Читать книгу Der Herr des Krieges Teil 4 - Peter Urban - Страница 4
Kapitel 2 Neun endlos lange Sommertage
ОглавлениеNeun endlos lange Tage hörte man hoch in den Bergen in Lesaca nur das Donnern der Geschütze und den fernen Lärm blutiger Zusammenstöße zwischen den Leoparden und den Adlern. Doch Lord Wellington stand mit seiner Armee im Felde und keine präzisen Nachrichten fanden ihren Weg zu den Zurückgebliebenen. Von Zeit zu Zeit drang ein Gerücht an die beunruhigten Ohren von Mary Seward oder John Dunn. Manchmal brachten sie schwerverwundete Leoparden in das große Lazarett, das Sir James McGrigor im Dorf installiert hatte: Es waren die, denen draußen auf den blutigen Schlachtfeldern nicht geholfen werden konnte; die verzweifelten und hoffnungslosen Fälle. Meist waren es nicht einmal Soldaten, die ihre Kameraden zu den Ärzten brachten, sondern Bauern aus den Bergen. Sie wußten nichts um den Verlauf des Ringens zwischen Soult und Englands Feldmarschall. Sie kannten auch nur Gerüchte. Die Verwundeten waren in einem schlimmen Zustand; fiebernd, am Rande des Deliriums, kaum noch bei Sinnen. Sie hatten oft tagelang im Regen und in der Kälte in den Bergen ausgeharrt, bis irgendein Bauer sich ihrer erbarmte. Die meisten, die in Lesaca ankamen, starben Hume, Hale, Freeman und Dr. Lennox unter den Händen weg. Sie starben, wie die Fliegen! Je grauenhafter die Verletzungen waren, um so pessimistischer wurde die Stimmung der Zurückgebliebenen. Einen hatten vier Bergbauern in einer Decke vom Paß von Roncesvalles bis nach Lesaca geschleppt. Zu Fuß und im strömenden Regen hatten sie für die 38 Meilen nur zwei Tage gebraucht, aber der arme Mann hatte schon seit den frühen Stunden des 25. Juli halbtot in einer Lichtung gelegen. Er gehörte zu einem der Hochlandregimenter aus Lowry Coles Division. Sein linker Arm fehlte. Er war ihm genau am Gelenk, oben aus der Schulter herausgerissen worden. Die französische Kugel mußte ihn sehr präzise getroffen haben, denn Sarahs erster Eindruck war, der Soldat sei vielleicht ohne dieses Körperteil zur Welt gekommen. Die Wunde war völlig verdreckt. Nachdem sie mit viel Mühe den Schmutz ausgewaschen hatte, hob sich ihr Magen: Seit sechs Jahren schon versorgte sie die Opfer dieses grauenvollen Krieges, den ihr Land mit Frankreich führte. Sie war sicher gewesen, alles gesehen zu haben, was Kugeln, Bajonette, Splitter und Blankwaffen verursachen konnten. Doch beim Anblick dieser Verletzung wurde ihr speiübel. Innen drin war es lebendig! Fette Maden hatten sich im rohen Fleisch eingenistet. Sie versuchten sich vor ihrer Pinzette zu verstecken und verschwanden immer tiefer im Leib des Patienten. Sarah dankte dem Himmel, daß der Leopard in einem Zustand war, in dem er nicht mehr spürte, was ihm geschah. Er glühte vor Fieber: Seine Augen waren geschlossen. Die Zunge hing ihm seitlich aus dem Mund. Der Kiefer war völlig verkrampft. John Dunn, der Soldat, ihr bewährter Helfer in so vielen schweren Stunden, der alte Kämpfer – er fiel einfach um! Sarah hatte kein Recht darauf, in Ohnmacht zu fallen, oder ihrem Ekel und ihrer Hilflosigkeit nachzugeben und aus dem Gebäude ins Freie wegzulaufen und den Mann seinem Schicksal zu überlassen. Sie würgte den Anfall von Übelkeit hinunter und zog mit zittrigen Fingern eine fette Made aus dem Fleisch, die sie angewidert in einen Eimer schmiß. „Tommy“, flüsterte sie leise Trommler Meadows zu, der mit den Baumwolltupfern und Kompressen neben ihr stand, „schütte John bitte einen Eimer Wasser über den Kopf und hilf dem alten Mann nach draußen an die frische Luft! Und hole Miss Mary. Ich brauche jemanden, der mir zur Hand geht!“
Der Fünfzehnjährige war heilfroh, daß die gute Lady Lennox ihn gehen ließ. Er war kreidebleich. Nur seine Jugend und seine robuste Kondition hatten ihn während der letzten Stunden davor bewahrt, es Sergeant Dunn gleichzutun und auch in Ohnmacht zu fallen.
Der Leopard aus Coles Division war kräftig. Er starb ihr nicht unter den Händen weg: Irgendwie gelang es der Ärztin, alles Ungeziefer aus der Wunde zu entfernen. Gegen den Wundstarrkrampf hatte sie kein Mittel. Gegen eine Infektion oder Wundbrand vorzugehen, dafür war es bereits zu spät. Die Verletzung auszubrennen, wäre das sichere Todesurteil für den Mann gewesen. Es war jetzt fast eine Woche her, daß der Ärmste seinen Arm verloren hatte. Sie wusch alles mit Alkohol aus, stopfte alkoholgetränkten Mull in das riesige Loch, verband, flößte ihrem Patienten eine unvernünftig hohe Dosierung Laudanum durch die verkrampften Kiefer ein und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß man sich seiner erbarmen möge. Dann gab sie Zeichen, den Soldaten vom Tisch zu tragen und rief nach dem nächsten Patienten. Jedesmal, wenn ihr diese Worte entfuhren: „Bringt den Nächsten!“, betete sie, daß es nicht Arthur sein würde oder ihr kleiner Bruder oder Jamie oder Marys Mann ... Mary hatte bessere Nerven als John und der junge Meadows. Sie hatte Tommy aufgetragen, auf Paddy aufzupassen. Ruhig stand sie neben Lady Lennox, reichte ihr die Instrumente, verband Verletzungen, flößte Halbtoten oder Sterbenden eine gnädige Portion Whisky oder starke Drogen ein, fand für den einen oder den anderen, der noch bei Bewußtsein war, ein tröstendes Wort oder ein freundliches Lächeln. Während Sarah sich über den nächsten Leoparden beugte, ging ihr durch den Kopf, daß die Frauen in diesem Krieg eigentlich mutiger und tapferer waren als ihre Männer, die sich draußen auf den Schlachtfeldern gegenseitig totschlugen. Es gehörte nicht viel dazu, einem Mann sein Leben zu nehmen: Ein schneller Schuß, ein kurzer Hieb oder Stich! Aber es bedurfte allen Mutes dieser Welt und jedes Quentchens Glauben, um vor einer sich windenden, grauenvoll verstümmelten Kreatur nicht wegzulaufen ... Sarah hatte das unbestimmte Gefühl, daß man ihr schon bald einen Leoparden auf den Tisch legen würde, vor dem sie weglaufen mußte, weil sie nicht ertragen konnte, ihn krepieren zu sehen ... weil sie ihn so in Erinnerung behalten wollte, wie er vor dem Gemetzel gewesen war. Seitdem sie es bei Talavera nicht fertiggebracht hatte, Wellingtons Verletzung zu versorgen, sondern nach John Hume hatte rufen müssen, fragte sie sich, was sie wohl beim nächsten Mal tun würde.
