Читать книгу Der frühe Marx und die Revolution - Peter Trawny - Страница 7

2. Vorlesung Hegel, Feuerbach und die Religionskritik aus der Umkehrung von Prädikat und Subjekt

Оглавление

Ich hatte meine letzte Vorlesung mit einem Zitat aus Sperbers Marx-Biographie begonnen: »Um Marxens Ideen zu verstehen, genügt es nicht, ihren intellektuellen Inhalt zu kennen; man muss sie im größeren Zusammenhang seines Lebens sehen.« Ich hatte dann diesen Satz etwas anders ausgelegt. Es gibt keine biographische Determination des Denkens eines Philosophen bzw. überhaupt des Denkens, sondern es gibt eine wechselseitige Beeinflussung von Biographie und Denken. Das Philosophieren (aber auch die künstlerische Arbeit, meine ich) geschieht sym-bio-graphisch, in einer Art Symbiose von Denken und Leben. Ich hatte das am Leben von Marx gezeigt. Ich hatte gezeigt, dass seine politische Verfolgung sich aus seinem Denken ergab und dass sein Denken eine Antwort auf die politische Verfolgung war.

Ich hatte auch beschrieben, wie und wann Marx zu dem Denker wurde, der er für uns ist. Das geschah in Berlin durch sein Studium der Philosophie Hegels und im Kontakt mit denen, die um das Erbe dieser Philosophie stritten, mit den Links- oder Junghegelianern sowie den Rechtshegelianern. Hier, in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, beginnt Marx’ Geschichte als Philosoph – und als Philosoph, der kein Philosoph mehr sein wollte. Daher muss ich mich hier zunächst einmal aufhalten.

Hegel – war ein europäisches Ereignis, ohne Zweifel einer der Philosophen schlechthin wie Platon, wie Aristoteles, wie Kant. Hegel war der Philosoph seiner Zeit. Als er 1831 in Berlin stirbt, ist er auf dem Höhepunkt seiner akademischen Macht, auf dem Höhepunkt vielleicht auch seines Denkens. Was bedeutet das aber für Hegel, auf dem Höhepunkt der akademischen Macht seines Denkens zu sein?

Hegel gilt als der Philosoph, der den Staat Preußen in seinem Denken legitimiert und sogar repräsentiert. Das ist nicht einfach so dahingesagt, sondern basiert auf harten historischen Fakten. Wer von Hegels Karriere in Berlin sprechen will, muss von Karl vom Stein zum Altenstein sprechen, wie Hegel 1770 geboren, neun Jahre nach Hegel in Berlin gestorben. Erinnern Sie sich an die Geschichte Preußens: Preußen hatte unter der Besetzung Napoleons zu leiden. Es hatte 1806 eine große Schlacht gegen Napoleon verloren, bei Jena und Auerstedt. (Hegel übrigens war zu dieser Zeit Privatdozent in Jena und sah dort Napoleon in die Stadt einreiten. Er nannte ihn »diese Weltseele auf einem Pferde sitzend«.)7

Die Reaktion auf die militärische Niederlage und die damit verbundene Okkupation Preußens war ein großartiges Reformwerk, das Werk Karl Freiherr vom Steins und Karl August Fürst von Hardenbergs. Zu den Stein-Hardenbergschen Reformen gehört auch die Gründung einer neuen Art von Universität, verbunden mit dem Namen Wilhelm von Humboldts. Noch heute spricht man von der Humboldt-Universität und meint nicht nur die Berliner Universität, die heute so heißt, sondern einen Typ von Universität, der bildungspolitisch von Humboldt geprägt wurde. Humboldt ging damals stark von Kant aus, verkehrte aber auch mit Hegel. (À propos: In der Geschichte der europäischen Universität war die Humboldt-Universität diejenige, die auf philosophischen Fundamenten aufbaute. Die Universität war ein Ort der Philosophie. Das hat sich inzwischen radikal geändert.)8

Dieser Karl August von Hardenberg war es, der nach 1815, d. h. nach dem endgültigen Sieg über Napoleon, Karl vom Stein zum Altenstein in das neu gegründete Kultusministerium nach Berlin berief. Aufgrund seiner Reformen und des Siegs über Napoleon war Preußen eine aufstrebende Macht in Europa, durchaus progressiv neuen Ideen aufgeschlossen, eine konstitutionelle Monarchie, die sich allerdings bald unter Druck gesetzt fühlte. Es war nun der Minister Altenstein, der Hegel im Jahre 1818 von Heidelberg nach Berlin lotste. Und er tat das, weil er wusste, dass Hegel sich dem Staate Preußen gegenüber mehr als nur loyal verhalten würde.

