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1. Vorlesung Die Symbiose von Denken und Leben
ОглавлениеIn einer sehr zu empfehlenden neueren Biographie über Karl Marx steht ganz zu Beginn: »Um Marxens Ideen zu verstehen, genügt es nicht, ihren intellektuellen Inhalt zu kennen; man muss sie im größeren Zusammenhang seines Lebens sehen.«1 Ich finde diese Bemerkung wichtig. Sie erhebt einen erstaunlichen Anspruch. Sie sagt – vielleicht um Generationen von Philosophen zu ärgern, die sich mit Marx beschäftigten – dass es nicht ausreicht, Marx’ Texte zu lesen; man muss vielmehr sehen, aus welcher konkreten Lebenserfahrung diese Texte entstanden sind. Wenn man das nicht tut, kann man auch nicht ermessen, was sie sagen wollen.
Alles, was Menschen tun, kommt aus intrinsischen Motivationen. Doch diese Motivationen sind verschieden. Ein Fabrikarbeiter in England um 1850 oder 1900 verfolgt seine harte Tätigkeit, um zu überleben. Das Leben ist mit der intrinsischen Motivation des Arbeiters, nämlich zu überleben, geradezu identisch: Arbeiter sein heißt, sein Überleben zu realisieren. Das ist angesichts des Lebens eines Philosophen anders. Schon Aristoteles sagt, dass die Philosophie dort anfange, wo die notwendige Befriedigung des Lebens aufhöre;2 dass also niemand philosophiere, um zu überleben. Mit anderen Worten: Die Motivation zur Philosophie besteht gerade darin, die Realität des Lebens in reiner Theorie zu übersteigen.
So auch Marx. Denn er, den ich als Philosophen bezeichnen möchte, was keine Selbstverständlichkeit ist – wie ich Ihnen noch zeigen werde –, hat in der freien Tätigkeit des Reflektierens und Denkens das Leben und seine realen Ansprüche hinter sich gelassen. Und das sogar im besonderen Sinne, denn Marx war niemals ein Professor, er hat an keiner Universität oder Schule gelehrt. Er hat ganz offenbar die Philosophie nicht als ein Metier aufgefasst, mit dem man sein Überleben fristen kann. Marx’ Denken im Kontext seines Lebens zu betrachten, scheint einer essentiellen Motivation des Philosophierens, den Anspruch des Lebens auf die bedeutungslose Befriedigung der Bedürfnisse zu beschränken, zu widersprechen.
Doch so einfach ist die Sache nicht. Der Biograph Jonathan Sperber behauptet, dass es zwischen Marx’ Ideen und seinem Leben einen Zusammenhang gibt. Er sagt darüber hinaus, dass diese Ideen nur zu verstehen seien, wenn das Verhältnis von Denken und Leben berücksichtigt wird. So gesehen scheint es also eine Verflechtung von Philosophie und Leben, ja von Philosophie und Überleben zu geben, die in der Tätigkeit des Philosophierens selbst sich niederschlägt. Leben und Überleben zeigen sich im, ja als Denken.
Ein Zeitgenosse von Karl Marx, Friedrich Nietzsche, hat vielleicht als erster auf das Verhältnis von Biographie und Philosophie hingewiesen. Er sagt in »Jenseits von Gut und Böse« (1886), dass es beim »Philosophen ganz und gar nichts Unpersönliches« gebe.3 Das ist keine Nebenbemerkung. Nietzsche spricht von einer »Psychologie« als einer »Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht«, wonach das, »was bisher geschrieben wurde, ein Symptom von dem« sei, »was bisher verschwiegen wurde«.4 Das bedeutet, dass es in den philosophischen Texten etwas gibt, worüber die Philosophen nicht reden, was sie »verschweigen«. Und das Geschriebene sei ein »Symptom«; etwas, was mit einem anderen erscheint, mit ihm zusammenfällt, dieses andere anzeigt, aber nicht dieses andere ist. Das heißt aber, dass dieses andere, das sich nicht zeigt, das verschwiegen wird, durch das Symptom zugänglich wird. Das, was nach Nietzsche von den Philosophen verschwiegen wird, sei der »Wille zur Macht«. Die Philosophen wollen Macht, sie wollen mit Macht z. B. Gesetze geben, sie wollen Einfluss, Bedeutung, Erfolg. Sie verschweigen das aber, weil es als schlecht und böse betrachtet wird.
