Читать книгу Erleuchtet? Im Namen des Volkes... - Peter U. Schäfer - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеDie Deutsche Volkspolizei war in der DDR keine zivile Behörde, das gleiche galt für die Einheiten des Ministeriums für Staatssicherheit. Beiden Institutionen stand der Minister und zwar ein Offizier im Generalsrang vor. Die Dienstabläufe und die Unterstellungsverhältnisse waren streng militärisch organisiert. Die absolute Befehlsgewalt lag bei dem jeweiligen Minister. Die Angehörigen der Einrichtungen hatten militärische Dienstgrade, im Unterschied zur Nationalen Volksarmee verwiesen diese Dienstgrade mit den Zusätzen „der Volkspolizei“, „der Kriminalpolizei“ oder „der Staatssicherheit“ auf ihre Zugehörigkeit zu den jeweiligen Organisationen. Zentrale Dienststelle beider Bereiche der Sicherheitsorgane der DDR waren die jeweiligen Ministerien, für die Volkspolizei das Ministerium für Innere Angelegenheiten, für die Staatssicherheit das Ministerium mit gleichem Namen. Entsprechend der zentralistischen Verwaltung der DDR gab es in den Bezirken für die Volkspolizei die Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei und für die Kreise die Volkspolizeikreisämter. Innerhalb der Volkspolizei gab es die Bereiche Schutzpolizei, Bereitschaftspolizei und Kriminalpolizei. Innerhalb der Staatssicherheit wurden die Regionalverwaltungen Bezirksverwaltung und Kreisverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit bezeichnet. Die Bezirksverwaltungen und die Kreisverwaltungen betrieben Aufklärung nur nach innen, die Geheimdienstarbeit im Ausland war der Zentrale des Ministeriums vorbehalten.
Hauptmann der Kriminalpolizei Siegfried Hammer saß am Freitag, den 27.9. vor der Gartenlaube seines Schrebergartens. Er war 29 Jahre alt, Mitglied der SED, verheiratet und hatte zwei Kinder. Der Hauptmann hatte nach dem Abitur sich freiwillig zur Bereitschaftspolizei gemeldet und dort seinen Wehrdienst absolviert. Danach hat er sich bei der Kriminalpolizei beworben und war eingestellt worden. Hier wurde er ausgebildet und als Leutnant der Kriminalpolizei nach der Polizeischule auf Befehl seines Dienstherrn der Branduntersuchungskommission bei der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) zugeteilt. Während seiner Ausbildung bei der Kriminalpolizei wurde er Mitglied der SED. Er wurde zugleich als Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) angeworben und war seit dem Offizier dieses Ministeriums in besonderem Einsatz. Er wurde alsbald zum Hauptmann befördert und mit der kommissarischen Leitung einer Branduntersuchungskommission der BDVP betraut. Diese Stellung hatte er nun zwei Jahren inne und er war als erfolgreicher und energischer Brandermittler bekannt. Hauptmann Hammer hatte beruflich noch viel vor. Im nächsten Jahr war seine Delegierung zur höheren Polizeischule vorgesehen und nach einem erfolgreichen Abschluss würde ihm der Weg zu einem Führungsposten in der Volkspolizei oder anderswo offen stehen. Diese Laufbahnplanung war mit der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit abgestimmt.
Vor der Gartentür seines Kleingartens hielt ein Funkstreifenwagen.
„Genosse Hauptmann, ich soll Sie abholen und zum Einsatzort bringen“, ruft der Fahrzeugführer dem Hauptmann aus dem geöffneten Fahrzeugfenster zu. „Es gibt einen Großbrand in einer Musikinstrumentenbaufabrik in der benachbarten Kreisstadt.“
Hauptmann Hammer steht auf. Er läuft auf den Pkw zu und dieser fährt ab, unmittelbar, nachdem er eingestiegen ist „Was liegt an, Genosse?“ „In der Musikinstrumentenbaufabrik im Nachbarort ist ein Brand ausgebrochen. Der Offizier vom Dienst (OvD) hat angeordnet, dass ich Sie zum Brandort fahre. Leutnant Ehrlich wurde ebenfalls benachrichtigt. Er wird am Bahnübergang vor dem Chemiewerk zusteigen.“ Über das eingebaute Funktelefon wird der Hauptmann über die Lage am Einsatzort informiert. Er erfährt, dass auch der Brandsachverständige der BDVP unterwegs ist.
In der Musikinstrumentenbaufabrik kommt der Hauptmann gemeinsam mit Leutnant Ehrlich gegen 20:30 Uhr an. Kreisstaatsanwalt Schleich ist schon anwesend und hat einen Krisenstab eingerichtet. Nach verschiedenen Telefonaten und Rückrufen bei der Bezirksstaatsanwaltschaft wurde eine Sonderkommission bestimmt, der neben dem Kreisstaatsanwalt Hauptmann Hammer und Leutnant Ehrlich als Ermittler, der Sachverständige der BDVP Dr. Nassau, Oberleutnant Kanzler von der Kreisverwaltung des MfS und der Einsatzleiter der Berufsfeuerwehr angehörten.