Als Altenstein 1817 Kultusminister wurde, geschah noch etwas anderes. Friedrich Wilhelm III. wurde im selben Jahr religionspolitisch tätig. In seiner Eigenschaft als summus episcopus hatte er das »landesherrliche Kirchenregiment« in Preußen inne. Kraft dieses Amtes vollzog er die Vereinigung der reformierten und lutherischen Gemeinden zu einer »unierten« Kirche in Preußen. Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, was das heißt. Wichtig ist zu sehen, dass der »moderne« Staat Preußen sich dezidiert als ein christlicher und d. h. hier protestantischer Staat verstand.

Dieses Selbstverständnis hatte politische und religionspolitische, um nicht zu sagen weltanschauliche Konsequenzen. Im Jahre 1819 kam es zu den Karlsbader Beschlüssen; das waren politische Beschlüsse, die Preußen mit anderen deutschen Staaten und mit Österreich unter der Führung Klemens von Metternichs verabredete und die sich im Großen und Ganzen gegen revolutionäre Umtriebe wandten. Napoleon war ja als der politische Erbe der Französischen Revolution in Europa aufgetreten. Diese Revolution – dieses Gespenst – spukte immer noch umher. Man wollte sich dagegen schützen durch jene Unterdrückungen, unter denen dann später auch Marx zu leiden hatte.

Hegel hatte mit all dem wenig Probleme. Er konnte die Verbindung von Christentum (und d. h. für Hegel durchaus stets Protestantismus) und Staat systematisch begründen. Das tut er im § 270 der Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1821. Dort heißt es, dass die »Religion« »die absolute Wahrheit zu ihrem Inhalt« habe und damit falle »auch das Höchste der Gesinnung in sie«.9 Als solche sei sie die »Grundlage« des Staates. An diesem Punkt sagt Hegel aber auch, dass sie, »Religion und Staat«, »auseinandergehen«. Der Staat, sagt er, sei »göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist«. Als eine solche »Organisation« mag der Staat den Protestantismus zur »Grundlage« haben. Doch wenn die Religion nun reklamiere, dass neben ihrem Inhalt auch ihre »Form« im Staat Geltung beanspruchen wolle, müsse sie in ihre Grenzen gewiesen werden. Denn die »Form« der Religion in ihrem »Verhältnis zum Absoluten« sei »das Gefühl, die Vorstellung, der Glauben«. Im Staat aber gehe es vielmehr um das »Wissen«. Der Staat spiegelt sich in seinen vernünftigen Institutionen, die philosophisch, nicht religiös organisiert werden.

Es ist klar, worum es geht. Hegel bezweifelt keineswegs, dass der Protestantismus »Grundlage« der Sitten, der Gesinnung etc. im Staate sein müsse. Er ist aber in dieser Hinsicht eben auch »nur« »Grundlage«. Die Kirche kann demnach im Staat keine politische Macht beanspruchen. Doch gewiss ist es schon nicht wenig, wenn sie »Grundlage« ist.

Nun hatte Marx etwa zehn Jahre nach Hegels Tod in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern (1843/44) Folgendes geschrieben: »Für Deutschland ist die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.«10 Bleiben wir zunächst bei dieser letzten Bemerkung. Ich werde versuchen, sie im Rahmen dessen, was ich gerade über Hegel und die »Grundlage« der Religion für den Staat gesagt habe, zu interpretieren. Sollte die Religion die »Grundlage« des Staates und seiner Sittlichkeit sein, d. h. sollte die Religion die moralische Fundierung des Politischen übernehmen, dann ist die Einrichtung des Staats in seinen sozialen Institutionen prinzipiell von der Religion geprägt – und darüber hinaus legitimiert. Denn was mit dem absoluten Anspruch der Religion auch nur verbunden werden kann, bedarf keiner weiteren Rechtfertigung mehr. Wenn etwas »von Gott kommt« – wer wollte das, was da kommt, noch rechtlich-sittlich bestreiten?