Ich halte diese Psychologie für nicht sehr weitreichend, was aber nicht heißt, dass ich überhaupt die Psychologie oder Psychoanalyse in Bezug auf die Philosophie für abwegig halte. Im Gegenteil, wenn das Philosophieren aus einer bestimmten Motivation kommt, die etwas mit der Lebenserfahrung des Philosophen – mit seinem Überleben – zu tun hat, dann kann auch die Psychologie etwas dazu sagen. Allerdings ist die Psychologie eben ein spezifischer Diskurs, den ich, als Philosoph, nicht beherrsche. Daher werde ich bei der Philosophie bleiben.
(Übrigens: Marx wird 1818 in Trier geboren, stirbt 1883 in London; Nietzsche wird 1844 in Röcken bei Naumburg geboren, stirbt 1900 in Weimar. Bemerkenswert: Sie sind sich niemals begegnet, haben sich niemals einen Brief geschrieben, haben in ihren Werken niemals den Namen des anderen erwähnt – haben sie sich also nicht gekannt? Das ist im Falle Nietzsches wohl kaum möglich, da er sich zuweilen zum »Sozialismus« und über die »Kommunisten« äußert, ohne sich jemals ausdrücklich auf Marx (oder Engels) zu beziehen. Bei Marx gibt es nichts, was darauf schließen lässt, dass er Nietzsche gekannt hätte. Man stelle sich das einmal vor: Das wäre beinahe so, als würden heute Peter Sloterdijk und Richard David Precht nichts voneinander gehört haben – ich halte übrigens den einen, Sloterdijk, für einen Philosophen, den anderen eher nicht. Die medial organisierte Öffentlichkeit zur Zeit von Marx und Nietzsche – in der »industriellen Revolution« – stand erst am Anfang ihrer Entwicklung, ließ einem diese Freiräume der Ignoranz; sie war noch nicht von wichtigen und überflüssigen Informationen angefüllt wie heute. Ich verweise darauf, damit Sie einen Eindruck vom Unterschied des 19. Jahrhunderts zum 20. und 21. Jahrhundert bekommen.)
Worum es mir zunächst geht, ist, festzuhalten, dass das Philosophieren einen lebensgeschichtlichen Hintergrund hat, dass also ein »unpersönliches« Philosophieren letztlich unmöglich ist. Aber man muss das Problem der Lebenserfahrung anders fassen als so, dass man sagt: hier ist die Lebenserfahrung und daraus kommt irgendwie – gar noch kausal-determiniert die Motivation zur Philosophie. Es gibt vielmehr eine wechselseitige Beziehung zwischen Philosophie und Leben. Die Lebenserfahrung steht schon im Einfluss der Philosophie, so wie die Biographie dann auch das Philosophieren mitbestimmt. Philosophie und Leben bilden so etwas wie eine Symbiose. Das Verhältnis des Philosophen zur Philosophie ist nicht biographisch, sondern sozusagen sym-bio-graphisch.
Wenn also der Biograph Sperber über Marx sagt, dass man Marxens Leben berücksichtigen müsse, um dessen Gedanken zu verstehen, dann muss man sehen, dass das Leben selbst schon von Gedanken beeinflusst ist. Ich könnte daher sagen: um Marxens Leben zu verstehen, muss man sich (auch) seine Gedanken anschauen.5 Und das ist das, was ich hier vor allem tun werde. Zugleich werde ich im Auge behalten, wie sich Marx’ Biographie gestaltet hat, denn diese steht tatsächlich im Schatten seines Denkens.