Die Kommission trat um 21:00 Uhr erstmalig zusammen. Nach dem Bericht des Einsatzleiters der Feuerwehr war mit einer unmittelbaren Spurensuche am Brandort vor dem nächsten Tag nicht zurechnen. Man könne zum gegenwärtigen Zeitpunkt zur Brandursache noch nichts sagen, Brandstiftung könnte nicht ausgeschlossen werden. Kreisstaatsanwalt Schleich verwies im Falle der Brandstiftung auf einen möglichen Zusammenhang zum bevorstehenden.Jahrestag der Republik, auf die Bedeutung des Unternehmens als Alleinhersteller von Schlagzeugen in der DDR und auf den Umstand, dass der Betrieb ein wichtiges Exportunternehmen der bezirksgeleiteten Industrie sei.
Es wurde beschlossen, Kriminaltechniker der kriminaltechnischen Abteilung (KTA) der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei sofort hinzuzuziehen und mit der Befragung von Betriebsangehörigen zu beginnen. Die Versammelten wollten sich gerade erheben, als der Betriebsdirektor und der Sicherheitsbeauftragte des Unternehmens den Raum betraten.„Genosse, bitte folgen Sie mir, ich glaube, es liegt eine Brandstiftung vor.“ Der Betriebsdirektor ist sichtlich erregt, er wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Ich zeige Ihnen, warum ich dies annehme.“ Alle Anwesenden folgten ihm und dem Sicherheitsbeauftragten über den Hof in die separat stehende Fabrikantenvilla des früheren Eigentümers der Fabrik. Dort befand sich das Büro des Betriebsdirektors. Über eine Außentreppe und durch eine Diele erreichten sie das Vorzimmer des Direktors. Die Türen eines dort befindlichen Kleiderschrankes standen offen. Alle konnten sehen, dass auf dem Innenboden des Schrankes ein Löschblatt abgelegt war. Darauf lag ein Stück Kohlenanzünder der handelsüblichen Sorte mit ölgetränkten Holzspänen. Auf dem Kohlenanzünder stand eine weiße Haushaltkerze, die zwar entzündet, aber kaum abgebrannt und offenbar unmittelbar nach dem Entzünden erloschen war.
„Treten Sie bitte alle zurück und verlassen Sie sofort das Gebäude, hier müssen erst die Genossen der Spurensicherung ihre Untersuchungen vornehmen.“ Hauptmann Hammer klang gereizt. „Wer hat überhaupt zugelassen, dass Sie das Gebäude betreten?“ Der Betriebsdirektor berichtete, dass es der Feuerwehr gegen 21:00 Uhr gelungen war, durch Löschmaßnahmen auszuschließen, dass das Feuer auf das Direktionsgebäude übergreifen konnte. „Die Feuerwehr hat mir danach erlaubt, ins Gebäude zu gehen. Ich schloss die Eingangstür, die Türen zur Diele und zum Vorzimmer auf. In dem offen stehenden Kleiderschrank fand ich dann, was Sie gesehen haben.“ Hauptmann Hammer warf dem Betriebsdirektor einen verärgerten Blick zu. „Mögliche Spuren des Täters könnten durch das Betreten der Räume zerstört oder verändert worden sein.“ Er veranlasste die Räumung, die Absperrung und die sofortige Benachrichtigung der Spurensicherung.
In dem Konferenzraum des Betriebsdirektors des VEB Musikinstrumentenbaus kam am Sonnabend, den 28.September gegen 8:00 Uhr die Sonderkommission zu einer weiteren Abstimmung zusammen. „Genossen, ich bitte um Berichterstattung.“ Der Kreisstaatsanwalt und die übrigen Mitglieder wirkten übernächtigt. Der Brandsachverständige Dr. Nassau beginnt die Erörterungen. „Genossen, die vorläufigen Ermittlungen in der Nacht haben ergeben, dass das Hauptgebäude völlig niedergebrannt ist, das Dach der Produktionshalle ist verbrannt und in die Halle gestürzt. Im Hauptgebäude sind die gesamte Ausstattung und alle Lagerbestände zerstört. In der Produktionshalle sind die Anlagenteile durch die eingestürzte Decke schwer beschädigt. Die Bausubstanz wird noch geprüft, aber nach allen Erfahrungen muss auch hier mit einem Totalverlust gerechnet werden.