwei Glockentürme in ihrem Blickfeld. Sie gehörten zu Còrdobas Kathedrale, die gleichzeitig den Anfang des historischen Zentrums bildete und zusammen mit dem „Cabildo“ als das erste Bauwerk an der Plaza San Martin genannt wurde. Um die Plaza führte eine mehrspurige Straße herum. Mia schritt auf die große Bronze Statue des Volkshelden General San Martin zu. Er wachte hoch zu Pferde über seine Stadt. Sie sah sich das Monument an und spürte wie sie innerlich ruhiger wurde. In diesem Augenblick war sie nur eine neugierige Touristin, mehr nicht. Schräg gegenüber der Statue begann die Fußgängerzone und direkt um die Ecke befand sich ein kleines Café. Mia ging darauf zu und suchte den Eingang. Er befand sich an der Seite des Gebäudes. Jemand rief ihr etwas zu.

„Hola Senora...“

Mia blieb erschrocken stehen. War sie gemeint? Unmöglich, hier in Córdoba gab es niemanden der sie kannte.

„Hola Senora...“ Eine angenehme Stimme wiederholte die Anrede. Mia drehte ihren Kopf in die entsprechende Richtung. In Höhe der Vorderfront standen ein paar Holztische plus Stühle auf dem Fußgängerweg. Auf einem saß ein Mann und winkte ihr freundlich zu. Sie setzte ihre Brille auf. Jetzt erkannte sie ihn. Es war der Taxifahrer, der sie vorhin hinaus zu der Schlossruine gefahren hatte. Sie grüßte zurück.

„Komm her und setzte dich an meinen Tisch. Magst du eine Tasse Kaffee?“

Mia akzeptierte dankend und setzte sich. Der Taxifahrer blickte sie neugierig an.

„Na, du machst vielleicht ein ernstes Gesicht. Ist der Besuch des alten Gemäuers nicht so verlaufen, wie du es dir erhofft hast? Ich habe dir doch gesagt, du solltest besser nicht allein das Grundstück betreten.“

„Das ist es nicht. Bitte entschuldige mich, ich bin nur ein wenig verwirrt“, antwortete Mia.

„War es so schlimm?“

„Nun ja...“

„Darf man wissen, was du dort wolltest?“

„Man darf, aber das ist eine lange Geschichte. Es geht um eine entfernte Verwandte von mir. Sie war vor langer Zeit in dem Sanatorium gewesen.“

„Du meinst, zum Zweck einer Behandlung?“

Mia nickte.

„Ich habe private Notizen von meiner Tante ausgehändigt bekommen, die belegen, dass sie dort war und zwar für mehrere Jahre.“

„Ah, jetzt verstehe ich und da wolltest du wissen, wie dieses Sanatorium heute aussieht?“

„In etwa. Ich versuche mir gerade ein Bild von meiner Tante zu machen. Weißt du, eigentlich kenne ich sie überhaupt nicht. Ich habe sie zum letzten Mal gesehen, als ich ein kleines Kind war.“

Der Taxifahrer hob die Schultern hoch. „Ich hoffe nur, du hast das gefunden, wonach du gesucht hast.“

„Nein, leider nicht. Das ehemalige Schlösschen ist total heruntergekommen und baufällig. Man kann nur noch erahnen, wie es früher ausgehen haben muss.“

„Es war einmal ein Prachtbau. Bist du auch auf dem Friedhof gewesen?“

„Nein, daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht.“

„Nun gut, das ist auch besser so. Was hast du jetzt vor?“

„Ich denke, ich werde auf jeden Fall noch ein paar Tage in Córdoba bleiben.“

„Ich bin dir gerne behilflich, falls du dir noch etwas anschauen möchtest.“

Den Satz kannte sie schon. Sie wollte schon dankend ablehnen, als ihr noch etwas einfiel.