Wenn aber so der soziale Raum eines Staates von der Religion geprägt wird (ohne dass sie unmittelbare politische Macht hätte, ohne ihrer auch nur zu bedürfen), dann wird jede Kritik, die sich auf diesen sozialen – und als sozialen auch politischen – Raum bezieht, es immer zuerst mit der Religion zu tun haben. Die Religion zu kritisieren heißt dann zugleich, die Organisation dieser Welt zu kritisieren.

Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass die Religionskritik ein wesentlicher Aspekt der Diskussionen der Linkshegelianer mit den Rechtshegelianern war, die vor allem die Hegel’sche Religionsphilosophie betonten und damit grundsätzlich affirmativ zur preußischen Gesellschaft standen. Dabei spielte Ludwig Feuerbach (1804–1872) eine große Rolle. Dessen Hauptwerk Das Wesen des Christentums erschien in der ersten Auflage 1841, 1843 folgte schon die zweite, 1849 eine dritte. 1843 erschienen, als Fortsetzung des Wesens des Christentums, die Grundsätze der Philosophie der Zukunft. »Von Feuerbach datirt erst die positive humanistische und naturalistische Kritik. Je geräuschloser, desto sichrer, tiefer, umfangsreicher und nachhaltiger ist die Wirkung der Feuerbachischen Schriften, die einzigen Schriften – seit Hegels Phänomenologie und Logik – worin eine wirkliche theoretische Revolution enthalten ist«,11 schreibt Marx im Jahre 1844. Ich möchte diese Texte etwas ausführlicher betrachten.

Im Vorwort zur ersten Auflage von Das Wesen des Christentums schreibt Feuerbach: »Das moderne Christentum hat keine andern Zeugnisse mehr aufzuweisen als – testimonia paupertatis. Was es allenfalls noch hat – das hat es nicht aus sich – es lebt vom Almosen vergangner Jahrhunderte. Wäre das moderne Christentum ein der philosophischen Kritik würdiger Gegenstand, so hätte sich der Verfasser die Mühe des Nachdenkens und Studiums, die ihm seine Schrift gekostet, ersparen können. Was nämlich in dieser Schrift sozusagen a priori bewiesen wird, daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie ist, das hat längst a posteriori die Geschichte der Theologie bewiesen und bestätigt. ›Die Geschichte des Dogmas‹, allgemeiner ausgedrückt: der Theologie überhaupt, ist die ›Kritik des Dogmas‹, der Theologie überhaupt. Die Theologie ist längst zur Anthropologie geworden. So hat die Geschichte realisiert, zu einem Gegenstande des Bewußtseins gemacht, was an sich – hierin ist die Methode Hegels vollkommen richtig historisch begründet – das Wesen der Theologie war.«12

Was sind »testimonia paupertatis«? Im ursprünglichen Sinne handelt es sich um Bescheinigungen, die jemandem ausgestellt werden, der zu arm ist, um sich im Falle einer Gerichtsverhandlung einen Anwalt leisten zu können, dem also Prozesskostenhilfe genehmigt wird. Aber schon Feuerbach verwendet den Begriff des »Armutszeugnisses« in unserem umgangssprachlichen Sinn; jemandem wird ein »Armutszeugnis« ausgestellt, wenn er sich als unfähig erweist, etwas zu tun, was ihm eigentlich leicht fallen sollte.

Was hat das »moderne Christentum« noch aufzuweisen, wenn es das, was es repräsentiert, nicht mehr »aus sich« hat? Feuerbach meint, dass das »moderne Christentum« sich auf etwas berufe, was es nicht selbst hervorgebracht habe (vermutlich auf eine Kraft, die es in vergangenen Jahrhunderten hatte). Es habe sich gleichsam selbst schon so sehr »kritisiert«, dass eine »philosophische Kritik« gar nicht mehr nötig sei. Was natürlich nicht heißt, dass Feuerbachs Ausführungen etwa nicht als »kritisch« wahrgenommen wurden. Feuerbach bekam es natürlich nach der Veröffentlichung mit der Zensur zu tun (das Werk wurde allerdings keineswegs verboten).