(Ich möchte hier kurz bemerken, dass der Begriff des »Lebens« mindestens zweideutig ist. Einerseits lässt er sich als das organische Leben (zoé) fassen, andererseits als das sich in einer individuellen Geschichte manifestierende Leben (bíos). Eine Biographie erfasst demnach nicht ein biologisches Geschehen, sondern ein persönliches. Doch auch das ist nicht so einfach. Das Leben als Überleben, das Leben in seiner organischen Gestalt, greift aufs intellektuelle Leben über. Gerade Marx wird uns dieses Übergriffige des Lebens erläutern.)
Marx wurde am 5. Mai 1818 als drittes Kind des Rechtsanwalts Heinrich Marx und seiner Frau Henriette in Trier geboren. Die Marxens lebten eine sehr aufgeklärte Form des Judentums, waren eine alteingesessene und mehr oder weniger wohlhabende jüdische Familie (der Vater konvertiert übrigens zum Protestantismus). Das ist deshalb bemerkenswert, weil ich mich mit dem Text Zur Judenfrage von Marx noch beschäftigen werde, einem berühmtberüchtigten Text, den man wohl als antisemitisch bezeichnen muss, wobei dann genauer zu sagen sein wird, inwiefern dieser Text antisemitisch ist.
Im Jahr 1835 geht Marx nach Bonn, um Jura zu studieren.6 Das sieht natürlich so aus und muss auch so gesehen werden, als dass der Sohn Marx hier das tut, was der Vater bereits tat. All das ist mehr oder weniger unauffälliges, gewöhnliches Leben. Das Auffälligste ist wohl die Liebesgeschichte mit Jenny von Westphalen, die Marx nach langem Hin und Her heiratete; sie sollte Marx sieben Kinder gebären, von denen nur drei Töchter überlebten, die allerdings auch wiederum eher schwierige Lebenswege hatten. (Diese Liebesgeschichte wird in dem neuen Film Der junge Marx ausführlich behandelt.) Übrigens war Marx in seiner Ehe ein zuhöchst bourgeoiser Typ, Patriarch, zuweilen wohl sogar Despot. Jenny Marx begleitete ihren Mann durch alle Schwierigkeiten, die sich aus seinem Denken ergaben.
Nach einem Jahr in Bonn, in dem er offenbar mehr oder weniger durch Saufen und Randalieren auffiel, wechselte Marx nach Berlin (zur heutigen Humboldt-Universität), um bei dem Hegelianer Eduard Gans Vorlesungen zu hören. Hegel war dort 1831 an den Folgen der Cholera gestorben. Sein Denken war noch aktuell. Man kann sagen, dass Marx’ Schritt nach Berlin den Anfang seiner philosophischen Biographie bedeutete. Denn mit Hegel, vor allem mit dessen Rechtsphilosophie, wird sich Marx intensiv beschäftigen. Das ist eine Quelle des Marx’schen Denkens, doch nicht die einzige. Ich werde mich ein wenig dabei aufhalten.
Hegel war ein akademisches Ereignis ersten Ranges. Er machte Berlin zum europäischen Zentrum der »Wissenschaft« im Sinne Hegels; und europäisches Zentrum zu dieser Zeit hieß Welt-Zentrum. Warum aber? Weil die systematische Auffassung der Philosophie nicht nur Philosophie im engeren Sinne berücksichtigte. Dafür steht ein Buch mit dem Titel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in erster Auflage 1817 in Heidelberg erschienen, 1827 in zweiter, sehr veränderter Form noch einmal veröffentlicht, 1830 in einer etwas weniger veränderten ein weiteres Mal. Dieses Werk stellt das »System« in seiner reifsten Form dar.