Die Gerüchte, die in Lesaca umgingen, waren furchterregend: Es hieß, Marschall Soult habe den Iren bei Irurita, am Verdariz-Paß vernichtend geschlagen. Die alliierte Armee lief in völliger Auflösung davon. Eine andere Version war, daß Lowry Cole bei Roncesvalles gefallen sei und seine Knochen, gemeinsam mit denen von 6000 Leoparden in den Bergen verrotteten. Ein Bauer hatte berichtet, daß sie sich in der Ebene vor Pamplona geschlagen hätten: Er wußte nicht, wer den Tag gewonnen hatte, aber man hatte ihm erzählt, das Picton das alliierte Feldheer geführt habe, denn Wellington, Hill und Beresford seien in den Bergen gefallen. Niemand wußte eigentlich, was wirklich geschehen war. Jeder hatte nur von irgendwem, irgend etwas gehört und dann seine eigene Geschichte daraus gesponnen: Lady Lennox fuhr sich mit der blutigen Hand übers Gesicht, so als ob das Blut des Leoparden auf ihrem Tisch die unheimlichen Geschichten verscheuchen konnte. Mary Seward reichte ihr Nadel und Faden: Sie war bleich, unter ihren Augen lagen tiefe Ringe. Schon seit Stunden hatte sie kein Wort mehr gesagt. Sicher dachte sie in diesem Augenblick genausoverzweifelt über Robins Schicksal nach, wie Sarah über das von Arthur und ihrem kleinen Bruder.
Unbemerkt traf ein einsamer Reiter in Lesaca ein. Er führte sein zu Tode erschöpftes Pferd am Zügel. Nur an der Satteldecke des Tieres konnte man überhaupt noch erkennen, das es sich um einen britischen Offizier handeln mußte. Er trug ein total verdrecktes, zerfetztes Hemd am Leib. Die Uniformjacke fehlte. Seine vormals beigen Lederreithosen waren vom rotbraunen Schlamm der Pyrenäen verfärbt. Lord Fitzroy Somerset hatte Sorauren bereits am 29. Juli verlassen. Lord Wellington hatte Marschall Soult vernichtend geschlagen. Dann hatte er seinen Adjutanten auf den Weg geschickt, um Sir Thomas Graham und Teile der Ersten Division aus Positionen hinter Lecumberri und Irurzun an die Front zu geleiten. Als der Ire erkennen mußte, daß sein junger Adjutant nach sechs Tagen äußerster Anstrengung am Rande des Zusammenbruchs angelangt war, hatte er ihn am Vorabend einer weiteren Schlacht nach Hause geschickt. Ein Mann, der nicht mehr klar zu denken vermochte, war nicht nur eine Gefahr für sich selbst. Er wurde zu einer Gefahr für alle anderen!
Somerset stellte sein halbtotes Pferd einfach in den Stall, neben dem Wehrturm. Er sattelte nicht einmal ab. Er sank nur neben dem Braunen ins Stroh und schlief sofort ein. Erst kurz vor sechs Uhr am Abend, Tommy Meadows wollte die zurückgebliebenen Pferde des Hauptquartiers füttern, denn der alte Dunn fühlte sich immer noch elend, fiel auf, daß ein Tier zuviel da war. Der Trommler des 33. Regiments fand den schlafenden Somerset im Stroh. Er hatte Marys kleinen Sohn Patrick dabei, denn seine Mutter war noch bei Lady Lennox im Lazarett. Tommy war schon lange bei den Soldaten: Zuerst schickte er das Kind fort. Vielleicht war Sir Arthurs Adjutant ja verletzt! Der Kleine brauchte schlimme Sachen nicht unbedingt mitanzusehen: „Paddy, lauf schnell zu Onkel John! Lord Somerset ist zurückgekommen!“, bat er den Rotschopf. Als der Bursche aus dem Stall verschwunden war, drehte Meadows den Offizier vorsichtig auf den Rücken. Er sah kein Blut, also war es wohl nur die Anstrengung!
„Sir, ich bin’s, Tommy! Wachen Sie auf! Ich bringe Sie ins Haus, damit Sie sich ausruhen können!“
Somerset rappelte sich mühsam hoch: „Wir haben die Adler geschlagen! Drei Mal haben wir’s ihnen gezeigt!“
„Dem Himmel sei Dank!“, entfuhr es Meadows. Er hatte wie alle anderen unter der Ungewißheit gelitten, und die schrecklichen Gerüchte waren einfach unerträglich. Er half Wellingtons Adjutanten auf die Beine und zurück ins Hauptquartier, wo er ihn Sergeant Dunns Fürsorge anvertraute. Dann rannte er wie ein Wilder durchs Dorf zum Lazarett. Außer den Chirurgen des Medizinischen Stabes gab es keine Offiziere mehr im Ort. Sie waren alle an der Front. Er wollte Sir James McGrigor Bescheid sagen und Lady Sarah und Miss Mary. Ein paar Sorgen weniger würden allen gut tun.
Lord Fitzroy Somersets Eintreffen befreite ganz Lesaca von den schlimmsten Ängsten. Zumindest wußte nun jeder, daß die schrecklichen Gerüchte, die man ihnen zugetragen hatte, falsch waren: Zwei Tage nach der Rückkehr von Wellingtons jüngstem Adjutanten verstummten plötzlich die Kanonen und kein Lärm ferner Kämpfe drang mehr – vom Wind getragen – in die Berge hinauf. Jeder vermutete, daß das letzte große Zusammentreffen zwischen den Leoparden und den Adlern stattgefunden hatte. Wer gewonnen, wer verloren hatte! Es war noch Rätselraten, doch aller Wahrscheinlichkeit war es Englands Feldmarschall und nicht der Herzog von Dalmatien, der die Ebene vor Pamplona gerade als Sieger verließ.