Kritik ist hier zu verstehen im Sinne des Trennens, Scheidens (krínein heißt trennen, ur-teilen etc.). Die Theologie hat in ihrer Geschichte selber eine Trennung, Differenzierung vollzogen, in der klar wurde, was sie in Wahrheit ist: das »Geheimnis« der »Theologie«, so Feuerbach, sei die »Anthropologie«. Diese »Anthropologie« sei das »Wesen des Christentums« »an sich«. Diese Erkenntnis habe sich in der »Geschichte realisiert«, sie habe sich der Vernunft also erst nach einer gewissen Zeit gezeigt. Wenn Feuerbach hier Hegels »Methode« lobt, dann meint er diesen Hegel’schen Gedanken, dass die Geschichte der Entwicklungsraum der Wahrheit ist, dass sich erst am Ende ganz entfaltet zeigt, was an ihrem Anfang erst in nuce vorhanden war.

Doch was soll das heißen, dass die Theologie in Wahrheit »Anthropologie« sei oder, wie Feuerbach unmittelbar nach dem Zitierten schreibt: »daß der Unterschied zwischen dem produzierenden heiligen Geist der göttlichen Offenbarung und dem konsumierenden menschlichen Geist längst aufgehoben, der einst übernatürliche und übermenschliche Inhalt des Christentums längst völlig naturalisiert und anthropomorphisiert ist«?13 Um das weiter zu erläutern, beziehe ich mich auf eine Stelle aus dem Vorwort zur zweiten Ausgabe von »Das Wesen des Christentums«. Die Stelle ist etwas länger:

»Im ersten Teile [von Das Wesen des Christentums] also zeige ich, daß der wahre Sinn der Theologie die Anthropologie ist, daß zwischen den Prädikaten des göttlichen und menschlichen Wesens, folglich […] auch zwischen dem göttlichen und menschlichen Subjekt oder Wesen kein Unterschied ist, daß sie identisch sind; im zweiten zeige ich dagegen, daß der Unterschied, der zwischen den theologischen und anthropologischen Prädikaten gemacht wird oder vielmehr gemacht werden soll, sich in Nichts, in Unsinn auflöst. Ein sinnfälliges Beispiel. Im ersten Teile beweise ich, daß der Sohn Gottes in der Religion wirklicher Sohn ist, Sohn Gottes in demselben Sinne, in welchem der Mensch Sohn des Menschen ist, und finde darin die Wahrheit, das Wesen der Religion, daß sie ein tiefmenschliches Verhältnis als ein göttliches Verhältnis erfaßt und bejaht; im zweiten dagegen, daß der Sohn Gottes – allerdings nicht unmittelbar in der Religion selbst, sondern in der Reflexion derselben über sich – nicht Sohn im natürlichen, menschlichen Sinn, sondern auf eine ganz andre, der Natur und Vernunft widersprechende, folglich sinn- und verstandlose Weise Sohn sei, und finde in dieser Verneinung des menschlichen Sinnes und Verstandes die Unwahrheit, das Negative der Religion. Der erste Teil ist demnach der direkte, der zweite der indirekte Beweis, daß die Theologie Anthropologie ist; der zweite führt daher notwendig auf den ersten zurück; er hat keine selbständige Bedeutung; er hat nur den Zweck zu beweisen, daß der Sinn, in welchem die Religion dort genommen worden ist, der richtige sein muß, weil der entgegengesetzte Sinn Unsinn ist.«14

Das klingt ziemlich kompliziert, ist es aber nicht. Ich beziehe mich sogleich auf den Hauptgedanken und die Beispiele. Es gibt für Feuerbach zwischen den göttlichen und menschlichen »Prädikaten« und »folglich« zwischen dem göttlichen und menschlichen »Subjekt oder Wesen« keinen Unterschied. Ein »Prädikat des göttlichen und menschlichen Wesens« ist für Feuerbach hier »Sohn«. Ich spreche dem göttlichen und menschlichen Wesen« das »Prädikat« zu, dass es »Sohn« ist (es gibt Gottes Sohn wie es einen Sohn des Menschen gibt). (Anmerkung zum Unterschied von Prädikat und Subjekt: Die Sonne ist heiß. S est P. Die Sonne ist Subjekt (das Unterliegende), das Heiß-Sein ist Prädikat (das Zu-gesprochene). Gott / Mensch ist Subjekt, Sohn ist Prädikat.) Nun sagt Feuerbach: was im Christentum zwischen Jesus und seinem Vater thematisiert ist, enthält die menschliche Wahrheit des Sohnseins. Es offenbart ein »tiefmenschliches Verhältnis«.

