Читать книгу In Bereitschaft - Peter Vinzens - Страница 4
In Bereitschaft 1:
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… und draußen sich die Situation plötzlich ändern würde. Es könnte so gegen zwei Uhr mittags sein. Der Park ist menschenleer. Die ganz Kleinen sollen Mittagsschlaf halten und die Größeren stillen an den Wohnzimmertischen noch ihren Hunger, da geschieht es. Ein roter Sportwagen, der eigentlich gelb hätte sein müssen, flach wie eine Flunder, kommt vom Weg ab, qualmend der Motor, und kracht gegen einen der stabilen Bäume. Perry Slot überlegt welcher Verlust mehr zu bedauern sei: Der Baum oder das Auto. In diesem Moment explodiert der Motor. Perry Slot wundert sich etwas, denn er hatte noch nie gehört, dass Motoren bei Unfällen explodieren. Nur im Kino hatte er das gesehen, da aber explodieren Autos bei allen möglichen Gelegenheiten. Fasziniert sieht er aus dem Fenster. So etwas hat er noch nie gesehen, erst recht nicht in seinem Dorf, in seiner Straße, vor seinem Haus. Qualm und Flammen schlagen aus der Motorhaube. Draußen schreien plötzlich Menschen. Irgendeiner kommt gerannt, in der Hand einen winzigen Feuerlöscher und versucht zu löschen indem er auf die Motorhaube spritzt. Perry Slot überlegt schon hinauszurennen und dem Löscher zuzurufen, dass von unten gespritzt werden muss. Da aber ist das Teil schon leer und versagt seinen Dienst. Vor irgendwoher zerrt jemand einen Gartenschlauch heran. Der aber ist zu kurz und das Wasser plätschert knapp vor dem Brand auf den Boden. Eine faszinierende Vorstellung.
Dann, kurz hintereinander, zwei Explosionen, kurz wie Schüsse, bei denen sich hinterher herausstellte, dass es die Reifen waren, die platzten. Immer mehr Menschen kamen hinzu. Mütter zerrten ihre neugierigen Kinder weg, Väter, viele waren es um diese Uhrzeit nicht, eilten herbei und brüllten sich Ratschläge zu. Alles wäre völlig vergebens gewesen, wenn nicht ein vorbeikommender LKW-Fahrer gemütlich von seinem Bock herabgestiegen wäre, überlegt den großen Feuerlöscher vom Fahrzeug genommen hätte und – mit großer Ruhe und Überlegung – gekonnt den Brand von unten und durch die Lüftungsschlitze gelöscht hätte. Ein herrliches Schauspiel. Perfekte Dramaturgie. Ein kurzer Prolog, Einführung des Problems, Steigerung der Spannung, Katharsis, Höhepunkt der Spannung. Was noch fehlte war die Auflösung.
Vor Ferne kamen nun auch Martinshörner näher. Feuerwehr zuerst, dann die Polizei. Die Feuerwehrleute badeten zur Sicherheit das gesamte Fahrzeug in Schaum und die Polizei scheuchte die Leute weg. Der LKW-Fahrer notierte die Nummer des Unfallwagens, schließlich musste irgendwer die Füllung des Feuerlöschers bezahlen, nickte den Polizisten freundlich zu, klemmte das Löschgerät wieder ein und fuhr weg. Das also war die Geschichte am frühen Nachmittag, direkt vor seinem Fenster, ähnlich einem Katastrophenfilm auf einem überdimensionalen Fernseher oder einer mittelgroßen Leinwand.
Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu, draußen wollte aber die Unruhe nicht aufhören. Zuerst kamen zivile Autos mit zivilen Menschen, dann kamen Männer in weißen Schutzanzügen und schließlich ein silberfarbener Kastenwagen mit dunkel gekleideten Männern, die eine Blechwanne aus dem Fahrzeug holten. Feuerwehrmänner hielten große Decken hoch und verhinderten neugierige Blicke. Perry Slot konnte sich ausmalen, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Es hatte wohl einen, maximal zwei Tote gegeben. Mehr Passagiere passten in die Flunder nicht hinein. „… und mein Protagonist hat zigtausende Menschen auf dem Gewissen!“ Er schämte sich fast. „… und ich mache mir Gedanken bei einem Unfall.“
Gerade als er sich wieder seiner Arbeit zuwenden wollte klingelte es an der Haustür. Durch die Mattglasscheibe konnte er sehen, dass zwei Polizisten vor der Türe standen. Slot sah sich um und sah das heillose Durcheinander in seinem Wohnzimmer. Auf die Schnelle konnte er das Problem jetzt aber nicht lösen. Deshalb holte er tief Luft und öffnete, mit einem etwas schlechten Gewissen, die Türe.