Das »System« enthält alles, was man damals überhaupt wissen konnte, in einem durchgängigen Zusammenhang, wobei der durchgängige Zusammenhang selber »logisch« begründet wurde. Die Dreigliederung lautet so: 1. Wissenschaft der Logik; 2. Wissenschaft (Philosophie) der Natur; 3. Wissenschaft (Philosophie) des Geistes. Sie sehen also schon, dass die Naturwissenschaft für Hegel etwas war, was sich zwischen der Logik und der Philosophie des Geistes noch in ein »System« hat einfügen lassen. Die Natur, sehr grob gesagt, entspringt der »Idee«, wird also von der Logik des Begriffs (im Unterschied zur Logik des Seins und des Wesens) her verstanden. Noch einfacher: die Natur wird idealistisch verstanden, sie ist ein Epiphänomen des Geistes. Das sollte für Marx – und zwar in negativer Form – sehr wichtig werden.
Die Rechtsphilosophie hat natürlich auch einen Ort in diesem »System«, und zwar im sogenannten »objektiven Geist« (im Unterschied zum subjektiven und absoluten), im dritten Teil, in der »Philosophie des Geistes«. Doch Marx beschäftigt sich mit einer eigenen Fassung der Rechtsphilosophie, die Hegel 1820 unter dem Titel Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse herausgegeben hat. Diese Schrift ist ein Hauptwerk der politischen Philosophie schlechthin, die politische Schrift des sogenannten deutschen Idealismus.
An Hegels »System« konnte man in der Zeit, in der Marx sich in Berlin aufhielt, nicht vorbeigehen. Zumal es damals eine Diskussion um die Fortsetzung des Hegelianismus nach dem Verscheiden des Meisters gab. Diese wurde zwischen sogenannten Rechts- und Linkshegelianern ausgetragen. Die Rechtshegelianer übernahmen den konservativen Part der Diskussionen. Sie betonten die Wichtigkeit der Hegel’schen Religionsphilosophie, wonach der preußische Protestantismus und dann auch der von diesem her gefasste Staat so etwas wie das Endprodukt der Vernunft-Geschichte schlechthin darstellte. Hegel selbst hatte in seinen religionsphilosophischen Vorlesungen auf die Rationalität des Christentums, der absoluten Religion, immer wieder hingewiesen.
Dagegen standen nun die sogenannten Jung- oder Linkshegelianer, darunter z. B. Arnold Ruge oder ein gewisser Bruno Bauer, der uns noch begegnen wird. Diese Linkshegelianer fanden sich mit der Saturiertheit der Rechtshegelianer nicht ab. Sollte die Wirklichkeit wirklich vernünftig, die Vernunft verwirklicht sein (wie es in der Vorrede zur Rechtsphilosophie von Hegel gesagt wird)? Die soziale Realität legte das nicht nahe. Die Welt sah doch anders aus. Die Linkshegelianer machten darauf öffentlich aufmerksam. Wichtig auch, dass der genannte Arnold Ruge 1838 einen gewissen Ludwig Feuerbach zur Teilnahme an den sogenannten Halleschen Jahrbüchern aufforderte. Feuerbach, 1804 geboren und 1872 gestorben, veröffentlichte im Jahr 1841 ein Buch mit dem Titel Das Wesen des Christentums. Dieses Buch wurde als eine tiefgreifende Kritik an der christlichen Religion verstanden. 1843 publizierte Feuerbach die Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in denen er noch einmal sein Hauptwerk rekapituliert. Für die Linkshegelianer war Feuerbach ein Mitstreiter, selbst wenn er sich eher am Rand aufhielt. Auch auf ihn muss ich im Folgenden zu sprechen kommen. Er ist in der Tat ein bemerkenswerter Philosoph (er war das auch für jemanden, der hier nur am Rande genannt werden kann: nämlich für Richard Wagner).
In Berlin kam also Marx mit diesen Linkshegelianern in Kontakt und spielte unter ihnen bald eine zentrale Rolle. In dieser Zeit, um 1835/40, war Marx finanziell von seinem Elternhaus abhängig. Jenny, mit der er bereits verlobt war, wartete auf ihn, wobei sich das ständige Getrenntsein durchaus als problematisch erwies. 1838 starb auch noch der Vater, die Mutter blieb allein zurück, und sie verwaltete das Erbe, das Marx nun in regelmäßigen Abständen forderte. Sie starb sehr spät, so dass Marx’ Leben vom endlosen Streit um das Erbe geprägt war, das er brauchte, um zu überleben. Ein paar Jahrzehnte später sollte er die Abschaffung des Erbrechts fordern.