Sie hatten Fitz ins Bett stecken müssen, so zerschlagen und kaputt war der Offizier gewesen. Doch in seinem Enthusiasmus und jugendlichen Überschwang hatte er ihnen zwischen zwei Löffeln heißer Suppe und zwei Bissen Brot geradezu begeistert alles erzählt, was er wußte. Die französischen Verluste im Verlauf der drei ersten Zusammenstöße waren verheerend gewesen.
Als Nächste tauchten Campbell und Don Antonio in Lesaca auf. Sie waren im gleichen erbarmungswürdigen Zustand wie Somerset, doch sie hatten das zehntägige Ringen in den Pyrenäen aus anderen Perspektiven miterlebt: Der Eine war bei Picton gewesen, als der Waliser General Foys überlebende Adler in völliger Auflösung über den Paß von Roncesvalles zurück nach Frankreich getrieben hatte. Der andere hatte bei Sir Lowry Cole gestanden, nachdem die Vierte Divison einen riesigen, französischen Konvoi vom Maya-Paß abgeschnitten und bis zum letzten Mann zerstört hatte. Auch die zweite große Schlacht vor Pamplona, bei Sorauren, war ein überwältigender Sieg für Wellington gewesen! Soult hatte die Grenze nach Spanien am 25. Juli mit mehr als 65.000 Mann überschritten. Zehn Tage später konnte er nur noch 45.000 überlebende Adler nach Hause führen: Wellington und Hill hatten die Division Maucune vollständig zerstört. Dann hatten sie General Clausel und Reille so vernichtend geschlagen, daß beide nur noch panisch wegliefen. Campbells letzte Information über den Iren und Sir Rowland war es, daß sie gemeinsam mit der Sechsten, der Siebten und der Zweiten Division die Adler vor sich her, über Dona Maria, auf den Bidassoa zutrieben. Das war am 1. August gewesen.
Dann kehrte Oberstleutnant Seward mit seinen Kompanien des 33. Regiments nach Lesaca zurück. Sie hatten sich am 2. August bei Echalar gemeinsam mit der Leichten Division, Teilen der Siebten Divison und Byngs Brigade gegen General Reille geschlagen. Wellington war bei ihnen gewesen, er hatte die Franzosen an der rechten Flanke ausmanövriert, ihr Zentrum frontal in den Berg getrieben und zerstört und die Überreste dann über die Grenze vertrieben. Zeitweilig hatten britische Truppen auf französischem Boden gestanden. Gewissenhaft verschwieg Rob vor Lady Sarah, daß Sir Arthur an diesem nebligen Morgen beinahe seinem Schöpfer begegnet wäre, als er alleine zwischen die Scharfschützenschleier des 2. Legère geraten war und nur noch das rasche und beherzte Eingreifen einer halben Kompanie des 33. Regiments dem Oberleoparden die Haut rettete. Leutnant Fitzherbert hatte sich dabei einen kräftigen Schlag mit einem französischen Gewehrkolben eingefangen und ein paar Zähne aufs Schlachtfeld gespuckt, Will Howard humpelte mit den restlichen Kompanien und einem Streifschuß am Oberschenkel auf Lesaca zu. Trotz des furchtbaren Zusammenstoßes auf der Straße nach Sarre und St. Pé beklagte das 33. Regiment lediglich einen verwundeten Offizier: Oberst Dullmore hatte sich bei einem spektakulären Sturz mit seinem Andalusier das Schlüsselbein gebrochen. Er schleppte sich, voll mit grünen und blauen Flecken und laut fluchend, ein paar Stunden nach Robin Seward in sein Quartier. Das Schlüsselbein war eine ungefährliche, aber sehr schmerzhafte Angelegenheit. John Hume regelte alles mittels starker Sanitäter und martialischen Drohgebärden seinem unwilligen Patienten gegenüber. Dann verbannte er den Kommandeur der 33. Infanterie, wie zuvor schon Wellingtons Adjutanten, für eine lange, erholsame Woche in sein Bett.
Am nächsten Morgen quälte sich dann die nächste einsame Gestalt mit einem zu Tode erschöpften Pferd nach Lesaca. Der Fuchshengst hatte eine lange, blutige Schramme am Hals und eine weitere quer über der Brust. Seine Beine waren aufgeschürft. Er lahmte erbärmlich. Seinem Reiter ging es nicht besser, denn er hatte das Tier fast 20 Meilen weit durch unwegsames Gelände führen müssen. Obwohl Lord Wellington wie durch ein Wunder keine Verletzungen davongetragen hatte, konnte er sich nur mit großer Mühe auf den Beinen halten. Die dunkelblaue Feldjacke war völlig zerfetzt und bräunlich verfärbt: In den Bergen war es unvermeidlich, mit dem Pferd immer wieder schwer zu stürzen, wenn man feindlichem Feuer ausweichen mußte wie ein Kaninchen dem Jäger. Arthur hatte in den letzten zehn Tagen sein Quantum an Stürzen hinter sich gebracht. Er hatte nicht geschlafen und kaum gegessen: Er war immer überall gewesen und das fast gleichzeitig und mitten im schlimmsten feindlichen Feuer. Und er war nicht nur körperlich am Ende: Die Schlacht um die Pyrenäen war auf den ersten Blick und für Außenstehende eine verworrene und komplizierte Angelegenheit gewesen, auf den zweiten Blick allerdings hatte es sich um eine sehr logische und sorgfältig durchdachte Unternehmung gehandelt. Die Franzosen flochten ihre großen Strategien, wie feine Paradezaumzeuge aus allerbestem Leder. Man konnte sie gut dazu verwenden, um vor dem Invalidendom eine Truppenrevue abzureiten, und sie waren sehr hübsch anzusehen. Doch wenn ein Riemen brach, wurde plötzlich der ganze Zaum nutzlos. Arthur hatte seine große Strategie zusammengeknüpft wie einen rohen Ochsensaum: Stabile, feste Stricke! Wenn einer der Stricke riß, dann machte man einen großen, häßlichen Knoten und die Sache war repariert und alles lief weiter. Doch es kostete viel Kraft und Findigkeit, den Knoten fest und an der richtigen Stelle zu schlingen. Englands Feldmarschall war geistig vollkommen ausgelaugt. In dem Augenblick, in dem er den letzten Adler grob über die Grenze gejagt und festgestellt hatte, daß Spanien für den Augenblick vom Einfluß des Usurpators freigekämpft war, hatte er mit einem Schlag aufgehört zu denken. Den Weg vom Bidassoa nach Lesaca war er in einem Zustand vollkommener innerer Leere zurückgeritten und gegangen. Er hatte nur noch, wie ein Automat einen Fuß vor den Anderen