„Guten Abend Herr Slot. Wir kommen wegen des Unfalls direkt vor Ihrem Haus. Wir versuchen herauszubekommen, was passiert ist. Können Sie uns sagen, was Sie gehört oder gesehen haben?“
„Kommen Sie doch rein, es ist zwar etwas unaufgeräumt, aber das wird Ihnen hoffentlich nichts ausmachen.“ Perry Slot führte die Frau und den Mann ins Wohnzimmer.
„Also ich war in meinem Arbeitszimmer, als der Wagen kam. Sein Motor hat gequalmt und dann ist er gegen den Baum gefahren. So furchtbar schnell war er aber nicht gewesen. Ich verstehe nicht, dass jemand umgekommen ist. Er war recht langsam. Und dann ist der Motor explodiert. Und dann hat es noch zweimal geknallt. Und dann war Ruhe. Das Auto hat gebrannt und einige Leute haben versucht zu löschen. Das hat aber nicht geklappt. Bis der LKW-Fahrer kam und gelöscht hat. Und dann kam ja auch schnell die Feuerwehr. Aber dass jemand gestorben ist, bei dem Aufprall, kann ich gar nicht glauben. Er war doch gar nicht schnell!“
„Wie schnell?“
„Ich glaube, man hätte mitrennen können. Für ein Auto nicht schnell.“
„Was glauben Sie, wie lange hat es gedauert, bis der Motor explodiert ist. Vom Aufprall am Baum bis zur Explosion?“ Die junge Polizistin wollte es genau wissen.
„Keine Ahnung. Nicht lange. Vielleicht zehn Sekunden. Ich habe nicht darauf geachtet.“
Und dann überlegte er sich, dass er doch ziemlich unhöflich war. Sie standen immer noch im Wohnzimmer herum und etwas zu trinken hatte er den Leuten auch nicht angeboten.
„Wollen Sie sich nicht setzen? Möchten Sie was trinken?“
„Nein Danke. Wir würden nur kurz in Ihr Arbeitszimmer schauen um zu sehen, wie der Überblick von dort aus ist.“
„Bitte, kommen Sie mit.“
Er führte sie in seine Schreibstube, die Beamten begaben sich hinter den Schreibtisch, blickten im Stehen und im Sitzen durch die Scheibe auf das Geschehen dort draußen.
„Haben Sie gesessen oder gestanden?“
„Ich glaube, ich habe gesessen. Und dann bin ich wohl aufgestanden.“
Als sie hinausgingen bekam er noch mitgeteilt, dass möglicherweise noch jemand von der Kripo käme. Später vielleicht. Oder in den nächsten Tagen.
Zwei Tage später kam dann tatsächlich einer. Eigentlich waren es zwei. Aber der Zweite sagte nichts, machte nichts und war einfach nur da. „Kommissar Keller, mein Kollege Wagner. Ich hätte Sie gerne gesprochen.“
Keller nahm nur kurz das Arbeitszimmer zur Kenntnis, griff aber beim angebotenen Kaffee zu und lehnte auch die Kekse nicht ab. Er setzte sich einfach im Wohnzimmer in den Sessel, das Fenster im Rücken, und Perry Slot blieb nichts anderes übrig, als auf dem Sofa Platz zu nehmen, ihm gegenüber, mit Blick in den Garten draußen. Wagner, der Schweiger, strich durch den Raum und musterte, scheinbar mit großer Aufmerksamkeit, den Fernseher, das große Bücherregal, die Bilder und die Tapete. Besonders letztere schien ihn außerordentlich zu interessieren. Perry Slot kam sich ein bisschen vergackeiert vor. Das aber war den übrigen Anwesenden egal. Sie sahen sich jetzt vielmehr genauer im Zimmer um, denn das gehörte zu ihrer Methode, sich von Menschen ein Bild zu machen.
Slot war Zigarettenraucher, das zeigten die verschiedenen überquellenden Aschenbecker auf allem möglichen Tischen. In einer Ecke neben dem Sofa hatte sich eine beträchtliche Sammlung verschiedenster Flaschen angehäuft, bei denen zu erkennen war, dass es sich um Alkoholika handelte. Auf dem Esstisch in der Ecke befand sich noch ein Teller vom Frühstück und der eines vergangenen Mittagessens. Wie viel Tage es alt war, ließ sich nicht mehr erkennen. Die Tischdecke hatte auch schon bessere, vielleicht sogar sauberere Zeiten gesehen, und die Weste, die Slot trug, zeigte deutliche Spuren der Speisen der vergangenen Tage. Auf dem Fernseher war deutlicher Staub zu sehen, lediglich die Mattscheibe selbst erstrahlte in hellem Glanz. Keller schloss aus diesen Eindrücken blitzschnell, dass sein Gegenüber unverheiratet war, nicht von einer Freundin in seiner Ruhe gestört wurde und sich eine Putzfrau nicht leisten konnte. Damit fühlte er sich in seinem Weltbild von alleinstehenden Herren wieder einmal bestätigt.