“ Er unterbricht seine Ausführungen und schaut in die Runde. Dann fährt er fort: „Genossen, die Ursache des Brandes ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine vorsätzliche Brandstiftung. Im Vorzimmer des Betriebsdirektors wurde ein Brandsatz gesichert. Eine erste Überprüfung ergab, dass in das Vorzimmer des Betriebsdirektors niemand gewaltsam eingedrungen ist. Hinweise auf einen Täter konnten bisher nicht gesichert werden, das abschließende Ergebnis der Ermittlungen der Spurensicherung bleibt aber noch abzuwarten. Im Hauptgebäude wurde als Brandausgangspunkt aufgrund der Brandspuren der Raum der Lohnbuchhaltung im 2. Obergeschoss festgestellt. Auch hier sind allerdings noch die genauen Ergebnisse der Spurensicherung abzuwarten.“
Anschließend berichtet Hauptmann Hammer über die ersten Vernehmungen von Betriebsangehörigen. „Das Anwesenheitsbuch des Pförtners wurde sichergestellt. Danach haben die Betriebsangehörigen das Gelände gestern zwischen 16:20 und 17:10 Uhr verlassen. Als letzter Eintrag wurde der Sicherheitsbeauftragte des Betriebes vermerkt. Der Pförtner wurde vernommen. Seine Vernehmung ergab, dass er zwischen 18:30 Uhr und 19:00 Uhr einen Kontrollgang durch das Hauptgebäude und das Direktionsgebäude durchgeführt hat. Normalerweise geht er durch die Geschosse des Hauptgebäudes, durch die Produktionshalle und das Direktionsgebäude. An diesem Abend hat er dies wegen seiner rheumatischen Beschwerden nicht gemacht. Während der vollständige Rundgang etwa eine Stunde dauert, hat er gestern nur die Außentüren aller Gebäude auf ordnungsgemäßen Verschluss kontrolliert. Er war deshalb schon gegen 18:55 Uhr zurück in der Pförtnerloge.“ Auch er deutet durch eine Pause in seinem Vortrag eine ihm wichtig erscheinende erste Feststellung an. „Genossen, nach seiner Aussage hat er die Mitarbeiterin Frau Petra Schöne und ihren Lebensgefährten Johann Klinger gegen 19:00 Uhr auf dem Hof des Betriebes gesehen. Er sah, wie beide offenbar Instrumententeile aus der Richtung des Hauptgebäudes zum Zaun am Flussufer trugen.“ Leutnant Ehrlich ergänzt, dass eine Überprüfung des Zaunes im bezeichneten Bereich ergeben hat, dass dort ein Zaunfeld fehlt. Petra Schöne sei seit einem Jahr Mitarbeiter des Betriebes, sie kannte sich daher aus. Ihr Arbeitsbereich befinde sich in der Materialwirtschaft, der Arbeitsplatz im Erdgeschoss des Gebäudes. Es bestehe der Verdacht des Diebstahls von Instrumententeilen, wenn nicht mehr.“
Man sprach noch über das weitere Vorgehen. Der Kreisstaatsanwalt ordnete ein neuerliches Zusammentreffen der Kommission für den nächsten Tag um 10:00 Uhr an. Zusammen mit Hauptmann Hammer und Leutnant Ehrlich fuhr der Kreisstaatsanwalt danach in die Räume der Staatsanwaltschaft. Von dort telefonierte er mit dem Stellvertreter des Bezirksstaatsanwaltes und berichtete über den bisherigen Stand der Ermittlungen und stimmte die weitere Vorgehensweise ab. Nach dem Gespräch ordnete er für Sonntag, den 29.9. die vorläufige Festnahme von Petra Schöne und Johann Klinger, deren Vernehmung und die Durchsuchung der Wohnung der beiden in der Neuen Straße, des Pkw und einer eventuell vorhandenen Garage des Johann Klinger an. Die Durchsuchung werde er selbst leiten. An der Durchsuchung sollten Genossen der Kriminaltechnik vom Kriminaltechnischen Institut der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei und der Brandsachverständige Dr. Nassau neben den Ermittlern teilnehmen. Es sei durch Kräfte des Volkspolizeikreisamtes zu sichern, dass die Schöne und der Klinger sofort bei Beginn der Durchsuchung festgenommen und zum Volkspolizeikreisamt verbracht werden. Die konkrete Einweisung zur Durchsuchung werde er am nächsten Morgen mit den Teilnehmern der Durchsuchung durchführen. Hauptmann Hammer sicherte die Ausführung der erhaltenen Anweisungen zu.