gesetzt, ohne zu denken, ohne zu empfinden, ohne irgendwelche tieferen Gefühle zu verspüren: Kein Stolz des Siegers, keine Depression über den Tod so vieler guter Männer, keine Zufriedenheit über seine eigene militärische Leistung, keine hilflose Wut auf den Krieg und das Blutvergießen. Er hatte nicht einmal seine körperliche Erschöpfung gespürt, oder seinen Hunger oder die Schmerzen, die seine zerschlagenen Knochen ihm bereiteten. Nachdem er Soult besiegt hatte, kannte seine leere Hülle nur ein Ziel: Sie wollte zurück nach Lesaca! Sie wollte zurück zu Sarah! Er wäre, wenn er es nicht auf zwei Beinen geschafft hätte, sogar auf allen Vieren gekrochen – immer nur vorwärts und Richtung Westen. In einer Art Reflex sattelte er seinen Fuchs ab und verschloß die Stalltüre. Zwar hatte der Offizier sich bei seinen Stürzen nichts gebrochen, aber so gut wie jeden Knochen verstaucht und sein Rücken war eine große, offene und brennende Schürfwunde. Nachdem er sein Ziel erreicht hatte, verwandelte der Automat sich mit einem Mal wieder in einen Menschen: Ihm war vor Hunger schwarz vor Augen. Jede einzelne Faser, jeder Knochen, jeder Muskel bereitete ihm erbärmliche Schmerzen. Seine Knie waren weich wie Butter, seine Augen fielen ihm beim Gehen fast zu. Beim Gedanken an das schreckliche Blutvergießen der letzten zehn Tage liefen ihm eisige Schauer den Rücken hinunter. Wie in einem bösen Traum tauchten vor seinem inneren Auge verstümmelte Leiber, abgerissene Körperteile, schreiende Verletzte, sich gegenseitig totschlagende Soldaten für den Bruchteil einer Sekunde auf, nur um sofort wieder zu verschwinden und dann von neuem aufzutauchen. Irgendwie gelang es ihm noch, vom Stall bis in John Dunns Küche zu stolpern. Dort bat er seinen verschreckten Sergeanten mit letzter Kraft, sich um Kopenhagen zu kümmern. Dann fiel er ihm bewußtlos in die Arme.
John hatte seinen Herrn schon in jedem Zustand der Welt erlebt, aber noch nie war Lord Wellington in Ohnmacht gefallen. Ähnlich wie Trommler Meadows bei Lord Fitzroy Somerset, überprüfte er zuerst sorgfältig, ob sich unter den Fetzen der Feldjacke nicht doch eine üble Sache verbarg. Als er außer unzähligen blauen Flecken, Kratzern, Schrammen und blutigen Schürfwunden nichts Beunruhigendes finden konnte, wuchtete er sich den schweren Körper über die Schulter, schleifte ihn drei Stockwerke höher bis ins Turmzimmer, ließ ihn aufs Bett fallen und humpelte dann zuerst in den Stall, um sich des halbtoten Kopenhagen anzunehmen und schließlich zu Sir James McGrigors Hospital, um einen Arzt zu besorgen. Durch das Ende der Kampfhandlungen war das große Gebäude völlig überfüllt. Nach den hoffnungslosen und verzweifelten Fällen der ersten Tage, tauchten nun Leoparden mit weniger schwerwiegenden Wunden auf, die die Feldscher bereits an der Front provisorisch zusammengeflickt hatten und die nun vernünftig behandelt werden mußten. Mit der Neuigkeit über den Sieg gegen Soult und die Quasi-Vernichtung der französischen Spanienarmee war die deprimierte Stimmung sogar aus dem Hospital verschwunden, obwohl die alliierten Verluste sich über zehn Tage Kampfhandlungen hinweg auf etwas mehr als 7000 Mann beliefen. Im Vergleich zu Marschall Soults Liste war die von Lord Wellington allerdings kurz.
In dem langen, niedrigen Steinbau schien es keine Luft mehr zu geben. Nach den grauenvollen Regenstürmen und Gewittern, die während der Schlachten in den Pyrenäen die Adler und die Leoparden heimgesucht hatten, war der Morgen des 4. August 1813 sommerlich heiß und sonnig. Das hölzerne Eingangstor stand weit offen, um die unangenehmen Gerüche aus dem Lazarett zu vertreiben. Doch damit drängten gleichzeitig Hitze und Fliegenschwärme hinein. Die Sanitäter hatten mit Kampferessig getränkte Schwämme an den Querbalken des Dachgestühls aufgehängt und Büschel aus Lorbeerzweigen, um die Fliegen und Insekten zu vertreiben. Im Gras, hinter dem Gebäude saßen diejenigen Leoparden, deren Verletzungen nicht sonderlich schwerwiegend waren. Manche warteten noch auf einen Arzt oder Feldscher, andere hatte man bereits behandelt. Immer wieder brachten Ochsenkarren Verwundete fort. Man quartierte sie irgendwo in der Umgebung ein, damit sie sich auskurieren konnten. Viele hatten Platz in den großen Lazarettzelten gefunden, die Lord Wellington für Sir James McGrigor während des letzten Winters besorgt hatte. Es ähnelte einer neuen, schneeweißen Stadt am Fuße der Anhöhe, auf der Lesaca selbst sich befand. John Dunn bahnte sich seinen Weg durch ein paar kleine Gruppen bandagierter Leoparden, die im Gras saßen und trotz ihres persönlichen Mißgeschicks mit kräftigem roten Landwein den Sieg über die Adler feierten. Die Küste war nahe, die Männer wurden durch die großen Transportschiffe der britischen Marine versorgt. Es fehlte ihnen an nichts: Verpflegung, Wein und Brandy waren überreich vorhanden.
Der Sergeant fand Lady Lennox und Dr. Hume auf einer kleinen Holzbank in der Sonne unter einem Obstbaum. Jeder hielt eine Tasse Tee in der Hand. Sie schienen sich ein wenig von ihrer anstrengenden Arbeit auszuruhen. Als Sarah Johns gewahr wurde, wurde ihr Gesichtsausdruck plötzlich unruhig und besorgt. Seit Jamie Dullmores Rückkehr waren die letzten Nachrichten, die sie von Wellington hatte, die, daß er immer noch zusammen mit Hill hinter den Franzosen herjagte. Zwei Brigaden der Zweiten Division hatten den Bidassoa nach Frankreich hinein überschritten. Ihr kleiner Bruder, Lord March, war gesund und munter. Sie hatte es von Oberst Fitzgerald erfahren, der eine von Hills Brigaden im Gefecht bei Dona Maria befehligt hatte und dort verwundet worden war. Sie hatte Fitzgerald einen Knochenbruch zusammengeflickt. Viele der Offiziere hatten gebrochene Knochen. Sie waren im schwierigen Gelände der Pyrenäen mit ihren Pferden gestürzt.