„Kannten Sie das Auto?“
„Nein!“ Perry Slot hatte den Wagen vorher noch nie gesehen. Autos dieser Marke pflegten außerdem gemeinhin gelb zu sein. Rote Flitzer kamen von einer anderen Firma. Eigentlich immer.
„Kennen Sie den Fahrer?“
„Ich habe den Fahrer gar nicht gesehen. Es war zu weit weg und dann stand die Feuerwehr mit den Tüchern davor. Ich habe keine Ahnung.“
Keller kramte in seiner Jackentasche und brachte ein Foto hervor.
„Kennen Sie diesen Mann“. Auf dem Foto lächelte ein gut Vierzigjähriger mit schütterem Haar in die Kamera.
„Ja, der wohnt hier ein paar Häuser weiter auf der rechten Seite. Direkt vor dem Feld. Der große Bungalow. Ich kenne ihn aber nicht. Kein Kontakt. Das ist ein verschlossener Kerl. Ziemlich arrogant. Grüßt nicht. Lädt niemanden ein. Ich hab mal gehört, er sei Kunsthändler. Aber das ist auch schon alles.“
„Wie gut kennen Sie sich hier aus?“
„Mich gibt’s hier seit meiner Kindheit. Ich kenne hier jeden Baum und jeden Stein. Meine Eltern hatten schon dieses Haus. Ich war immer hier, bis auf die Zeit, als ich studiert habe.“
„Was haben Sie studiert?“
„Philosophie.“
„Wo?“
„In Tübingen, in London und dann in Freiburg. Warum fragen Sie?“
„Ach, nur so. Was machen Sie jetzt? Also, mit was verdienen Sie jetzt ihr Geld?“
„Ich bin Schriftsteller.“
„Aha.“
Die Pause, die entstand, war ein wenig peinlich, glaubte Perry Slot. Er trank einen Schluck Kaffee und knabberte an seinem Keks, Keller trank einen Schluck Kaffee und knabberte an seinem Keks, und der schweigsame Wagner betrachtete hoch aufmerksam die Tapete.
„Saß der Kunsthändler von nebenan im Auto?“
„Ja!“
„Ist er wirklich tot?“
„Ja!“ Die Einsilbigkeit des Kommissars war wirklich zum Kotzen.
„Die Geschwindigkeit war zu niedrig. Am Auto sind doch kaum Schäden gewesen. Der Air-Bag ist doch auch aufgegangen.“
„Er ist eines natürlichen Todes gestorben.“
„Aha.“
„Und es ist geschossen worden.“
„Also doch kein natürlicher Tod!“
„Doch. Es ist auf den Motor geschossen worden. Kaliber .50 BMG, 12,7 mal 99 Nato. Das geht vorne rein und kommt hinten wieder raus. Panzerbrechend. Wie durch Butter. Ein Geschoss, das Scharfschützen verwenden. Ein Profi!“
„Aha.“ Perry Slot war verblüfft. So viel Aufwand, um zu Tode zu kommen, hätte er seinem Nachbarn, dem Kunsthändler, gar nicht zugetraut.
„Merkwürdig.“
„Was finden Sie merkwürdig?“ Jetzt wollte Keller es doch genauer wissen.
„Seit wann wird auf Kunsthändler geschossen. Und dann sterben die einfach so natürlich“, quasi in vorausseilendem Gehorsam. Aber den letzten Teil dachte er sich nur.
„Das wüssten wir auch gerne. Haben Sie einen Schuss gehört. Vor der Explosion des Motors?“
„Nein, nach der Explosion hat es noch zweimal geknallt. Aber eine ganze Zeit später.“
„Das waren die Reifen. Vorher nicht?“
„Keine Ahnung, ich habe nichts gehört.“
„Vielen Dank Herr Slot. Wenn wir noch weitere Fragen haben, werden wir uns wieder an Sie wenden. Danke, wir finden schon selbst hinaus.“
Keller erhob sich schnaufend aus dem tiefen Sessel, trank seinen Kaffee aus und eilte in Richtung Haustür. Perry Slot konnte sich nicht bremsen, sich jetzt an den schweigsamen Wagner zu wenden, der seinen Blick nur mühsam von der Tapete lösen konnte. „Hat Ihnen meine Tapete gefallen?“
Wagner tauchte aus tiefer Versenkung auf und blickte verstört auf Perry Slot.