Am nächsten Morgen trafen sich Hauptmann Hammer, Leutnant Ehrlich, der Brandsachverständige, drei Kriminaltechniker und vier uniformierte Polizisten in einem Konferenzraum des Volkspolizeikreisamtes zusammen. Staatsanwalt Schleich begrüßt die Anwesenden. „Genossen, die bisherigen Ermittlungen der Sonderkommission zur Brandstiftung im VEB Musikinstrumentenbau haben ergeben, dass die Betriebsangehörige Frau Petra Schöne und ihr Lebensgefährte Johann Klinger nach Dienstschluss nochmals das Betriebsgelände betreten und dort sich einige Zeit aufgehalten haben. Eine Berechtigung zum Betreten zu dieser Zeit hatten beide nicht, der Klinger ist nicht einmal Betriebsangehöriger. Es ist möglich, dass beide den Brand gelegt haben. Durch die bisherigen Ermittlungen wurde zweifelsfrei festgestellt, dass es sich bei dem Brand in dem VEB Musikinstrumentenbau um eine vorsätzliche Brandstiftung handelte. Es besteht auch der Verdacht, dass die Brandstiftung ein Anschlag anlässlich des bevorstehenden Jahrestages der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik ist. Bei der jetzt durchzuführenden Durchsuchung der Wohnung und der dazugehörigen Nebenräume der beiden Verdächtigen sind mögliche Beweise festzustellen und zu sichern, die auf eine Täterschaft der beiden hinweisen. Es sollen weiterhin Beweismittel gesucht und gesichert werden, die der Aufklärung der Brandstiftung, ihrer Motive und möglicher Mittäter dienen können. Was für Beweise das sein könnten, vermag ich gegenwärtig nicht näher zu bestimmen. Hier appelliere ich an die Aufmerksamkeit und die Erfahrung der beteiligten Genossen. Ich weise daraufhin, dass in wenigen Tagen der Jahrestag der Republik begangen wird. Es kann somit nicht ausgeschlossen werden, dass die Brandstiftung ein Anschlag aus Anlass dieses Jahrestages der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik war. Deshalb suchen wir auch nach Beweisen dafür, ob es sich bei dem Anschlag um eine einmalige Handlung handelte, oder ob noch mit weiteren Sabotageakten oder weiteren anderen staatsfeindlichen Aktivitäten durch diese Verdächtigen oder möglichen Helfern zu rechnen ist. Die beiden Verdächtigen sind bei unserem Eintreffen sofort festzunehmen und noch vor Beginn der Durchsuchung ins Volkspolizeikreisamt zu überführen. Die Festnahme habe ich angeordnet, eines Haftbefehls bedarf es zunächst nicht. Ob ich einen Haftbefehl beim Kreisgericht beantrage, werde ich zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden.
Wegen der Gefahr der Beseitigung möglicher Beweismittel sehe ich von der vorherigen Einholung eines gerichtlichen Durchsuchungsbeschlusses ab, es ist Gefahr im Verzuge. Die Vernehmung der Petra Schöne und des Johann Klinger werden durch Hauptmann Hammer und Leutnant Ehrlich, falls erforderlich, durch weitere Vernehmer durchgeführt, nachdem die Durchsuchung abgeschlossen und eventuelle Beweise gesichert wurden. Zeugen werden für die Durchsuchung nicht gebraucht, weil ich selbst teilnehmen werde. Genossen, die Durchsuchung beginnt sofort.“
Nachdem keine weiteren Fragen mehr gestellt wurden, begaben sich alle Teilnehmer dieser Einweisung auf dem Hof des Volkspolizeikreisamtes und bestiegen dort zwei mit zivilen Kennzeichen versehene Pkw und einen Kleinbus der Volkspolizei, um zur Wohnung von Petra Schöne und Johann Klinger zu fahren.
In der Wohnung von Johann Klinger und Petra Schöne trifft der Staatsanwalt mit seinem Gefolge gegen 11:15 Uhr ein. Er teilte das Anliegen der Durchsuchung mit und ordnete die vorläufige Festnahme von Petra Schöne und Johann Klinger an. Einen Durchsuchungsbeschluss benötige er nicht, da Gefahr im Verzuge sei, bescheidet er einen zaghaft vorgetragenen Einwand von Johann Klinger. Petra und Johann werden von den erschienenen uniformierten Polizisten Handfesseln angelegt, abgeführt und in das Volkspolizeikreisamt verbracht.
Bei der Durchsuchung werden zwei Notenständer aus Metall, mehrere Spannbeschläge, eine flache Trommel, zwei Trommelständer und drei Sätze Trommelstäbe festgestellt und beschlagnahmt. Im Abstellraum der Wohnung werden noch mehrere ungeöffnete und ein angebrochenes Paket mit Haushaltskerzen und ein angebrochenes Paket mit einem handelsüblichen Kohlenanzünder gefunden und beschlagnahmt. Die Durchsuchung dauerte bis 12:30 Uhr.
In die Büroräume der Staatsanwaltschaft zurückgekehrt, sitzen danach Staatsanwalt Schleich, Hauptmann Hammer und Leutnant Ehrlich zusammen. Sie besprechen das Vorgehen bei der Vernehmung der beiden Festgenommenen. Gegen 15:00 Uhr klingelt das Telefon. „Hier Oberstleutnant Eifert, spreche ich mit dem Genossen Schleich? “, und nach entsprechender Bestätigung : „Der Dienststellenleiter Genosse Generaloberst Hartmann bittet Sie für 16:00 Uhr zu einer Besprechung in die Dienststelle der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit, der Genosse Hauptmann Hammer wird gebeten, ebenfalls anwesend zu sein.“
Kreisstaatsanwalt Schleich und Hauptmann Hammer machen sich auf den Weg zur Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit in die Bezirkshauptstadt. Zuvor wurde Leutnant Ehrlich angewiesen, die Vernehmung von Petra Schöne und Johann Klinger bis zu ihrer Rückkehr zurückzustellen. „Die Verhafteten sind in den Verwahrräumen des Volkspolizeikreisamtes getrennt unterzubringen, jeder Kontakt zwischen ihnen ist zu verhindern“, wies der Kreisstaatsanwalt ihn an.
