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Gibt es Rezepte gegen Gewalt?

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Rund 43 Prozent aller schweren Gewaltdelikte in Deutschland werden von jungen Menschen unter 21 Jahren begangen, 90 Prozent davon sind männlichen Geschlechts, die Hälfte davon sind Jungen aus Migrantenfamilien. Die Jugendkriminalität ist in den letzten Jahren um etwa 30 Prozent zurückgegangen, aber gleichzeitig hat sich die Zahl extremer Gewaltdelikte verdoppelt. Also beschließt die Bundes-CDU eine Verschärfung der Strafmaßnahmen gegen jugendliche Gewalttäter, und sie folgt dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der Erziehungscamps für junge Wiederholungstäter vorgeschlagen hat. Der Leiter des Niedersächsischen Kriminologischen Forschungsinstituts, Christian Pfeiffer, sieht die Lösung dagegen in einer besseren Bildung für junge Menschen, weil 22 Prozent der zugewanderten jungen Menschen nicht einmal den Hauptschulabschluss erreichen; und das sind vor allem wieder Jungen.

Unsere Gesellschaft sucht also nach Lösungen, aus der Gewaltspirale herauszukommen und reagiert damit zum Glück eher als die britische, an der wir immer ein paar Jahre vorher ablesen können, was auf uns zukommt. Die autoknackenden „Crash Kids“ gab es dort schon massenhaft, bevor sie bei uns Sorge bereiteten. Die Friedhofskultur betreibenden „Grufties“, die schwarzgekleidet, bleichgesichtig zur Musik der Gruppe „The Cure“ nachts um Gräber tanzten und in Särgen schliefen, erreichten Itzehoe und Niederwürzbach bei uns erst, als diese Welle in England schon wieder abflaute, und das Filmen von initiierter Gewalt mit Handys und Digitalkameras, das „Happy Slapping“, begann in Niedersachsen, als in Großbritannien das Zusammenschlagen und Erschießen von Jugendlichen diesen Trend schon längst überholt hatte.

27 Jugendliche sind 2007 allein in London durch andere Jugendliche erschlagen oder erschossen worden. Und jetzt leiden vor allem Hamburg und Berlin unter der Zunahme des Erschlagens oder Tottretens von Menschen vor Discos, Clubs und nach Konzerten, meist nach Saufgelagen und oft verknüpft mit dem Kampf um Mädchen und dem, was die Täter „Ehrverletzung“ durch „Dumm-Angucken“ nennen.

Also welche Rezepte helfen? Hohe Strafen schrecken in der Regel deshalb nicht ab, weil die Täter im Moment der Tat gar nicht an die Folgen denken, sagt der Deutsche Richterbund. Erziehungscamps sind gut, wenn die Pädagogen, die diese Camps leiten, charismatische Pädagogen sind – wie zum Beispiel Lothar Kannenberg mit seinem Boxcamp auf einem Bauernhof bei Kassel, Kari Björkman mit seiner Pädagogischen Farm Kuttula in Finnland oder Dieter Dubbert mit seinem Bismuna-Projekt in Nicaragua.

Die amerikanischen Erziehungscamps („Boot-Camps“ genannt) mit ihrem militärischen Drill sind jedenfalls fehlgeschlagen, weil die jungen Menschen zwar den Tag über erschöpft, aber nicht vom Unrecht ihrer Taten überzeugt werden, sodass hohe Rückfallquoten die Folge sind.

Erziehungscamps sind also personen- und konzeptabhängig. Sie funktionieren gut, wenn die Pädagogen es rund um die Uhr mit den jungen Menschen aushalten. Wenn die jungen Menschen erleben, dass sie etwas können und gebraucht werden. Wenn sie ein neues und gutes Verhältnis zu ihrem eigenen Körper gewinnen, wenn ihr vorheriges Leben im Camp „begraben“ wird (dafür gibt es auf dem Bauernhof von Lothar Kannenberg eigens einen Friedhof) und wenn Lebenserfolge wie Schulabschluss und Ausbildung nachgereicht werden. Vor allem aber, wenn per Konfrontation durch Mitglieder ihrer Peergroup, die auch Schlimmes getan haben, die Gewaltdelikte verpönt werden. Wenn von den Jugendlichen anerkannte Gleichaltrige ihnen ein Konfliktbewältigungsverhalten zeigen und eintrainieren, wie es beim Anti-Aggressivitäts-Training auf dem „Heißen Stuhl“ passiert. Jedoch muss diese Integrationsleistung gegenüber der Gesellschaft noch ergänzt werden durch die gegenüber der eigenen Herkunftsfamilie: mit einer ganz anderen Sicht, gelassen, aber abgelöst von der Vergangenheit und gestärkt durch neue Erfolge in Sachen Selbstbewusstsein, Schulabschluss, sowie berufliche und soziale Perspektiven, wie es im Jugenddorf Cund der Makarenko-Schifffahrtsgesellschaft aus Arnis in Rumänien mit drogenabhängigen und gewalterfahrenen deutschen Kindern und Jugendlichen passiert.

Am Ende hat Christian Pfeiffer recht: Ein erzieherisches Frühwarnsystem in Bezug auf das familiäre Aufwachsen und eine gute Bildung für Kinder aus Problemmilieus sind der beste Schutz gegen eine Spirale der Gewalt. Aber das ist ein „dickes Brett“, das da zu bohren ist.

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