„Hä?“
Das also war das angekündigte wichtige Verhör durch die hiesige Kriminalpolizei.
I/2.
Der Mann sah aus dem Flugzeugfenster hinunter aufs Meer. Die Maschine flog sehr tief über dem Wasser, draußen zog gerade die Morgendämmerung auf. Entgegen der militärischen Gepflogenheit bestand die Besatzung lediglich aus vier Personen. Zwei Piloten, dem Navigator und einem Funker. Die Maschinengewehr- Geschützstände waren vor dem Start ausgebaut worden. Es befanden sich nur zwei Passagiere an Bord, dafür aber eine Reihe umfangreicher Blechkisten mit unbekanntem Inhalt.
Der Mann ging durch den schmalen Gang nach vorne zu den Piloten.
„Wie lange noch?“
„Wenn der Wind so bleibt und der Tommy nichts merkt, knapp eine Stunde, Obergruppenführer.“ Der Funker blieb zwar auf seinem Sitz festgeschnallt sitzen, nahm aber eine stramme Haltung an. Er hatte Angst vor dem großen, herrischen Mann. Von draußen dröhnten die vier Motoren der Junkers Ju 290 A5. Der Fahrtwind und der Lärm der Motoren verschluckten die ergänzenden Worte des Flugkapitäns. Obergruppenführer Dr. Herrmann Konrad hangelte sich zurück zu seinem Sitz. Noch eine Stunde.
I/3.
Slot konnte von seiner Haustüre aus den Bungalow des Kunsthändlers sehen. Wenigstens einen Teil davon. Zwischen seinem verwilderten Vorgarten und dem Flachbau lagen mehrere Grundstücke, die sich durch schweizerisch anmutende Sauberkeit vom Slotschen Gelände deutlich unterschieden. Sein verwitterter, teilweise umgefallener Holzzaun setzte sich auf den Nachbargrundstücken durch halbhohe, sauber geschnittene Ligusterhecken oder mannshohe Industriezäune fort. Vor dem Haus des Kunsthändlers standen ein Polizeiwagen und zwei zivile Fahrzeuge. Offensichtlich untersuchte die Polizei das Haus nach Hinweisen, die eine Erklärung für den Schuss auf den Motor geben konnten. Slot glaubte sogar einmal kurz den schweigsamen Wagner erkennen zu können, war sich aber nicht sicher.
Und weil er ein neugieriger Mensch war, griff er sein Fernglas und schlenderte zum Ende des Weges. Festzustellen war allerdings nichts. Slot, der als kleiner Perry hier jeden Busch und Baum gekannt hatte, besann sich auf seine Jugenderinnerungen. Hinter der großen Wiese, an das des Kunsthändlers Haus angrenzte, begann ein Wald, und kurz hinter der Waldgrenze verlief der Trampelpfad der Spaziergänger und Hundeausführer. Dieser Weg war sein Ziel, denn von dort aus sollte er freien Blick auf die Rückseite des Bungalows haben.
Gedacht – getan. Auf dem Weg am Bungalow vorbei hielt der noch Ausschau nach einem Namensschild, denn er konnte sich an den Namen des Kunsthändlers nicht mehr erinnern. Vielleicht hatte er sich den auch nie gemerkt.
Auf dem schmalen Pfad im Wald angekommen versicherte sich Slot zuerst einmal, dass er auch allein war. Es wäre ihm unangenehm gewesen, wenn seine Observation aufgefallen wäre. Aber er war allein. Die kleinen Kinder waren mit ihren gutaussehenden Müttern auf dem Spielplatz, die Väter bei der Arbeit und die Jugendlichen in der Schule. Wie sich das halt für eine ordentliche Gegend so gehört.
Die Rückseite des Bungalows, mit großen Fenstern und Türen, einem weiträumigen, aber übersichtlichen Garten mit einer großzügigen Terrasse, lag offen vor ihm. Nur ein paar belaubte Bäume und Büsche lagen dazwischen und gewährleisteten ihm hervorragende Deckung.
Der Abstand zum Haus betrug vielleicht vierzig Meter. Nah genug um die beiden Männer und die Frau auf der Terrasse deutlich sehen zu können, zu weit entfernt allerdings, um auch verstehen zu können, worüber sie sprachen.