„Sag mal, kennst du zufällig den Friedhof von La Falda?“

„Welchen meinst du? In der Nähe des Örtchens La Falda, gibt es gleich vier.“

„Oh, da muss ich nachsehen. Warte, ich habe den Namen aufgeschrieben.“

Sie kramte in ihrer Handtasche und nippte an ihrer Kaffeetasse, die ihr in der Zwischenzeit gebracht worden war.

„Hier habe ich ihn: „ Friedhof Valle Hermoso.“

Ihr Gegenüber nickte ihr zu.

„Den kenne ich. Der liegt ungefähr sieben Kilometer südlich von La Falda.“

„Ich verstehe. Und wie weit ist es von Córdoba aus bis nach La Falda?“

„Ungefähr 1,5 Stunden. Es sind knappe 70 Kilometer. Warum fragst du? Hast du vor dorthin zu fahren?“

„Ich spiele mit dem Gedanken, in der Tat. Wahrscheinlich liegt meine Tante dort begraben.“

„Wenn du nach La Falda kommst, vergiss nicht das ehemalige Hotel Eden zu besuchen. Es ist zwar heute nur noch eine Ruine, hat aber eine ziemlich dunkle Geschichte.“

Mia sah ihrem Gegenüber zum ersten Mal in die Augen. Sie waren dunkel und groß.

„Schon wieder eine Ruine? Und um was für eine dunkle Geschichte handelt es sich denn?“

„Wenn ich Geschichte sagte, meinte ich mehr die Vergangenheit. Angeblich sollen dort geflüchtete Nazigrößen übernachtet haben.“

Bei dem Wort Nazi zuckte Mia unwillkürlich zusammen. Sie dachte an die Utensilien ihrer Tante, die noch in der kleinen Metallkassette lagen. Und jetzt hatte sie schon wieder einen Hinweis auf deren Existenz in Argentinien bekommen. Sollte da wirklich etwas dran sein? Der Taxifahrer bemerkte ihren Stimmungswandel.

„Stimmt etwas nicht“, fragte er.

„Nein, es ist alles gut. Ich bin nur verdammt müde von dem langen Flug und von der Zeitumstellung. In den USA ist es bereits mitten in der Nacht.“

„Wenn du möchtest, fahre ich dich morgen nach La Falda...“

„Im Ernst?“

„Ja, ob ich nun hier in Córdoba meine Runden fahre, oder....“

„Und was würde das kosten?“

„Ach darüber sprechen wir noch. Mach´ dir keine Sorgen. Ich berechne dir einen Sondertarif.“

Sie grinste ihn an. „Besonders billig oder besonders teuer?“

„Sehe ich etwa wie ein Gauner aus?“

„Weiß man´s?“

Sie lachten sich an und der Bann war gebrochen.

„Also gut, dann hol´ mich morgen ab. Ich wohne im Hotel Gran Victoria. Sagen wir um zehn Uhr vor dem Eingang?“

„Abgemacht, ich werde pünktlich sein.“

„Gut, dann werde ich jetzt gehen. Vielen Dank für den Kaffee.“

Sie stand auf, aber er hielt ihre Hand fest.