1841 wurde Marx in Jena in absentia zum Doktor der Philosophie promoviert. Das Thema war die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie. Dieser Text gilt als verschollen. Es gibt aber noch eine unvollständige Abschrift von fremder Hand, die anstelle des Originals veröffentlicht wurde. An dieser Arbeit ist weniger wichtig und interessant, was Marx unmittelbar zu Demokrit und Epikur zu sagen hat. Wichtiger ist, dass er seine Auseinandersetzung mit diesen antiken Philosophen, die man ja gemeinhin als Atomisten bzw. Materialisten bezeichnet, an Hegel und seine Schule heranträgt. Zudem ist der Stil der überlieferten Partien alles andere als akademisch – dazu gleich. In der Tat spielen Demokrit und Epikur bei Hegel und überhaupt im Idealismus keine Rolle, eben weil sie sich als Materialisten erweisen. Demokrit und Epikur anstelle von Platon und Aristoteles? Das hatte durchaus eine programmatische Stoßrichtung.
Nach der Promotion machte sich Marx Hoffnung auf eine Professur. Doch hier nun hatte ihn das sym-biographische Verhältnis zwischen Denken und Leben schon eingeholt. Die Preußische Regierung verbot allen Angehörigen jener linkshegelianischen Diskussionsgruppen die akademische Karriere. Auf kritische Äußerungen über die wirklichen Verhältnisse im Staat reagierte dieser damit, den Kritikern ihre Subsistenz zu entziehen. Das war natürlich für Marx ein ungeheuerlicher Einschnitt. Solche Diskriminierung ist in der Geschichte der Philosophie kein Einzelfall. Auch sein Zeitgenosse Nietzsche ruinierte seine akademische Karriere einfach durch ein Buch, das den herrschenden Alt-Philologie-Bonzen nicht gefiel. Nach der Veröffentlichung der Geburt der Tragödie (1872) war Nietzsche darauf angewiesen, sich außerhalb der Universitäten durchzuschlagen. Allerdings wurde er von der Baseler Universität, an der er ja Professor gewesen war, mit einer Rente auf Lebenszeit unterstützt. Marx und Nietzsche, die wie wenige andere Denker das 20. Jahrhundert beschäftigt haben, waren beide akademische Versager. Man fragt sich, was das über die Akademie aussagt …
Da Marx der Zugang zu den Universitäten verwehrt wurde, entschied er sich 1841, zunächst Mitarbeiter und dann Redakteur der Rheinischen Zeitung in Köln zu werden. Diese Zeitung war von liberalen und demokratischen Bürgern gegründet worden. Marx entschied sich also für die Agora, für das Medium, die Öffentlichkeit. Was bedeutet das?
Ich möchte hier kurz etwas einschieben, was meines Erachtens stets eine wichtige Rolle in der Geschichte der Philosophie gespielt hat: Bei Platon sehen wir die Philosophie in zwei Urszenen. Einmal ist da Sokrates, der auf der Agora, dem Marktplatz, wo die Athener ihren Geschäften nachgingen, mit jungen Männern der gehobenen Schichten spricht. Er diskutiert öffentlich über öffentliche, politische Dinge. Er legt sich mit Politikern, Rednern, Sophisten und Dichtern an, um mit ihnen ihre lógoi zu prüfen. Haben sie etwas für die Polis zu sagen? Können sie die Polis, das Zusammenleben in ihr, verbessern? Oder sind sie doch eher nur Demagogen, die zuerst an sich denken?