Das, so füge ich hinzu, kann Feuerbach mit allen christlichen Wahrheiten machen. Er kann zeigen (oder versucht zumindest zu zeigen), dass das Christentum sozusagen ein tiefes Wissen vom Menschlichen besitzt und dieses auf spezifische Weise darstellt. Das müsse aber nun getrennt werden von den bewusst übersinnlichen und daher gleichsam über-menschlichen Seiten des Christentums. Wer behaupte, dass die Gottessohnschaft »nicht Sohn im natürlichen, menschlichen Sinn« meine, »sondern auf eine ganz andre, der Natur und Vernunft widersprechende, folglich sinn- und verstandlose Weise« verstanden werden müsse, der vertrete die »Unwahrheit, das Negative der Religion«.

Die »Anthropologie« im Christentum ist demnach, dass das, wovon in ihm die Rede ist, den Menschen selbst in seiner kreatürlichen, sinnlich-materialistischen Weise betrifft. Wenn »der einst übernatürliche und übermenschliche Inhalt des Christentums längst völlig naturalisiert und anthropomorphosiert ist«, dann ist er das nur deshalb, weil nach Feuerbach von Anfang an das Natürliche und Menschliche die Wahrheit des Christentums sei.

Eine andere Bemerkung lautet:

»Die Methode der reformatorischen Kritik der spekulativen Philosophie überhaupt unterscheidet sich nicht von der bereits in der Religionsphilosophie angewandten. Wir dürfen immer nur das Prädikat zum Subjekt … machen – also die spekulative Philosophie nur umkehren, so haben wir die unverhüllte, die pure, die blanke Wahrheit.«15

Diese Bemerkung aus dem Umkreis der schon erwähnten Schrift Grundsätze der Philosophie der Zukunft ist besonders interessant. Wieder argumentiert Feuerbach mit dem logischen Unterschied von Prädikat und Subjekt. Diesen Unterschied bezieht er hier auf die »spekulative Philosophie«, und das ist für Feuerbach – und natürlich nicht nur für ihn – zu dieser Zeit die Philosophie Hegels. Nun dürfen Sie sich unter »Spekulation« hier nichts Negatives vorstellen, im Gegenteil. Das »Spekulative oder Vernünftige und Wahre besteht in der Einheit des Begriffs, oder des Subjektiven und Objektiven«,16 sagt Hegel in der schon erwähnten Enzyklopädie – was bedeutet das aber? Das Denken vollzieht sich in einem spekulativen Verhältnis. Ich unterscheide z. B. den Vater vom Sohn, ich kann diesen Unterschied aber nur machen, wenn ich das eine auf das andere so beziehe, dass sich das Eine im Anderen spiegelt (der Vater sieht sich erst im Sohn als Vater und vice versa). Der Spiegel aber, der die ideelle Mitte oder das Medium dieser Denk-Beziehungen ist, ist im Lateinischen das speculum. Der letzte Schritt in der Spekulation ist der, zu zeigen, dass alle Unterschiede sich schließlich in einem Ganzen spiegeln, d. h. sich zu einem Ganzen (»Einheit«, »System«) vereinigen bzw. immer schon vereinigt haben Das leistet zu jener Zeit und vielleicht zu allen Zeiten das Denken Hegels.

Mit dieser »spekulativen Philosophie« muss aber etwas geschehen. Das Verhältnis von Prädikat und Subjekt muss »umgekehrt« werden. Das Verb »umkehren« muss ich hier betonen, weil viele spätere Denker dieses Wort ebenso verwenden und ihm beinahe dieselbe Bedeutung geben, unter ihnen auch Heidegger. Um Ihnen das Problem etwas genauer zu erklären, werde ich einen berühmten Satz von Hegel zitieren, der aus der Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts stammt: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.«17 Dieser Satz hat Geschichte gemacht.

Er will sagen, dass zwischen der Vernunft und der Wirklichkeit kein Unterschied mehr besteht. Einen solchen Unterschied aber hatte z. B. ein Kant stets angenommen. Er hätte nie gedacht, dass die Welt eine vernünftige sei; im Gegenteil, Kant hielt die Welt für aufklärungsbedürftig, aber nicht für schon aufgeklärt. Hegel hat aber genau diesen Gedanken bei Kant als Schwäche ausgemacht. Die Vernunft könne im eigentlichen Sinne gar keine Vernunft sein, wenn sie sich nicht verwirklichen könnte – z. B. im Preußischen Staat bzw. in seinen Institutionen. Und wirklich gehen wir ja auch heute irgendwie davon aus, dass die Universität als Institution »vernünftig« sei. Würden wir das nicht irgendwie glauben, würden wir vielleicht nicht an ihr studieren.