Dort standen der Kommissar, er kannte ihn bereits, der schweigsame Tapetenbetrachter Wagner und eine Frau, die er nicht kannte. Durch das Fernglas konnte er erkennen, dass sich Wagner und die Frau anscheinend heftig stritten. Ihre Gestik war heftig und die Lautstärke des Gesprächs war erheblich. Verstehen konnte er dennoch nichts.
Innerhalb des Hauses arbeiteten Leute in weißer Schutzkleidung. Solche, die man bei der Ermittlung von Verbrechen auch aus dem Fernsehen kennt. Die Rückwand des sichtbaren Raums bestand aus einer großen Bücherwand, in die anscheinend eine Geheimtür, ebenfalls mit Bücherregalen, eingelassen war. Hinter einer Holzabdeckung, die jetzt aufgeklappt von der Wand abstand, gähnte das Loch eines mittelgroßen Tresors, in dessen Innerem sich anscheinend Papiere und Akten befanden. Einer der Weißgekleideten entnahm ihm gerade verschiedene Bündel und packte sie in eine für Slot unsichtbare Kiste am Boden. Daneben stand ein zweiter Weißgekleideter und schrieb etwas in eine Kladde. Anscheinend wurde protokolliert, was die Leute mitnahmen. Mehr war nicht zu sehen. Die anderen Kripoleute waren wohl in anderen Zimmern und untersuchten anderes. Slots Neugierde war nicht befriedigt. Ganz im Gegenteil. Jetzt wurde der ihm unbekannte Kunsthändler erst richtig interessant
„Es ist alles eine Frage der Inszenierung“, dachte sich Slot. Er hätte diesen Gedanken gerne noch ein wenig erläutert, aber es war niemand da, dem er was hätte erzählen können.
I/4.
Das U-Boot vom Typ XXI befand sich auf Position 38 Grad 11‘ Nord, 16 Grad 26‘ West. Noch ein paar hundert Meilen nordöstlich von Madeira. Die See war ruhig. Sie hatten Glück gehabt bisher. Ausgelaufen waren sie vor zwei Wochen aus dem halbfertigen U-Bootbunker Valentin bei Bremen. Es war ein merkwürdiger Auftrag, den sie erhalten hatten. Das Boot war das Modernste, was das die deutsche Kriegsmarine zu bieten hatte. Es war nicht mehr nur ein tauchfähiges Boot für Aufgaben des Überwasserkampfs, sondern in der Lage lange unter Wasser zu bleiben und unter Wasser auch zu kämpfen. Ein richtiges Untersee-Kampfboot. Der Kommandant war zum Stab befohlen worden, und er hatte damit gerechnet, eine besonders knifflige Aufgabe zu bekommen. Der Krieg war verloren, das wussten alle, niemand aber sprach darüber. Jedenfalls nicht offen. Viele U-Boote waren versenkt worden, Engländer und Amerikaner wussten anscheinend, wo sie waren. Das konnte nur Verrat bedeuten. Deshalb war er über den Auftrag überrascht.
„Herr Kapitän, Sie erhalten von mir jetzt drei versiegelte Umschläge, die Sie erst auf See öffnen, wenn Sie die darauf vermerkten Positionen erreicht haben. Sie werden streng geheimes Reichsmaterial transportieren, das niemals in die Hände des Feindes fallen darf. Sie werden von Valentin auslaufen und die Nordsee zwischen den Färöer-Inseln und Island verlassen. Weitere Order finden Sie zu gegebener Zeit in den Umschlägen. Sie müssen unter allen Umständen Ihr Ziel erreichen. Sie werden sich nicht in Kampfhandlungen einlassen, selbst wenn sie vor Ihrer Nase stattfinden. Sie werden keine Seenothilfe leisten, auch wenn Sie in unmittelbarer Nähe sind. Sie werden keine Funktelegrafie benutzen, auch wenn Sie angerufen werden. Sie werden hören, aber nicht senden. Ihr Anrufzeichen ist XQH. Sie werden so weit wie möglich unter Wasser bleiben, um nicht aufzufallen. Sie werden unbedingt ankommen müssen. Rechenschaft werden Sie nur mir und dem Führer geben. Keinem anderen, auch Ihren Vorgesetzten nicht. Das gesamte Vorhaben hat den Namen ‚Unternehmen Xiphos‘. Haben Sie meinen Befehl verstanden?“
Kapitän Neumann hatte in seinem militärischen Leben schon viele Befehle erhalten, auch viele unsinnige, diesen aber hielt er für kaum möglich. Deshalb sah er ungläubig seinen Admiral an, der der Zeremonie beigewohnt hatte. Der nickte und stellte sich damit außerhalb des eben ergangenen Kommandos, ihn ging das Ganze nun wohl nichts mehr an.