Dunn schenkte Dr. Lennox ein warmes Lächeln und nickte ihr aufmunternd zu: „Er ist gerade nach Hause gekommen, Mylady ... zwar in einem erbarmungswürdigen Zustand und total zerschlagen, aber unverletzt!“
Die junge Frau atmete erleichtert auf. Ein großer Stein fiel ihr vom Herzen. Sie hatte inzwischen von den Adjutanten, Sir James Dullmore und vielen verwundeten Offizieren eine genaue Schilderung der Kämpfe der letzten zehn Tage erhalten. Es war eine verwirrende, blutige Sache gewesen. Die Leoparden hatten jeden Quadratinch der Pyrenäen und Navarras fanatisch verteidigt, die Adler ohne Gnade in Stücke geschlagen und wieder nach Frankreich vertrieben.
„Vielleicht kommen Sie aber trotzdem mit und sehen sich unseren General einmal an. Er ist mir einfach ohnmächtig in die Arme gesunken, voller Prellungen, blauer Flecke, Schürfwunden und Gott weiß was ... Und er ist heiß vom Fieber!“
„Geh nur, Sarah! Ich kümmere mich um deine Patienten!“ Dr. Hume nahm Lady Lennox die Teetasse aus der Hand.
Gemeinsam mit Sergeant Dunn stieg die junge Frau in den dritten Stock des Wehrturms hinauf. Der alte Mann schleppte eine große Schüssel mit warmem Wasser. Eine Stunde später hatten sie Wellington mit einiger Mühe überredet, sich von den Reitstiefeln und der zerfetzten Feldjacke zu trennen, den schlimmsten Schmutz der Berge abzuwaschen und sich dann wieder brav und fügsam in sein sauberes, weiches Bett zu begeben und auszuschlafen. Im großen Kessel über dem Kamin von Johns Küche köchelte eine Gemüsesuppe vor sich hin. Das Hauptquartier, das eigentlich immer einem Bienenschwarm glich, war totenstill. Fitz, Campbell und Antonio rührten sich schon seit zwei Tagen nicht aus ihren Zimmern. Jeder hielt sich genüsslich an seiner Bettdecke fest und wartete faul darauf, bis John oder der kleine Meadows mit einem gefüllten Tablett auftauchten. Nach der siegreichen Schlacht in den Pyrenäen war nun die größte Sorge der jungen Herren Offiziere darauf gerichtet, zu schlafen und sich von Sergeant Dunn stopfen zu lassen, wie die Weihnachtsgänse: Gemüsesüppchen, heiße Milch mit Honig, süßer Milchreis mit Äpfeln; alles was ihre völlig aufgebrauchten Kräfte wieder zurückbringen konnte ...
Lady Lennox ließ sich am Küchentisch nieder. John schenkte ihr eine große Tasse heißen Kaffe ein und schöpfte eine Portion leckerer Gemüsesuppe in einen Teller. „Jetzt sind sie alle endlich wieder zuhause, Mylady! Ich hab mir noch nie solche Sorgen um unsere jungen Herren und Sir Arthur gemacht. Früher kamen sie immer gemeinsam zurück, wenn die Schlacht zu Ende war und die Dunkelheit eine Verfolgung des Feindes unmöglich machte. Aber dieses Mal“, nachdenklich sah er die Capitaine-Ferraris-Karte an der Wand an, „es ist eine verwirrende Ecke der Welt! Ein paar von meinen alten Freunden aus den Regimentern und Will Howard haben mir erzählt, was in den letzten zehn Tagen passiert ist. Ich kenne die Version von Lord Somerset, die von Sir Colin, die von Don Antonio und die von Robin ... Ich hab irgendwie gar nichts begriffen!“
Sarah ließ es sich schmecken. Immer wenn die Leoparden nach Blut und Ehre schrien, war sie so vollauf beschäftigt, daß sie sich ihren Magen nicht füllen konnte. Während die Kanonen und der Lärm der Kämpfe in die Berge gedrungen waren, hatte sie das Hospital immer nur verlassen, um drei oder vier Stunden erschöpft auf ihr Bett zu sinken und ein bißchen zu schlafen. Die Gemüsesuppe war ihre erste warme Mahlzeit, seit die Kämpfe am Paß von Roncesvalles den Auftakt zur Schlacht gegen Soult gegeben hatten. Sie schmeckte phantastisch. John hatte dicke Karotten, Kartoffeln, Steckrüben und Lauch hineingeschnitten, am Hühnerfleisch nicht gespart und zu guter Letzt noch sämtliche Kräuter Navarras dazu geworfen. Und dann hatte der alte Mann Brot gebacken! Es war noch warm und ganz frisch. Sehr undamenhaft brach sie es in kleine Stücke und warf es in ihren Teller: „Ich hab inzwischen auch so ziemlich alles gehört und kann mir keinen Reim darauf machen, was die Leoparden und ihr Oberleopard mit unseren französischen Freunden angestellt haben. Warten wir doch einfach ab, welche Version Arthur uns auftischen wird, wenn er aus den Federn kommt. Er sieht aus, als ob die Heilige Inquisition ihn verhört hätte! Er ist völlig überanstrengt. Darum hat er auch Fieber und ich bin mir sicher, er wird in dieser Nacht einen Alptraum um den anderen haben und Schüttelfrost und weiß der Himmel was noch ... Aber in ein paar Tagen legt sich das alles wieder.“
„Sie sollten sich einmal den Hengst ansehen! Der sieht noch schlimmer aus als sein Herr. Er lahmt zum Erbarmen, und vier dicke Beine hat er und keine Eisen mehr. Ich hab ihm kalte Wickel gemacht und ihn mit Salbe vollgeschmiert. Er stinkt, wie ein ganzes Arnikafeld! Aber er hat's friedlich über sich ergehen lassen! Hat nicht einmal nach mir gebissen und getreten wie sonst immer, dieser hellbraune Teufelsbraten! Und jetzt liegt er, brav wie ein Fohlen, mit hängenden Ohren im Stroh und läßt sich von Paddy mit Apfelstücken füttern, während der Kleine ihm die Nase krault ...“ John Dunn hatte die prächtigste Laune der Welt. Sie waren alle gesund und unversehrt zu ihm nach Hause zurückgekommen. Seine Jungs und Sir Arthur lagen wohlbehütet in ihren sauberen, weichen Betten, ließen sich von ihm umsorgen und bemuttern und aßen brav, was er ihnen auf die Teller häufte. Er würde heute nacht zum ersten Mal seit zehn Tagen wieder ruhig schlafen können. Der Himmel hatte seine endlosen Gebete erhört. Vielleicht hatte es ja genützt, daß er jeden Tag in die kleine Kirche von Lesaca gegangen war und vor der Statue der Mutter Gottes eine Kerze für sie angezündet hatte. John beschloß, ihr morgen einen Strauß Feldblumen zu bringen und ihr für diese vier Leben zu danken, die ihm so viel bedeuteten. Und natürlich würde er nicht vergessen, ihr dafür zu danken, daß sie Marys Mann beschützt hatte und den jungen Oberst Dullmore und seinen alten Freund Will Howard und all die anderen ... Früher, als er selbst noch Soldat gewesen war, da hatte er nie Angst gehabt, dem Feind entgegenzutreten. Die Aussicht, verwundet zu werden, oder sogar zu