Wir haben aber noch eine andere Urszene, vielleicht als Reaktion auf den Philosophen auf der Agora: Um 387 vor Christus kauft Platon im Nordwesten von Athen ein kleines Grundstück, eine Art Garten oder Park, dem Heros Akademos gewidmet, um dort die erste Philosophenschule zu eröffnen. In der »Akademie« konnten Philosophen abgeschieden von der Öffentlichkeit, zurückgezogen und unter sich, die philosophischen Probleme bedenken. Es war der Ort einer verschworenen Gemeinschaft mit teilweise religiösen Gebräuchen. Platon war der erste Leiter der Akademie, auf ihn folgte eine ganze Reihe weiterer. Erst im Jahre 529 nach Christus verbot der christliche Kaiser Justinian I. die Institution. Im 15. Jahrhundert knüpften Intellektuelle in Florenz wieder an das Modell an. Es war jedoch auch in der Zwischenzeit nicht gänzlich verloren gegangen, hatte – unter anderen Vorzeichen – in den Klöstern des Mittelalters fortgelebt. Daraus entstand dann die Universität.
Soviel zur exoterischen und esoterischen Dimension der Philosophie. Der Philosoph bzw. die Philosophie geschieht in der Öffentlichkeit, d.h. in den Medien (im Medium), und sie findet auch an den Universitäten statt. In den Medien präsentiert sie sich als eine Denkform, die der Allgemeinheit etwas zu sagen hat, in den Universitäten als eine Art von Forschung, die sich auch auf Fragen einlassen kann, die für die Allgemeinheit irrelevant sind (z. B. das Herausgeben von historisch-kritischen Ausgaben philosophischer Werke, die von der Öffentlichkeit nur mehr oder weniger wahrgenommen werden). Dass hier eine zuweilen krass vorgetragene Trennung besteht, zeigt ja der Umgang mit Marx und Nietzsche im 19. Jahrhundert. Denken Sie nicht, dass sich da besonders viel geändert hat.
Die Arbeit in der Rheinischen Zeitung war für Marx einerseits notwendig, er musste Geld verdienen, um mit Jenny eine Familie gründen zu können, andererseits entsprach der Schritt in die Öffentlichkeit aber auch seinem politischen Denken, dem Anspruch seines Denkens. Dazu gehörte auch Marx’ Stil. Bereits in der Dissertation pflegte Marx einen essayistischen Stil. Er war überhaupt jemand, der – wie Nietzsche – auf Stil einen Wert legte. Auch das prädestinierte ihn mehr zum Philosophen auf der Agora als zu einem in den Mauern einer Forschungsanstalt. Wenn Marx subjektiv darunter gelitten haben mag, von einer solchen Anstalt ausgeschlossen zu werden, so möchte ich behaupten, dass er mit dem, was er eigentlich wollte, bei einer Zeitung viel besser aufgehoben war. Hier konnte seine Wirkungsgeschichte beginnen.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist das Verhältnis von Marx’ Biographie und Denken tatsächlich symbiotisch geworden. Als Journalist hatte er die Möglichkeit, seine kritischen Kommentare zu veröffentlichen, zugleich spürte er aber auch den Effekt dieser Kommentare in Form politischer Verfolgung. Im Zuge der Karlsbader Beschlüsse von 1819 herrschte in Preußen ein sehr rigides Zensur-System, besonders angewendet auf den Journalismus. Diese Zensur bekam die Rheinische Zeitung zu spüren. Im Jahre 1843 wurde sie verboten. Marx heiratete Jenny und emigrierte mit ihr nach Paris. Er sollte niemals mehr Preußisches Staatsgebiet betreten.
Ein Ereignis in Marxens Leben möchte ich hier aber noch nachtragen. Während seiner Arbeit bei der Rheinischen Zeitung lernte Marx einen gewissen Friedrich Engels (1820–1895) kennen. Engels stammte aus einer Barmer Industriellenfamilie. Später, vor allem nachdem er die Anteile seines Vaters an einer Textilfabrik in Manchester übernommen hatte, wurde er zu dem reichen Industriellen, der den notorisch in Geldnot steckenden Marx unter die Arme greifen konnte. Marx und Engels verstanden sich bei ihrer ersten Begegnung keineswegs besonders gut. Das gab sich aber mit der Zeit. Nach 1844 bildeten Marx und Engels nicht nur freundschaftlich, sondern auch politisch ein Doppelgestirn, das höchst effektiv zusammenarbeitete.