„Jawohl Obergruppenführer, habe verstanden!“
„Sie werden Übermorgen gegen 23 Uhr auslaufen. Bis dahin werden Sie das Boot auf Vordermann gebracht haben und die Fracht, die Sie mitnehmen sollen, verstaut haben. Es ist niemandem gestattet, die Behälter zu öffnen. Niemandem! Sie bekommen dazu besondere Papiere, die Sie gegebenenfalls vorweisen können. Die Sache ist von äußerster Wichtigkeit für das Reich. Haben Sie verstanden?“
„Jawohl Obergruppenführer!“
Selbst der Admiral stand stramm, der SS-Mann musste eine wichtige Person sein. Neumann kannte ihn nicht, wollte ihn auch nicht kennenlernen.
Der Wagen, der ihn zurückbrachte, fuhr nicht nach Bremerhaven, sondern holperte über Feldwege und kleine Straßen direkt Richtung Weser zum Dorf Rekum. Die Gefahr durch Tiefflieger und Bombardements war groß. Ein paar Meter hinter Rekum war eine Großbaustelle der Marine. Von der SS bewacht, schufteten hier tausende der Arbeitssklaven, um einen Großbunker fertig zu bauen, in dem U-Boote des Typs XXI im Serienbau hergestellt werden sollten. Noch war der Bau nicht fertig. Dorthin hatte man aber sein Boot befohlen und sein 1. Offizier hatte das Schiff daraufhin von Bremerhaven an den Bunker verlegt. Als er ankam, inmitten von tausenden KZ-Häftlingen und SS-Bewachern machte sein Boot gerade fest. Mit Verwunderung stellte er fest, dass Arbeiter dabei waren, die Nummer seines Bootes und die Hoheitszeichen zu entfernen. Sein Boot wurde namenlos gemacht.
Früh am nächsten Morgen kamen LKW und brachten verschlossene Blechkisten, bewacht von SS-Truppen. Die nummerierten Behälter wurden sofort ins Boot gebracht. Neumann musste den Empfang quittieren. Die Bürokratie der Nationalsozialisten funktionierte sogar im Untergang noch. Einige der Torpedos wurden entfernt, dafür aber die Tanks bis zum Überlaufen gefüllt. Wünsche zur Verpflegung und zur Mannschaft wurden ohne Fragen genehmigt. Einer solchen Freigiebigkeit war Neumann in der deutschen nationalsozialistischen Marine noch nie begegnet.
Auslaufen in der Nacht. Die Fahrt wurde begleitet von entfernten Geräuschen im Sonar, die auf schwere Kämpfe schließen ließen. Aber sie hatten Befehl zu fahren, nicht zu kämpfen.
Als sie auf Position 38 Grad 11‘ Nord, 16 Grad 26‘ West waren, öffnete Neumann in seiner engen Kajüte den letzten Umschlag. Sie lagen nun ein paar hundert Seemeilen nordöstlich von Madeira. Weit voraus die Küste Afrikas.
„Eins WO bitte zum Kapitän.“ Über die Kommandoanlage rief er seinen ersten Wachoffizier zu sich, von dessen Meinung er viel hielt, den er schon lange kannte und dem er vertraute. Es war ungewöhnlich, dass einer der Offiziere in das „Privatzimmer“ des Kapitäns gerufen wurde. Normalerweise fanden Besprechungen in der Zentrale, dem eigentlichen Befehlsraum des Bootes statt. Dort konnten viele Mannschaftsmitglieder zuhören. Das aber wollte Neumann in diesem Fall nicht.
„Klaus, sieh dir das an. Was hältst du davon?“
Vor dem Eins WO lagen der geöffnete Umschlag, drei Seiten Papier, eng mit Schreibmaschine beschrieben und die schmächtige Schülerausgabe von Schillers „Don Karlos“.
Der Kapitän schloss die Türe seiner Kammer, ließ sich auf sein Bett fallen und bedeutete dem Eins WO, sich an den winzigen Schreibtisch zu setzen.
I/5.
Die Suche im Internet brachte ihm nicht viel. Slot wollte etwas erfahren über diesen rätselhaften Kunsthändler. Er konnte zwar herausbekommen, dass sein Nachbar Juan García hieß und dass dies ein südamerikanischer Name sein konnte. Möglicherweise auch ein spanischer. Weiterhin war zu erfahren, dass er wohl eine Galerie in Hannover betrieb, über dessen Größe allerdings nichts zu erfahren war. Interessant war lediglich ein vager Verweis, dass die Herkunft der meisten Werke, die durch ihn verkauft wurden, nicht genau geklärt werden konnten.