fallen hatte ihm keine schlaflosen Nächte bereitet. Er hatte immer nur vor der Schlacht seinen Rosenkranz gebetet und seine Seele dem Herrn anvertraut. Und als der Feldscher ihm in Indien, bei Argaum, das Bein abgeschnitten hatte, hatte er sich nicht beklagt oder geschrien. Er hatte es ruhig hingenommen: Soldatenschicksal! Gottgewolltes Schicksal! Erst seit seinem Abschied aus der Armee war er ängstlich geworden. Sir Arthur zog in den Krieg, ohne sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob er seinem Schöpfer begegnen würde oder nicht. Sir Arthur hatte mit Gott nicht viel im Sinn! Als sie das erste Mal nach Portugal gefahren waren, um sich mit den Adlern zu schlagen, da hatte sein General ihn zur Seite genommen und ihm gesagt: „Wenn das Schicksal es nicht gut mit mir meint, mein Freund ... Es gibt da ein Papier bei meinem Bruder Henry ... Seien Sie unbesorgt ... Sie haben Ihr kleines Haus in Kildare und auch ansonsten wird es Ihnen an nichts fehlen ... Die Unterlagen sind rechtskräftig. Lady Wellesley hat keine Handhabe gegen meine Entscheidung!“ Doch John zitterte trotzdem wie Espenlaub, wenn die Trompeten den Angriff bliesen, und immer, wenn der Ire auf dem Schlachtfeld stand, flüchtete der alte Mann sich zu seiner Bibel. Seine Rente, seine materielle Absicherung, all das wovon sein General mit seinem vernünftigen, rationellen Geist so ernsthaft gesprochen hatte, es kümmerte ihn wenig. Er war genügsam. Er war ehrlich gewesen und er hatte für seine alten Tage ein bißchen Geld zur Seite gelegt. Sein Alptraum war es, daß sie eines Abends zu ihm kommen würden, um ihm mitzuteilen, Sir Arthur sei für König und Vaterland gefallen ... Er hatte seine eigenen Söhne und seine Frau vor langen, langen Jahren begraben müssen. Das hatte ihm damals das Herz gebrochen. Doch er war noch jung genug gewesen, um seinen Weg im Leben weiterzugehen. Heute war er ein alter Mann und sein Herz hing genau so sehr an Lord Wellington, wie es einst in glücklicheren Tagen an seinen drei Jungen und seiner Kathleen gehangen hatte. Er spürte, daß er es nicht überleben würde, wenn er seinen General begraben mußte.
Vier Tage nach Lord Wellingtons Rückkehr fing das Hauptquartier wieder an, sich ein wenig zu regen: Somerset machte Küche und Kochtopf unsicher. Der jüngste Sohn des Herzogs von Beaufort war inzwischen 24 Jahre alt. Und trotzdem mußte John Dunn die Marmeladentöpfe vor ihm retten, genau wie damals, vor langer, langer Zeit, als sie zum ersten Mal in Portugal gelandet waren und Fitz nicht vielmehr gewesen war, als ein verängstigtes Kind in einer roten Uniform. Campbell erledigte den seit zwei Wochen vernachlässigten Schriftverkehr mit Whitehall und dem Kriegsministerium. Und wenn er nicht nach London schrieb, dann schrieb er an seine Frau. Als sie Freneida verlassen hatten, um gegen die Adler zu ziehen, hatte er Lady Campbell nach Coimbra schicken müssen. Sie konnte ihm nicht folgen, wie sie es so viele Jahre getan hatte. Sie erwartete ihr erstes Kind. Er hatte sie der Obhut von Don Antonios Vater anvertraut. Jeden Tag rechnete er mit einer freudigen Nachricht aus der Quinta dos Lagrimas. Wenn er nicht arbeitete oder an Lady Campbell schrieb, saß er im Garten und grübelte darüber nach, welchen Namen man dem kleinen Neuankömmling geben könnte. Nur Lord Wellington wollte und wollte nicht auftauchen. Im Verlauf von sechs langen Jahren war er immer der erste gewesen, der sich von den unmenschlichen Anstrengungen des Krieges erholt hatte. Selbst nach Talavera und seiner schlimmen Verwundung hatte er sich nur geschüttelt wie ein nasser Hund ... und weitergemacht, als ob nichts geschehen wäre. Doch dieses Mal war es anders: Er hütete das Bett. Er gestattete Sergeant Dunn, ihn zu bemuttern wie ein kleines Kind, ohne sich darüber zu beschweren, wie im letzten Winter in Freneida. John hatte sogar das Gefühl, daß sein General es genoß. Dankbar akzeptierte er Kaffee und Kuchen und ließ sich auf stundenlanges Plaudern ein, ohne je Whitehall, den Krieg, die Adler oder gar seine Pflichten zu erwähnen. Immer wenn Dr. Lennox auftauchte, beklagte er sich ausgiebig über irgendwelche kleine Ziepen und Stechen und bemühte sich redlich darum, den klugen Doktor so lange wie möglich zu beschäftigen und in seinem Zimmer zu behalten. Und jedesmal, wenn Sarah sich wieder auf den Weg machen wollte, um sich um ihre anderen Patienten zu kümmern, fühlte er sich plötzlich so schlecht, daß sie ihm ein Kissen in den Rücken stopfen mußte und ihm stundenlang die Hand hielt. John lächelte leise in sich hinein. Sechs Jahre Krieg, ohne Unterbrechung und eine Schlacht, die zehn Tage gedauert hatte, die Angst davor, einen dummen oder unverzeihlichen Fehler zu machen, die Ungewißheit über das Blutopfer, das ein Sieg gegen die Adler ihm abverlangen würde, die Schrecken des Schlachtfeldes, das Grauen, das Blut, die unmenschliche körperliche Anstrengung, die schlaflosen Nächte und die Einsamkeit des Feldherrn ... Er stellte das Tablett mit Kaffee auf den Arbeitstisch in Sir Arthurs Turmzimmer. Zuerst füllte er die Tassen auf einer kleinen Holzkiste, dann zog er sich einen Stuhl neben das Bett seines Herrn und den von Lady Lennox. In 20 langen Jahren hatte er es nicht oft erlebt, daß der Ire freiwillig und freimütig über ein Treffen auf dem Schlachtfeld gesprochen hatte. Entweder hatte er alles einfach in sich hineingefressen, verdrängt und gute Miene zum bösen Spiel gemacht, oder er hatte emotionslos eine Art Litanei des Schreckens heruntergebetet. Manchmal hatte er John dabei den Eindruck eines Geldverleihers vermittelt, der eine Bitte um Kredit ablehnt, oft aber war es so ähnlich verlaufen, wie bei einem Buchhalter, der einem Handelsherren die Bilanz des Geschäftsjahres verließt: Kalte, nackte, kommentarlose Fakten! Und im Anschluß daran meist tagelanges, verbohrtes Schweigen, verschlossene Türen, tiefste Melancholie und – Menschenfeindlichkeit. Möglicherweise hatte nur Kopenhagen, dieser hellbraune Teufel, je erfahren, was Lord Wellington wirklich dachte und empfand. Obwohl er nach außen hin so unzerstörbar wirkte, war da doch diese Verletzlichkeit!