Am Eingang der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit werden Kreisstaatsanwalt Schleich und Hauptmann Hammer durch einen Wachposten in Empfang genommen und nach Feststellung ihrer Personalien und des Anlasses ihres Besuches in das Arbeitszimmer des Dienststellenleiters geführt. Generaloberst Hartmann begrüßt alle und lässt dann Hauptmann Hammer berichten. „Genossen, wie ich das sehe, haben wir ein oder zwei ernsthaft Verdächtige festgenommen und die Untersuchungen des Brandsachverständigen haben die bisherigen Ermittlungsergebnisse der Kriminaltechniker und der Ermittler bestätigt. Es wurden mehrere Brandsätze festgestellt. Ein Brandherd wurde in der Lohnbuchhaltung gefunden, ein weiterer in der Produktionshalle im Mittelgang nahe der Wässerungsbeckens und ein dritter Brandherd befand sich in dem Vorraum zum Arbeitszimmer des Betriebsdirektors im Erdgeschoß der Direktionsvilla. In der Lohnbuchhaltung gibt es aufgrund des Zerstörungsgrades leider keine weiteren Anhaltspunkte für die Begehungsweise der Brandstiftung. In der Produktionshalle wurden am Boden des Mittelganges neben verkohlten Überresten eines Foliensackes verbrannte Rückstände, die von einem Kohlenanzünder und von Kerzenwachs stammen, gefunden. Der Brandsatz in der Direktionsvilla war noch vollständig erhalten, weil die Kerze unmittelbar nach ihrer Entzündung verlosch, “ berichtet der Hauptmann.
„Genossen, die Vernehmung der Festgenommenen ist vorrangig durchzuführen.“ Mit dieser Anweisung übernimmt der Generaloberst wieder die Gesprächsleitung. „Ich weise auf die zeitliche Nähe des Anschlages zum 7. Oktober hin. Die Genossen der zuständigen Hauptabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin haben von mir im Rahmen der zu erteilenden Information bei besonderen Vorkommnissen anlässlich des bevorstehenden Jahrestages gefordert, dass durch eine zügige Aufklärung des Anschlages und die schnelle Verhaftung des oder der Täter weitere Anschläge zu verhindern sind und den Werktätigen und der Bevölkerung des Territoriums die Schlagkraft der Sicherheitsorgane demonstriert werden muss.“ Er sieht den Kreisstaatsanwalt an. „Genosse Generaloberst, auch wenn Verdachtsmomente vorliegen, ein direkter Hinweis auf die Täterschaft der beiden Festgenommenen ist den bisherigen Ermittlungsergebnissen noch nicht zu entnehmen. Der entdeckte Diebstahl gibt kein Motiv für die Brandstiftung her, gerade das mögliche Motiv der beiden ist bisher völlig unklar. Auch die von mir angeordnete Durchsuchung der Wohnung der Verdächtigen hat zum Motiv und zu möglichen Mittätern keine weiteren Erkenntnisse geliefert“, äußert Kreisstaatsanwalt Schleich vorsichtig.
Nach einem „Warten wir das Ergebnis der Vernehmungen der Verdächtigen ab, dann sehen wir sicher weiter“, erhebt sich der Generaloberst und beendet damit die Unterredung. Dann, schon halb im Aufbruch, „Ach übrigens, ich wünsche, dass alle kriminaltechnischen Untersuchungen und die Begutachtungen von Mitarbeitern unseres Ministeriums überprüft werden. Ermittler meiner Dienststelle sind in die Ermittlungen einzubeziehen. Die bestehende Ermittlungskommission bleibt aber eine Sonderkommission bei der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei. Hauptmann Hammer ist als kommissarischer Leiter der Branduntersuchungskommission der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei auch als Leiter dieser Sonderkommission zu bestätigen. Der Kreisstaatsanwalt bleibt weiter die verantwortliche Ermittlungsbehörde, aber ich denke, der Kreisstaatsanwalt sollte die Sonderkommission nicht unmittelbar leiten. Die operative Leitung der Sonderkommission obliegt Hauptmann Hammer. Diese Maßnahme ist mit dem Leiter der zuständigen Hauptabteilung beim Ministerium für Staatssicherheit und dem 1.Stellvertreter des Bezirksstaatsanwaltes abgestimmt. Die entsprechenden Anweisungen werden Ihnen demnächst detailliert zu gehen. Über den jeweiligen Stand der Ermittlungen ist meinem Stabschef, Genossen Oberstleutnant Eifert durch Hauptmann Hammer regelmäßig und auf Anforderung Bericht zu erstatten. Ich bestimme für diese Angelegenheit meinen Stabschef zum Führungsoffizier des Hauptmanns. Seine Anweisungen sind ohne Verzögerung auszuführen.“
„Beginn der Vernehmung der Beschuldigten Petra Schöne um 19:40 Uhr am Sonntag, den 29.9. in den Räumen des Volkspolizeikreisamtes. Ich beschuldige Sie des gemeinschaftlich begangenen Diebstahles am Volkseigentum. Sie haben am Freitag, den 27.9. gegen 18:30 Uhr gemeinsam mit Ihrem Bekannten Johann Klinger aus den Betriebsräumen des VEB Instrumentenbau Musikinstrumententeile gestohlen. Äußern Sie sich dazu!“, diktiert Hauptmann Hammer die Aufforderung in ein vor ihm auf dem Tisch des Vernehmungsraumes stehendes Mikrofon eines Banddiktiergerätes und beginnt damit zugleich die Vernehmung. Er sitzt Petra Schöne gegenüber und führt das Wort. Leutnant Ehrlich sitzt neben dem Hauptmann. Im Hintergrund befand sich eine Schreibmaschine, an der Frau Fröhlich als Protokollantin saß.