Als er am nächsten Tag am Anwesen des Kunsthändlers Juan García vorbeischlenderte, bemerkte er, dass die Polizei offensichtlich das Interesse an dem Haus verloren hatte. Niemand war mehr da. Niemand interessierte sich. Das Anwesen war verlassen. Da ritt Slot der Teufel. Zumindest musste er sich das hinterher immer wieder sagen. Er wollte in das Haus hinein. Unbedingt.
Noch aber war es eigentlich zu hell, die Nachbarn würden ihn sehen, ihn erwischen, oder sich zumindest wundern, dass er, der Perry aus der Nachbarschaft, der jetzt mäßig bekannte Schriftsteller Slot, auf fremdem Gelände herumschlich. Auf der anderen Seite, sagte er sich, werden die meisten Einbrüche tagsüber begangen. Also war die Situation am hellen Tag vielleicht doch gar nicht schlecht. Sie gab seinem Aufenthalt auf dem Grundstück etwas Selbstverständliches, den Anschein von Normalität.
Den Sprung über das niedrige Gartentor an der Rückseite, zum Wald hin, hätte zwar ein Zehnjähriger besser hinbekommen, aber da niemand zuschaute, gab es auch niemanden, der Haltungsnoten vergeben konnte. Ohne Hast, als sei er auf einer Besichtigungstour, ging Slot hinüber zur Terrasse und lehnte sich vorsichtig gegen die Tür. Vielleicht hatten ja die Kripoleute vergessen, die Tür richtig zu schließen. Da aber Polizisten meist zuverlässige Menschen sind, hatte er Pech. Auch die Fenster waren verschlossen und außerdem mehrfach verglast. Da wären schon grobes Werkzeug und taube Nachbarn nötig gewesen, um hier hineinzukommen. Als er schon die Hoffnung aufgegeben hatte, das Haus zu betreten, kam er bei dem Niedergang zum Keller neben dem Haus an. Neben einer massiven einbruchssichen Stahltüre, war ein kleines Fensterchen, einen halben Meter breit und fast genauso hoch, das aus dem vorvergangenen Jahrhundert zu stammen schien. Eine dünne Glasscheibe, ein vermoderter Holzrahmen, ein primitiver Riegel konnten nicht als ernsthaftes Hindernis betrachtet werden. Seinem Einbruch in das Leben eines Verstorbenen stand so gut wie nichts mehr in Wege.
I/6.
Deutsches U-Boot der Klasse XXI, ohne Nummerierung, Rufzeichen XQH, Geheimzeichen „Unternehmen Xiphos“. Kommandant Kapitän Erich Neumann. An Bord 40 Mann Besatzung, 16 Mann weniger als bei Kriegsstärke. Tauchtiefe maximal 300 Meter, Reichweite 15.000 Seemeilen, Länge 76,7 Meter, Breite 6,6 Meter, Höhe über alles 11,3 Meter. Nautische und technische Ausrüstung vollständig, Lebensmittel, Wasser und Treibstoff vollständig, Bewaffnung lediglich 2 Torpedos, Flakgeschütze ausgebaut, Handfeuerwaffen. Ladung: 34 Kisten Geheimmaterial. Keine Passagiere.
In der winzigen Kapitänskammer zwei Personen: Kapitän Neumann und der erste Wachoffizier Rabenhorst. Auf dem winzigen Tisch: Befehl Nr. 3, zu öffnen auf Position 38 Grad 11 Minuten Nord, 16 Grad 26 Minuten West, Atlantik, 380 Seemeilen nordöstlich von Madeira. Diese Position hatten sie erreicht.
„Sieh dir den Befehl an und sag mir, was du denkst.“ Neumann streckte sich auf dem schmalen Bett aus und beobachtete die Navigationsinstrumente an der gegenüberliegenden Wand. Der Kommandant konnte die wichtigsten Daten selbst in seiner Kammer immer kontrollieren. Tauchtiefe wenige Meter, Schnorchelfahrt, beide Diesel auf 80 Prozent. Schnell, aber sparsam im Verbrauch. Akkumulatorenstatus: geladen und betriebsbereit.
Rabenhorst begann zu lesen.
I/7.