Lady Sarah hatte ihr Hand auf die Seine gelegt und nickte ihm aufmunternd zu: „Und ... erzähl weiter, mein Lieber!“ Die beiden mußten schon lange so zusammensitzen, denn Wellington war bereits in der Ebene vor Pamplona angekommen. Es hatte nichts von seinem üblichen Stil eines geschäftsmäßigen Buchhalters. Es war eine Geschichte voller Emotionen.“... und, ich weiß nicht, Cole hat irgendwann Angst vor der eigenen Courage bekommen und er hat mir meinen alten Tom angesteckt. Stell dir das vor, Kleines! Mein Picton läuft vor den Franzosen weg! Die Adler waren davon genausoüberrascht, wie diese beiden Helden selbst. Zuerst einmal haben die Frösche dann ihre Flanke nach rechts ausgedehnt und versucht, uns zu umgehen. Wäre auch kein schwieriges Unterfangen gewesen ... Cole rennt, Picton rennt und zwischen Pamplona und dem Rest der Armee haben wir ein Riesenloch. Als einer von Sir Galbraiths feinen, jungen Herren – ausnahmsweise völlig verdreckt und durchgeschwitzt, wie ein Bergarbeiter aus Wales – bei mir aufkreuzt, ums mir zu gestehen, da hatte ich natürlich Lust, sowohl Picton als auch Cole die Köpfe abzureißen. Wenn ich neben ihnen auf dem Schlachtfeld stehe, sind sie mutig wie die Löwen. Aber – gütiger Himmel – wenn sie alleine gelassen werden und ein bißchen nachdenken sollen, dann benehmen sie sich wie die kleinen Kinder. Coles Adjutant wußte nicht so richtig, wo sein Chef im Nebel zu finden war, also hatte ich noch die Sorge, meine eigenen Leoparden zu suchen!“ Er grinste Sarah und John ein wenig verlegen an. „Genau in diesem Augenblick nämlich, war ein Rückzug eine Katastrophe für uns, weil er den Adlern die Straße nach Pamplona aufmachte, wie ein Scheunentor. Soult mußte nur noch hindurchlaufen. Dem alten Fuchs standen – mit Müh und Not und in einem Verhältnis eins zu drei – ein paar verlorene Leoparden gegenüber. Und die Kommunikationslinien mit Olague und dem Rest des Feldheeres hätte er uns abgeschnitten, wenn ... Kurz und gut, meine beiden Helden sind gerannt wie die Kaninchen und wenn die Adler es gemerkt hätten, hätten sie mich festgenagelt und Stück für Stück genüsslich auseinandergenommen. Eine sehr bescheidene Situation! Ich konnte eigentlich nur noch mit Fitz zusammen nach Süden hetzen und versuchen, das große Loch mit irgend etwas anderem zu stopfen und wieder Hand an meine beiden verängstigten Helden zu legen. Als wir das Nordende dieses Dorfes – Sorauren – erreicht hatten, konnte ich schon ganz deutlich sehen, wie immer mehr blaue Röcke sich auf den Hügeln sammelten. Gütiger Himmel, es waren wirklich verteufelt viele und wir beide trotten einsam und verlassen durch die Gegend und wissen nicht, wo wir den nächsten alliierten Soldaten auftreiben. Es waren nur ein paar verlassene rote Tupfen in einem grünen Meer zu sehen. Natürlich hat mein französischer Freund schnell spitz bekommen, wer da so einsam durch die Gegend trödelt. Eine Kavalleriepatrouille wurde in Bewegung gesetzt und kam einen der Hügel hinunter, direkt auf uns zu. Trotzdem blieb mir nicht viel übrig, außer einen vernünftigen, neuen Befehl auszustellen. Also hab ich mich auf die Brücke gesetzt und geschrieben und Fitz hat durchs Teleskop die Adler beobachtet. Die Sechste und die Siebte Division mußten schnell nach Lizaso verlegt werden, um dort auf weitere Befehle zu warten – wie es sich entwickelte. Damit waren Dalhousie und Pakenham erst einmal außer Gefahr. Und sie konnten Sorauren trotzdem mittels eines kleinen Umwegs erreichen. Und wenn alles gutgehen sollte, dann waren sie an der Hand, um den Adlern wüst in die Flanke zu fallen. Und wenn alles schiefging, konnten sie immer noch Coles und Pictons Rückzug sichern ...“
„Du bist mit Fitz einfach auf der Brücke herumgestanden, obwohl Soult dir eine Kavalleriepatrouille auf den Hals hetzt? War das nicht etwas gewagt?“ Sarah konnte sich einfach nicht vorstellen, wie ein vernünftiger Mensch ganz bewußt solche Risiken einging. Es kam ihr vor, wie das berühmte Kind, das seine Hand auf die heiße Herdplatte legt, obwohl seine Mutter ihm schon hundert Mal erklärt hat, es würde weh tun.