Nun muss ich mir den Satz aber etwas genauer anschauen. »Was vernünftig ist, das ist wirklich«. Das gilt nach Hegel für alles Vernünftige. Sollte sich also etwas als vernünftig erweisen, dann wird es das so tun, indem es sich verwirklicht. Wenn das geschieht, dann ist die Wirklichkeit (irgendwann) vernünftig. Sobald aber das Vernünftige sich ganz verwirklicht hat, ist die Wirklichkeit vernünftig. Hier haben wir eine interessante Struktur: Auf der einen Seite ist sozusagen die Idee, der Begriff, die Vernunft. Sie hat von sich her die Tendenz, sich zu verwirklichen. Auf der anderen Seite haben wir die Wirklichkeit, die von sich her die Möglichkeit hat, vernünftig zu werden. Die Tendenz zur Vernunft geht aber einzig und allein von der Vernunft selbst aus. Hegels Satz muss also notwendig in dieser Form ausgesprochen werden: »Was vernünftig ist, das ist wirklich«, und weil das so ist, ist das Wirkliche auch vernünftig. Ich werde jetzt nicht danach fragen, ob das Internet, die Pornographie darin, Autorennen oder Globalisierung etc. »vernünftig« sind. Ich komme wieder zurück zu Feuerbach.

Hier geht es, wie gesagt, um die »Umkehrung« (Revolution!) des Verhältnisses von Subjekt und Prädikat. Das Subjekt im Hegel’schen Satz ist die Vernunft, das Prädikat ist das Wirklich-sein. Wenn das jetzt »umgekehrt« werden soll, dann bedeutet das nach Feuerbach, dass die »Wirklichkeit« das Subjekt und die »Vernunft« das Prädikat ist. Damit aber habe ich Ihnen tatsächlich jene Denkbewegung dargestellt, die auch Marx vollzieht, die für Marx sogar von größter Wichtigkeit ist. Ich hatte Ihnen gesagt, dass ich mich nicht auf Das Kapital beziehen wollte, mache ich auch nicht, muss aber hier eine Passage aus dem Vorwort zur zweiten Auflage zitieren. Marx sagt da, nachdem er sich als »Schüler jenes grossen Denkers« (Hegel) bezeichnet hat: »Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeineren Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.«18 Marx spricht zwar nicht von der »Umkehrung«, sondern von einer »Umstülpung«: Etwas muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Hegel wiederum hatte in der Phänomenologie des Geistes gesagt, man müsse lernen, »auch einmal auf dem Kopfe zu gehen«,19 d. h. also noch einmal, sich umzukehren (nicht mit den Füßen, sondern mit dem Kopf gehen). Denkbewegungen …

Die »Mystifikation« bei Hegel ist, dass er das naturgemäße Verhältnis, dass die Wirklichkeit das Subjekt und die Vernunft (Philosophie) das Prädikat ist, seinerseits umkehrt. Ich werde Ihnen noch zwei Sätze aus Feuerbachs »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« vortragen, damit Sie etwas besser verstehen, worum es geht:

»Die Anerkennung des Lichtes der Wirklichkeit im Dunkel der Abstraktion ist ein Widerspruch – die Bejahung des Wirklichen in der Verneinung desselben. Die neue Philosophie, welche das Konkrete nicht in abstracto, sondern in concreto – das Wirkliche in seiner Wirklichkeit, also auf eine dem Wesen des Wirklichen entsprechende Weise als das Wahre anerkennt und zum Prinzip und Gegenstand der Philosophie erhebt, ist daher erst die Wahrheit der Hegel’schen, die Wahrheit der neueren Philosophie überhaupt20