Die Schriften, die ich Ihnen vorstellen werde, entstanden alle ungefähr in der Zeit von 1843 bis 1850, darunter Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Zur Judenfrage, beide 1843, die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (1844), Thesen über Feuerbach bzw. die Deutsche Ideologie (1845) und gemeinsam mit Engels das Manifest der Kommunistischen Partei von 1848. Ich werde mich in dieser Vorlesung nicht mit Das Kapital (1867) beschäftigen, auch wenn ich einmal daraus zitieren werde, so wie auch aus der Kritik der politischen Ökonomie von 1858. Das Kapital ist ein Text, der nicht in eine Einführung in das Marx’sche Denken gehört. Er ist das ökonomische Hauptwerk seiner reifen Jahre.
Zurück zur Biographie, die bei Marx eine gewisse Aussagekraft entwickelt. In Paris versuchte Marx mit Arnold Ruge, die Deutsch-französischen Jahrbücher herauszugeben. Zugleich begann er sich mehr und mehr für ökonomische Fragen zu interessieren. Die Ökonomisch-philosophischen Fragmente von 1844 sind die erste Frucht dieser ökonomischen Studien. Sie werden auch unter dem Titel Pariser Manuskripte zitiert.
Marx betätigte sich weiterhin im öffentlich-politischen Kampf gegen das repressive Preußen. Dieses weitete das Gebiet seiner Repressionen aus. Preußens Arm reichte auch bis Paris. Preußen erreicht, dass Marx aus Frankreich ausgewiesen wird; er flieht nach Brüssel. 1845 gab Marx die preußische Staatsbürgerschaft auf und wurde staatenlos. Das Denken verlangte offensichtlich ein Opfer. Dieses bestand darin, dass Marx nach seiner Flucht über Paris und Brüssel, in dem er zwischenzeitlich verhaftet wurde, nach London ging, wo er ab 1849 im Exil lebte.
Im Jahr 1848 ereignete sich in Europa etwas, worauf Marx lange gewartet hatte. Im Februar und im März gab es revolutionäre Aufstände in Frankreich und in Deutschland. In Deutschland zunächst mit einigem Erfolg: Die Pressezensur wurde überall aufgehoben, die Rechte der bürgerlichen Kräfte im Verhältnis zu den herrschenden feudalistischen Regierungen wurden gestärkt. In der Frankfurter Paulskirche traf sich die sogenannte Nationalversammlung, die für einen einheitlichen deutschen Staat eine demokratische Verfassung ausarbeiten sollte. Doch bald gerieten die revolutionären Kräfte ins Stocken und reaktionäre Kräfte in Form von preußischen und österreichischen Truppen schlugen alles nieder. Der Gegenschlag ließ also nicht lange auf sich warten. Allerdings konnte nicht mehr alles rückgängig gemacht werden. Die Zeit des deutschen Feudalwesens z. B. war vorbei (was in Frankreich ein halbes Jahrhundert früher geschah, geschah nun auch in Deutschland – allerdings ohne die terreur).
In Paris war die Revolution ähnlich verlaufen. Die revolutionären Kräfte hatten zunächst einen starken Zulauf. Anders als in Deutschland gab es unter den Revolutionären auch Arbeiter. Diese organisierten im Juni in Paris einen Aufstand, der blutig niedergeschlagen wurde. Die Gegenrevolution siegte und setzte Louis Napoléon Bonaparte (Neffe des wahren Napoleon) im Dezember als Staatspräsidenten ein. Marx beschäftigte sich mit diesen Vorgängen in einem Text von 1852 mit dem Titel Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte.