„Es ging nicht anders. Ich wußte nur in Ungefähr, wo Teile von Coles Division sich herumtrieben. Und mit diesem Häufchen Leoparden mußte ich mir Schliche ausdenken, um Soult so zu verschüchtern, daß er vorerst von einem Angriff abstand nimmt. Während der Marschall zögert, haben Dalhousie und Pakenham Zeit, zu marschieren und Picton natürlich auch. Na ja, am Coa hat es unseren Herzog von Dalmatien so beeindruckt, eine feine rote Linie auf einem Hügel stehen zu sehen, daß er abgerückt ist. Ich dachte eben, es würde wieder klappen! Aber Cole ganz alleine wäre noch einmal davongelaufen. Genau als ich den letzten Buchstaben aufs Papier gebracht hatte, rief Fitz mir zu, daß es an der Zeit war, sich aus dem Staub zu machen. Er hat sich den Befehl für die Sechste und die Siebte geschnappt und ist wieder nach Norden davongeritten wie der Teufel, und ich konnte gerade noch in einer der kleinen Gassen verschwinden, als die französische Patrouille auch schon auf der Brücke bei Lairasoana auftauchte. Gerade, als ich das Dorf hinter mir lasse, erscheint vor mir, auf dem Hügel entgegen dem der Franzosen eine rot- und grauberockte Flanke. In diesem Augenblick hätte ich fast wieder zum christlichen Glauben zurückgefunden ... Die Jungs hatten sich verlaufen, aber sie waren ein Geschenk des Himmels ... und entlang eines verschlungenen Maultierpfades tauchen plötzlich Portugiesen auf! Natürlich konnte Soult sie genausogut sehen wie ich. Die Leoparden waren in Schußweite seiner Kanonen, aber außerhalb der Reichweite seiner Musketen – zumindest so lange, wie diese blauen Nervensägen hinter mir ihren Abstand beibehielten.“ Der General grinste wieder verlegen. „Ich sag Euch, es ist ein ganz bescheidenes Gefühl, mitten über eine Ebene zu reiten und zu wissen, daß sich keine 800 Yards hinter dir 25 französische Dragoner mit gezogenen Schwertern befinden. Zum Glück haben meine Jungs, oben auf dem Hügel es gemerkt und angefangen, wilde Drohgebärde zu zeigen und mit dem Säbel zu rasseln. Im ersten Moment haben sie nicht so ganz gewußt, was da auf sie zukommt ... Ein blauer Waffenrock vorne, 25 blaue Waffenröcke etwas weiter hinten ... Hätte ja sein können, daß ein lebensmüder französischer Offizier auf der Suche nach Ruhm und dem Heldentod alleine versucht, eine alliierte Stellung anzugreifen ...“ Ein paar hundert Yards näher an den Stellungen hatten seine Jungs natürlich erkannt, wer auf sie zuritt. ‚Douro! Douro!’ hatten die Portugiesen angefangen zu jubeln. Die Spanier hatten sich angeschlossen ‚Viva el Velinton! Viva la Nacíon!’, und dann hatte er einen seiner eigenen verdammten Leoparden schreien gehört ‚By Jasus, it’s Atty, der langnasige Hundesohn, der die Frösche in den Hintern tritt!’, und obwohl er es immer noch nicht so ganz mochte, wenn sie ihm zujubelten und meist eine versteinerte Miene dabei machte, hatte er dieses Mal nicht anders gekonnt: Er hatte lachen müssen. Die Komödie war schon recht weit fortgeschritten gewesen und er hatte spielerisch seinen Hengst steigen lassen, den Zweispitz vor ihnen gezogen und sie begrüßt. Eigentlich war ihm nie bewußt gewesen, daß seine Soldaten ihm ein anderes Gefühl als Gehorsam, oder Respekt entgegenbrachten. Die kleine Szene auf dem Hügel hatte ihn zum ersten Mal verstehen lassen, daß sie echte Zuneigung für ihn empfanden und Gottvertrauen hatten. Er hatte sie angelacht und ihnen spöttisch zugerufen: „Hört auf zu schreien und zu jubeln, meine Kinder! Laßt uns zuerst die Frösche gemeinsam aus diesem gottverdammten Land werfen!“ Es war die längste Ansprache, die er seinen Soldaten je gehalten hatte. Sie hatte nicht den gewünschten Erfolg. Die Leoparden schrien noch lauter als zuvor und Mützen flogen in die Luft und Regimentsfahnen wurden geschwenkt. Die Adler, auf dem Hügel, auf der anderen Seite waren plötzlich davon überzeugt, daß Wellington seine Streitmacht bereits hatte aufmarschieren lassen: Eine feine, rote Linie oben auf dem Kamm und – eine böse Überraschung auf den Hinterhängen. Soult war wieder einmal eingeschüchtert. Für diesen 27. Juli nahm er Abstand davon, einen scheinbar überlegenen Feind anzugreifen. Sarah schüttelte den Kopf und lachte laut. Englands Feldmarschall nahm ihre kleine Hand ein bißchen fester in die seine und erzählte weiter. Die junge Frau hatte schon seit ein paar Tagen begriffen, daß ihr ‚Lieber Arthur’ ein hinterlistiger Hypochonder war, der seine Wehwehchen und Unpäßlichkeiten nur erfand, um sie bei sich zu behalten. Doch sie ließ ihn gutmütig gewähren und spielte ihm den besorgten Arzt vor. Ihre rechte Hand presste die seine ganz fest. Die Linke strich im zärtlich übers Haar und eigentlich waren sie beide glücklich, daß sie eine so feine Ausrede gefunden hatten, um den ganzen langen Tag miteinander zu verbringen. Sergeant Dunn schmunzelte in seinen Bart. Seitdem Sir Arthur spürte, daß dieser elende Krieg fast vorbei war, seitdem er angefangen hatte, wirklich zu glauben, daß sie nur noch einen kurzen Schritt von einem langen Frieden entfernt waren, seitdem hatte er sich verändert. In seinen Augen konnte man plötzlich etwas lesen, was der alte Mann 20 Jahre vermißt hatte: Hoffnung! Er stand auf und verabschiedete sich. Sollten die beiden miteinander alleine sein! Sie schienen so glücklich und unbefangen: Wie zwei Kinder, die einen Streich ausgeheckt hatten und nicht dabei ertappt worden waren ...