„Muss ich die Frage beantworten?“, fragt Petra den Hauptmann. Barsch erwiderte der Hauptmann, dass er die Fragen hier stellen würde und dass sie durch eine geständige Einlassung ihre Lage wesentlich verbessern könnte.
„Das ist keine Antwort. Ich möchte wissen, weshalb ich seit heute Morgen hier fest gehalten werde. Ich möchte auch wissen, was Sie mit Johann gemacht haben.“ Petra blitzt den Hauptmann an. Ihre Hände waren in Handschellen gefesselt, sie saß auf einem frei im Raum stehenden, am Boden angeschraubten Stuhl. „Machen Sie nur so weiter, Sie werden dann schon sehen, was Sie davon haben. Im Übrigen, Johann Klinger hat bereits ein Geständnis abgelegt. Der Staatsanwalt erwägt je nach Ausgang Ihrer Vernehmung, gegen Sie einen Haftbefehl zu beantragen. Johann Klinger wurde bereits entlassen, nachdem er den Diebstahl eingestanden hat. Ob Sie ebenfalls entlassen werden, hängt von Ihrer heutigen Einlassung ab.“
Petra horcht auf. Hans war frei, sie konnte ebenfalls gehen, wenn sie den Diebstahl zugab? Was hatte sie schon zu verlieren? Die Instrumententeile hatten sie ohnehin gefunden, Hans hatte das auch schon zugegeben. „Ja, der Vorwurf stimmt.“ Um einen schuldbewussten und reumütigen Eindruck bemüht, senkt Petra den Blick und sieht auf den Fußboden vor dem Stuhl. „Gut, dann wollen wir zuerst ihre Angaben zur Person aufnehmen. Sie wurden am 5.6.1949 in Werder bei Potsdam geboren. Sie haben das Abitur im Jahre 1977 in Potsdam abgelegt und erfolgreich ein Hochschulstudium absolviert. Über welche gesellschaftlichen Aktivitäten insbesondere während Ihres Studiums und in der Zeit danach können Sie berichten?“
»Ja, das stimmt. Ich war Mitglied der Freien Deutschen Jugend. Durch die Absolventenlenkungskommission der Universität wurde ich hierher vermittelt. Das wollte ich auch, weil Johann Klinger ebenfalls hierher vermittelt wurde. Wir sind seit mehreren Jahren zusammen, ich bin ledig. In meiner Freizeit singe ich als Sängerin in der Jazzkapelle »Blue Singers«, Johann spielt in der Band die Klarinette. Die Instrumententeile brauchten wir zur Komplettierung des Schlagzeuges, sonst wären unsere Konzerte in der kommenden Woche gefährdet gewesen. Im Handel sind solche Teile nicht zu haben, es gibt sie einfach nicht.“ Petra hebt den Blick. Der Hauptmann wirkt unbeteiligt. Selbstbewusst fährt sie fort, sie habe die Teile im Betrieb kaufen wollen. Aber der Produktionsleiter hat jeden Verkauf an Betriebsangehörige abgelehnt. Wenn wir an alle Mitarbeiter Teile verkaufen würden, die bei uns anfragen, dann haben wir nichts mehr auszuliefern, er müsse an den Exportplan in das nichtsozialistische Ausland denken, denn von diesen Deviseneinnahmen hingen auch die Prämien der Mitarbeiter des Betriebes ab, so lautete seine Antwort.
„Welche Rolle spielt eigentlich der Klinger bei der Entscheidung zur Tat?“, wollte der Hauptmann wissen. „Wir waren uns einig. Wir trafen uns gegen 18:45 Uhr in der Eisdiele am Bahnhof. Ich wusste, dass der Pförtner zwischen 18:30 Uhr und 19:30 Uhr seinen Rundgang durch die Gebäude macht. Diese Zeit wollten wir ausnutzen, um ungesehen wieder zu verschwinden.“
„Wie ist Ihre Beziehung zu Johann Klinger?“
„Das wissen Sie doch bereits. Wir sind seit mehreren Jahren zusammen und bewohnen eine gemeinsame Wohnung. In der letzten Zeit hat Johann mehrfach den Wunsch geäußert, er wolle zurück ins Eichsfeld. Er fühle sich hier nicht wohl und seine Arbeit sei langweilig. Er hat auch gefragt, ob ich mitkommen würde. Ich zögere noch, denn ich bin hier zufrieden und ohne mich würde er wohl nicht gehen. Entschieden ist das noch nicht, aber unsere Beziehung wird an diesem Problem nicht scheitern.“
„Schildern Sie den Tagesablauf am 27.9.“
„Warum?“
„Noch einmal, die Fragen stelle ich“, knurrte der Hauptmann.