Mit der Erinnerung an diese historischen Ereignisse ist ein Begriff gefallen, der auch im Denken von Marx eine zentrale Rolle spielt: der magische Begriff der »Revolution«. Er ist seit der Französischen Revolution von 1789 bis 1799, wenn nicht schon seit der Amerikanischen Revolution 1776 bis 1781, ein zentraler Begriff der politischen Theorie. Doch nicht nur dort wird er verwendet. Man spricht auch von der »Industriellen Revolution« oder von der »Digitalen Revolution«. Natürlich werde ich mich mit diesem Begriff bzw. mit Marx’ Theorie der Revolution beschäftigen. Ich habe ihn »zauberhaft« genannt, weil er wahrscheinlich derjenige Begriff unter den modernen politischen Konzepten ist, der die an Politik interessierten Gemüter am meisten erhitzt – in strikter Abwehr wie in begeistertem Zuspruch. Gerade die Russische Revolution, besonders die vom Oktober 1917, scheidet die Geister. Allerdings nimmt die Zahl der Befürworter ab. Die Gründe dafür liegen scheinbar auf der Hand: die ökonomisch-politische Entwicklung der letzten einhundert Jahre widerspricht Marx’schen und Marxistischen Prognosen. Es gebe keine verelendende Klasse, der nichts mehr bleibe als der gewalttätige Aufstand. Ich füge von mir aus noch hinzu, dass das Elend, das Unerträgliche, überhaupt eine sehr fragwürdige Voraussetzung der Revolution ist. Doch dazu später.
Es ist kein Zufall, dass Marx zur Zeit, als in Europa die Revolution Erfolge feierte, gemeinsam mit Engels seinen wohl berühmtesten Text verfasste: Im Jahre 1847 wurde in London ein Geheimbund gegründet, der sogenannte »Bund der Kommunisten«. Marx und Engels wirkten bei der Namensgebung mit. Dieser Bund, den es bis 1852 gab, ist der Vorreiter der 1864 entstandenen, von Marx und Engels mithervorgerufenen Internationalen Arbeiterassoziation, die dann später als »Erste Internationale« bezeichnet wurde. Dieser internationale Bund der Kommunisten tagte vom 29. November bis 8. Dezember 1847 in London und beauftragte Marx und Engels, ein Manifest der Kommunistischen Partei aufzusetzen. Dieses Manifest erschien 1848 in London. Damit schien sich eine Koinzidenz mit den revolutionären Ereignissen in Paris und Deutschland ereignet zu haben. Man kann sich vorstellen, dass Marx und Engels politische Morgenluft verspürten.
Marx lebte von 1849 bis zu seinem Tod 1883 in London unter schwierigen Verhältnissen, die auch daraus entstanden, dass er seinen Lebensstil durchaus an der sogenannten Bourgeoisie orientierte. Marx und Engels waren in ihrem Lebensstil keineswegs Revolutionäre (wie z. B. Che Guevara). Marx brauchte stets Geld (wenn Geld dauernd ein Thema ist, muss man es vielleicht auch thematisieren …). So arbeitete er nach wie vor als Journalist u. a. für den New York Daily Tribune, also auf internationalem Parkett. Zugleich betätigte er sich praktisch-politisch in der von mir schon erwähnten Gründung der Ersten Internationale 1864 oder in der Auseinandersetzung mit Ferdinand Lassalle, ohne den die Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands aus dem Jahre 1875, der späteren SPD, nicht möglich gewesen wäre.
Doch diese Zeit gehört schon in den Umkreis des Kapitals, mit dem ich mich nicht beschäftigen werde. Worum es mir in dieser ersten Veranstaltung ging, das war, Ihnen den sym-bio-graphischen Zusammenhang von Denken und Leben bei Marx etwas aufzuhellen. Ich wollte Ihnen Einblick in ein sehr eigentümliches Leben geben, ein Leben, das sich keineswegs nur in theoretischer Beschäftigung erging, sondern das auch Zeiten politischer Praxis enthielt; einer Praxis, die sich im verwirklichten Traum von der letzten Revolution erfüllen sollte. Marx ist aufgrund dieser Zerrissenheit zwischen der Theorie und der Praxis ein sehr moderner Charakter.