Hegel habe, nach Feuerbach, das »Licht der Wirklichkeit«, das »Konkrete«, im »Dunkel der Abstraktion«, im Denken, in der Vernunft, anerkannt. Das sei aber ein »Widerspruch«, weil so die Wirklichkeit zugleich bejaht und verneint werde – in dem Sinne, dass das Denken zwar die Wirklichkeit miteinbezieht, aber nicht eigentlich als Wirklichkeit, sondern nur als eine vernünftige Wirklichkeit, was nach Feuerbach ihrer Verneinung gleichkommt. Denn für Feuerbach – und auch für Marx –, das ist jetzt elementar, ist die Wirklichkeit nicht vernünftig. Marx denkt an die soziale Wirklichkeit seiner Zeit, an die sozialen Unterschiede, an die Armut und die mit ihr verbundenen Krankheiten, an die Ohnmacht der Armen, an die Herrschaft der Bürger, später der »Kapitalisten«. Das erkennt er keineswegs als vernünftig an. Und auch Feuerbach nicht: In der »neuen Philosophie« solle es sehr wohl um die Wirklichkeit gehen, die Vernunft (das zum Prädikat umgekehrte Subjekt) soll sich mit der Wirklichkeit (das zum Subjekt umgekehrte Prädikat) beschäftigen. Aber sie soll die Wirklichkeit betrachten, ohne sie von vornherein als ein Epiphänomen der Vernunft zu verstehen.

Noch einmal Feuerbach:

»Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes, ist das Sinnliche. Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch. Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen. Nur durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren Sinn gegeben – nicht durch das Denken für sich selbst. Das mit dem Denken gegebene oder identische Objekt ist nur Gedanke21

Das ist eine andere Nuance. Das Wirkliche soll nicht vor allem als versinnlichter Gedanke, als realisierte Vernunft, verstanden werden, sondern als »Objekt des Sinnes«, der Sinnlichkeit. Die Wirklichkeit ist sinnlich und muss sinnlich (naturwissenschaftlich) untersucht werden. Im »Wesen des Christentums« spricht Feuerbach davon, dass er lediglich in moralisch-praktischen Fragen »Idealist« sei: »aber auf dem Gebiete der eigentlichen theoretischen Philosophie gilt mir im direkten Gegensatz zur Hegel’schen Philosophie, wo gerade das Umgekehrte stattfindet, nur der Realismus, der Materialismus.« Feuerbach will im Verhältnis zur Wirklichkeit ein Realist und Materialist sein. In der Philosophie gibt es »nur Gedanken«, wie bei Hegel, und nicht das eigentlich Wirkliche.

Deshalb ist die Theologie, das Christentum, eigentlich eine »Anthropologie«, d. h. ein Selbstmissverständnis, wenn das Christentum meint, dass es aus einer übersinnlichen Offenbarung stammt. Der wirkliche Mensch hat sich im Christentum in seiner Wahrheit und Wirklichkeit erkannt. Dort, wo er das vergessen hat, wird für Feuerbach das Christentum »sinn- und verstandlos«.

Wie ist aber dann Feuerbachs Position zu verstehen? »Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.« Ich habe das bereits zitiert und Sie sollten sich diesen Satz merken, nicht nur weil er in der Vorlesung bedeutsam ist. Zum Abschluss zitiere ich eine Passage aus der Vorrede zur zweiten Auflage des Wesens des Christentums:

»Ich habe nur das Geheimnis der christlichen Religion verraten, nur entrissen dem widerspruchvollen Lug- und Truggewebe der Theologie – dadurch aber freilich ein wahres Sakrilegium begangen. Wenn daher meine Schrift negativ, irreligiös, atheistisch ist, so bedenke man, daß der Atheismus – im Sinne dieser Schrift wenigstens – das Geheimnis der Religion selbst ist, daß die Religion selbst zwar nicht auf der Oberfläche, aber im Grunde, zwar nicht in ihrer Meinung und Einbildung, aber in ihrem Herzen, ihrem wahren Wesen an nichts andres glaubt, als an die Wahrheit und Gottheit des menschlichen Wesens.«22

Sie sehen auch hier eine »Umkehrung«. Nicht der Mensch vergottet Gott (das ist für Feuerbach unsinnig), sondern Gott (die Religion, d. h. der Mensch) vergottet den Menschen. In diesem Sinne ist der »Atheismus das Geheimnis der Religion selbst«, weil es in ihr eigentlich gar nicht um das Göttliche als Göttliches geht.

In der nächsten Stunde werden wir sehen, dass Marx mit seiner Religionskritik noch etwas anderes meint.

Der frühe Marx und die Revolution

Подняться наверх