„Es gibt da auch kein Geheimnis. Ich war im Außenlager des Betriebes und habe bei der Inventur mitgemacht. Gegen 16:00 Uhr bin ich mit dem Leiter der Materialwirtschaft nach Hause gefahren. Er hat mich gegen 17:00 Uhr im Betrieb abgesetzt. Ich bin dann nach Hause gegangen, habe mich umgezogen und einige Einkäufe fürs Wochenende erledigt. Dann habe ich in der Eisdiele am Bahnhof gewartet, weil ich mit Johann Klinger dort verabredet war. Er kam gegen 18:45 Uhr. Er war für seine Versicherung bei mehreren landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften im Kreis unterwegs gewesen.“
„Sie werden neben dem Diebstahl der Musikinstrumente beschuldigt, gemeinsam mit Johann Klinger die Brandstiftung am Freitag, dem 27.9.gegen 19:00 Uhr in dem Betriebsgelände des VEB Musikinstrumentenbaus begangen zu haben, nehmen Sie auch dazu Stellung“, fordert der Hauptmann seine Gefangene, für sie völlig überraschend auf „So ein Unsinn“, war ihre erste sehr spontane Reaktion. Petra war verblüfft und erschrocken. Sie hatte bisher überhaupt nicht gewusst, dass der Brand in der Fabrik durch eine Brandstiftung verursacht wurde. Die gesamte marode Substanz des Betriebes ließ eine Havarie viel wahrscheinlicher erscheinen. Langsam wurde ihr klar, weshalb die so einen Aufwand betrieben.„Ich hatte doch gar keinen Grund!“, reagierte sie empört.
„Ihr Freund ist katholisch?“ stellte der Hauptmann mit einer Bemerkung, halb Frage fest und wollte offenbar eine Bestätigung von Petra hören. „Was hat das mit der Brandstiftung zu tun?“
„Nochmals, die Fragen stelle ich“, wies der Hauptmann Petra zurecht. Petra registrierte bei dieser Zurechtweisung den mühsam unterdrückten Wutausbruch des Hauptmanns. „Johanns Bekenntnis zur Religion und mein Zusammenleben mit ihm ist doch kein Grund, mich der Brandstiftung zu bezichtigen. Wir waren doch nur 20 Minuten im Betrieb und die gesamte Zeit zusammen.“ „In Ihrer Wohnung wurden neben den gestohlenen Instrumententeilen Kohlenanzünder, Haushaltskerzen und Löschblätter sichergestellt. Es handele sich um die gleichen Gegenstände, die bei der Brandstiftung für die Brandsätze verwendet wurden.“ Petra wurde langsam wütend. „Diese Artikel gibt es in vielen Geschäften zu kaufen. Weil wir Kohlenöfen in der Wohnung haben, brauchen wir auch Kohlenanzünder. Das Wohnhaus hat im Keller keine elektrische Beleuchtung. Zum Kohlenholen aus dem Keller leuchten wir mit den Kerzen. Wenn der Besitz dieser Gegenstände uns bereits zu Brandstiftern macht, dann müssen Sie die halbe Einwohnerschaft dieser Stadt beschuldigen.“
Es ging noch einige Zeit so weiter. Petra bestritt jede Täterschaft entschieden.
„Ich bin mit Ihrer Verhaltensweise nicht einverstanden“, merkte Hauptmann Hammer nach einiger Zeit an. „Wir werden deshalb die Vernehmung jetzt unterbrechen und ich biete Ihnen Gelegenheit, über Ihre Situation nochmals nachzudenken. Ein der Wahrheit entsprechendes Geständnis könnte Ihre Lage und die Position Ihres Freundes ganz entscheidend verbessern. Ich gehe inzwischen zum Staatsanwalt des Kreises und werde dort die Beantragung eines Haftbefehls gegen Sie wegen des Verdachts der Brandstiftung vorschlagen. Danach werden wir die Vernehmung fortsetzen und es wird von deren Ergebnis und Ihrer Aussage abhängen, ob die Haftbefehle beantragt, erlassen und vollzogen werden oder nicht.“ Nach Betätigung eines Klingelknopfes unter dem Schreibtisch des Hauptmanns erscheint eine weibliche Polizeiangehörige und Petra wird mit angelegten Handschellen in einen Verwahrraum abgeführt.
„Ich habe die Vernehmung dann unterbrochen und bin zu Ihnen gekommen“, berichtet Hauptmann Hammer dem Kreisstaatsanwalt über den Stand der Vernehmung der Petra Schöne. „Die Fortsetzung der Vernehmung bringt im Moment nichts. Von ihr ist ein Geständnis jedenfalls zur Zeit nicht zu erwarten. Ich schlage vor, sie unter Auflagen zu entlassen.“ Der Staatsanwalt stimmte zu und beide beschlossen, dass die Vernehmung des Johann Klinger alsbald durchzuführen sei.