„Ich kenne noch nicht einmal deinen Namen.“

Seine Stimme klang beinahe vorwurfsvoll.“

„Ich heiße Mia.“

„Angenehm, Roberto.“

„Fein, dann sehen wir uns morgen, Roberto.“

Damit löste sie ihre Hand aus der Umklammerung und ging. Eigentlich war das mit der Müdigkeit eine Ausrede gewesen, aber die Latinos konnten so verdammt aufdringlich sein. Obwohl, wenn sie es sich ganz genau überlegte, war ihr Roberto keinesfalls unsympathisch. Sie schlenderte hinüber zur Kathedrale und sah sich das beeindruckende Bauwerk an. Sie war 1578 erbaut worden. Direkt im Anschluss daran befand sich das Cabildo. Einst die Behausung des Bürgermeisters sowie der Stadtregierung, beherbergte es heute das Museum der Stadt. Mia besah sich die Aushänge. Zurzeit lief gerade eine Ausstellung – Medizin früher und heute. Das klang interessant. Der Eintritt war frei. Mia beschloss die Ausstellung zu besuchen. Im Untergeschoss des kolonialen Gebäudes gab es Informationen zu den ehemaligen Krankenhäusern und Heilstätten der Stadt. Sollte da etwa auch...? Eine Vorahnung beschlich sie, als sie die großen Steinstufen hinunterging. Unten im Erdgeschoss war es angenehm kühl. Überall waren Tafeln mit Fotos und Dokumentationen aufgestellt. Mia schritt von Tafel zu Tafel. Da gab es Informationen zum Krankenhaus San Martin. Es war das erste von ganz Argentinien. Dem folgte eine Tafel mit Infos zum Santa Maria Krankenhaus. Das war eine psychiatrische Klinik von zweifelhaftem Ruf gewesen. Und dann kam das, wonach sie gesucht hatte und was sie jetzt beinahe von den Beinen riss – eine Dokumentation über das Sanatorium Bermann. Mia sah sich alles genau an, las in den Beschreibungen.

Das Schlösschen, welches das Sanatorium Bermann beherbergte, wurde in den 20´er Jahren des letzten Jahrhunderts von einem Deutschen Einwanderer nach Plänen eines bereits im Rheintal existierenden Vorbildes gebaut. Es galt als eines der modernsten Zentren für Neuropathie Argentiniens, wenn nicht ganz Südamerikas. Das Institut arbeitete eng mit der argentinischen Regierung zusammen und war in den 70´er Jahren ein Prestigeobjekt der Militärjunta. Seine medizinischen Erfolge waren weltweit anerkannt worden.

Mia konnte kaum glauben, was sie las. Die Beschreibung auf der feinen, weißen Tafel klang so ganz anders, als das, was Tante Juana aufgeschrieben hatte. Konnten Tatsachen derart verfälscht werden? Und falls ja, wer mochte ein Interesse daran haben die Wahrheit zu vertuschen? Mia wusste nicht, wem sie glauben sollte. Der Widerspruch zwischen dem hier geschriebenen und Tante Juanas Version war einfach viel zu groß. Sie spürte eine tiefe Verwirrung in sich und auf einmal war sie wieder da, die Müdigkeit der langen Reise, die man allgemein Jetlag nannte. Mia sehnte sich nach ihrem Hotelzimmer, nach einer Dusche, nach einem Bett. Zum Glück befand sich all dies in angenehmer Reichweite. Sie nahm sich ein paar Informationsbroschüren mit und kehrte zurück zu dem Aufgang, der direkt hinaus auf die Fußgängerzone führte. Dort tauchte sie in die Menge ein und spürte wie die innere Anspannung wieder von ihr abließ. Die Sonne und die lachenden Menschen, die ihr entgegen kamen, taten ihr übriges dazu. Mia schlenderte die Fußgängerzone entlang und sah sich die Auslagen der Geschäfte an. Viele Preise kamen ihr überteuert vor, was auch kein Wunder war, schließlich befand sich Argentinien wieder einmal in einer schlimmen Wirtschaftskrise, wobei der Peso zum US-Dollar beinahe zusehends an Wert verlor. Trotzdem waren die Menschen fröhlich und gut gelaunt. Sie taten so, als ob sie das alles überhaupt nichts anging. Als Mia ihr Hotel erreichte, verschwand die Sonne gerade hinter den Häuserblocks. Mit müder Stimme verlangte sie an der Rezeption nach ihrem Zimmerschlüssel. Er wurde ihr sofort ausgehändigt. Sie ging hinüber zum Aufzug und fuhr hinauf in den zweiten Stock. Dort erinnerte sie sich an den Trick mit der Zimmertür. Die lies sich diesmal auf der Stelle öffnen. Mia stieß einen tiefen Seufzer aus, schloss die Zimmertür von innen und warf sich auf das Bett. Südamerikanische Großstädte in der Sommerzeit konnten verdammt ermüdend sein.

ABGETAUCHT

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