Zurück im Kreisamt rief der Hauptmann den Oberstleutnant Eifert an und informiert diesen über den Stand der Ermittlungen und über die Entscheidung des Kreisstaatsanwaltes. Oberstleutnant Eifert stimmte ebenfalls zu, so zu verfahren.
Gegen 8:30 Uhr am 30.9. wird die Tür zu der Zelle, in der Petra Schöne sich befindet, aufgeschlossen und sie wird aufgefordert, zu folgen. Sie wird erneut in das Vernehmungszimmer
vom gestrigen Tage gebracht. Dort wird sie von Hauptmann Hammer erwartet, auch Leutnant Ehrlich ist auch wieder anwesend. „Das Vernehmungsprotokoll Ihrer gestrigen Vernehmung wurde fertig gestellt, unterschreiben Sie.“ Ohne Begrüßung und ohne weitere Einleitung verweist der Hauptmann auf einen Tisch, auf dem mehrere mit Schreibmaschine beschriebene Seiten abgelegt sind. Petra liest aufmerksam den Text und unterschreibt. „Sie können jetzt gehen. Aber Sie erhalten die Auflage, sich bis auf Widerruf ohne meine Genehmigung nicht aus dem Stadtgebiet zu entfernen. Sie werden ohne meine Zustimmung den Wohnsitz und den Arbeitsplatz nicht wechseln. Ihr Personalausweis bleibt einbehalten. Sie haben binnen 24 Stunden einen vorläufigen Personalausweis PM beim Pass- und Meldewesen des Volkspolizeikreisamtes zu beantragen, damit sind Sie bis zur Aufhebung dieser Auflagen vom visafreien Reiseverkehr in das sozialistische Ausland ausgeschlossen. Außerdem haben Sie über den Gegenstand und den Verlauf der Vernehmung und die in diesem Zusammenhang erlangten Kenntnisse Stillschweigen zu bewahren. Verschwinden Sie jetzt, aber denken Sie daran, ich bin mit Ihnen noch nicht fertig.“ Es dauerte noch eine weitere Stunde, bis Petra tatsächlich das Volkspolizeikreisamt verlassen konnte. Ihr wurden die Handschellen abgenommen. Ohne ein Wort zu sagen und ohne einen der Anwesenden auch nur anzusehen, verließ Petra den Raum und das Kreisamt. Es war Montag der 30.9. um 11:30 Uhr.
Petra ging nach Hause. War Hans schon da? Sie rannte fast die Treppe hinauf. Sie klingelte, niemand reagierte. Sie durchsucht ihre Taschen und fand vor Aufregung den Wohnungsschlüssel nicht. Frau Neumann, hoffentlich ist sie zu Hause. Sie war eine Nachbarin, die einen Wohnungsschlüssel hatte, um bei ihrer Abwesenheit gelegentlich nach dem Rechten zu sehen. Petra lief in die untere Etage und klingelte. Frau Neumann öffnete und erschrak. Petra Schöne, immer lebensfroh, fröhlich, gut angezogen stand vor ihr, völlig von der Rolle. Sie sah erschöpft aus, die Haare ungekämmt, die Gesichtshaut stumpf und grau, die Kleidung zerknittert. Selbstverständlich hatte sie die Hausdurchsuchung wahrgenommen. Besonders rücksichtsvoll waren ja die Polizisten nicht vorgegangen.
Sie nahm Petra an den Händen und führte sie in ihre Küche. Dort reichte sie ihr zunächst frisch gebrühten Kaffee und schmierte ihr zwei Brötchen. Petra griff fast gierig nach den Speisen. Sie hatte seit Sonnabend früh 10:00 Uhr nichts zu essen und kaum zu trinken erhalten, jetzt war es Montag am Mittag. Nachdem Petra gegessen und getrunken hatte, erzählte sie der Nachbarin den Verlauf der vergangenen Stunden, es musste einfach raus. Die Nachbarin war eine gute Zuhörerin. Nein, Johann Klinger hatte sie seit der Festnahme nicht gesehen, sie hätte es bestimmt bemerkt. Petra ging mit der Nachbarin in die eigene Wohnung. Frau Neumann heizte den Kohlebadeofen an und 20 Minuten später konnte Petra erst einmal baden Sie war der Nachbarin für die wie selbstverständlich erbrachte Hilfe dankbar.
Nach dem Bad, – was nun? Der Anblick der Wohnung war niederschmetternd. Überall in den Wohnräumen lag der Inhalt aus Schränken und anderen Behältnissen verteilt herum. Kein Möbelstück stand an seinem ursprünglichen Platz. Frau Neumann legt beruhigend eine Hand auf Petras Schulter: „Das bringen wir schon wieder in Ordnung, ich helfe Ihnen dabei.“
Petra war müde. Sie würde sich erst einmal hinlegen, das Erscheinen von Hans würde sie bestimmt bemerken. Die Aufräumaktion konnte warten.