Der Keller war dunkel. Es roch muffig. Abgestanden die Luft. Hinter dem Heizungskeller Regale mit Akten. Viele Regale, viele Akten. Keine Vorratskeller mit Konserven, Kartoffeln, Gemüse. Keine Waschküche. Kein Plunder. Keine alten Möbel. Nur Akten. Zusammengefasst in zusammengebundenen Aktendeckeln. Wie bei Gerichtsakten. Tausende Blatt, ohne äußerliche Beschriftung. Er verließ den Keller, erschlagen von der Unübersichtlichkeit der Papiere, verunsichert vom Chaos des Lagers.
Im Erdgeschoss gediegener Reichtum. Altes und Modernes. Reich bemalte Holzfiguren, anscheinend aus dem Mittelalter. Goldene Figuren, die an Sakralgegenstände der Inkas erinnerten. Moderne Skulpturen aus Stein und Bronze. Aber keine Gemälde, keine Zeichnungen, keine Aquarelle. Ungewöhnlich für einen Kunsthändler. Daneben alte und moderne Möbel der gehobenen Preisklasse. Wertvolle dicke Teppiche auf dem Boden. Und überall Regale mit Büchern. Anscheinend ohne Ordnung. Kriminalromane neben Fachbüchern, Literatur über Gartenbau neben Okkultem, Weltliteratur neben Groschenromanen. Auch hier: Niemand konnte erahnen, welche Ordnungsprinzipien den Hausherren einmal bewegt hatten.
Slot trat ein paar Schritte zurück. Er konnte nicht erkennen, wo die Geheimtüre war, wo der Tresor. Er ging noch weiter zurück. Bis heran an das Fenster. Der Anblick des Regals war irgendwie merkwürdig. Noch konnte er nicht erraten was ihn anzog, was ihn störte, was ihn an diesem Regal, was ihn an den Büchern, so komisch vorkam.
Er ging um die Ecke, um das Regal zu umrunden. Das aber war nicht möglich, denn der Raum nebenan war vom Flur aus nicht zu betreten. Als er den Weg endlich gefunden hatte, kam ihm das Zimmer recht klein vor. Er ging wieder zurück, mehrere Male hin und her. Es fehlte Raum, zwei Meter vielleicht. Irgendwie war dieser Bungalow völlig verbaut. Die Maße stimmten hinten und vorne nicht. Mal waren die Wände zu dick, mal sprangen Mauern aus der Linienführung.
Draußen begann es zu dämmern. Die Nacht kam in die verwinkelten Ecken schneller als erwartet. Die Beleuchtung wollte Slot nicht anschalten, das wäre zu auffällig gewesen für die Nachbarn. In diesem Haus hatte schon seit Tagen kein Licht mehr gebrannt. Da wäre es doch verwunderlich, wenn sich so schnell ein Nachfolger für den zurückgezogenen Einzelgänger gefunden hätte. Außerdem wäre es doch recht peinlich, wenn die Polizei vor der Türe stünde und wissen wollte warum er im Haus herumgeisterte. Er musste sich also etwas einfallen lassen.
I/8.
Für Rabenhorst waren die Befehle böhmische Dörfer, für ihn ergaben sie keinen Sinn. Zwar war die Mannschaft erst wenige Wochen an Bord, zwar hatten sie bisher lediglich Übungen auf dem Boot abgehalten, um im Kampf mit dieser völlig neuen Technologie bestehen zu können, aber bisher war immer die Prämisse gewesen: kämpfen, siegen, vernichten. Jetzt aber war der Kampf verboten. Leise sollten sie sein, unauffällig, die Fahrt an sich war die Aufgabe. Dazu bräuchten sie aber nicht die neueste Entwicklung im U-Boot-Bau. Ein wenig kam er sich feige vor. Er sollte Kisten transportieren. Von A nach B. Keine Aufgabe für eine kämpfende Truppe.
„So sind wir also zum Frachter verkommen. Zum Unterwasserfrachter. Wegen ein paar Kisten lassen wir die Kameraden im Stich. Das kann doch wohl nicht wahr sein.“
Der Kommandant lag auf dem Bett und knurrt nur. Keine Antwort, keine Stellungnahme, keine Meinung.
„Und was soll dieser Unsinn mit dem Funkverkehr. Da sollen wir doch mit dem primitiven Schulheftchen unsere Funksprüche verschlüsseln und haben mit der ENIGMA das sicherste Verschlüsselungsgerät aller Zeiten an Bord. Das soll einer verstehen, ich nicht.“
Er hielt „Don Karlos“, das schmächtige Bändchen, in den Händen wie einen angefaulten alten Knochen.
„Klaus, es stinkt, sage ich dir. Als ich den Obergruppenführer gesehen habe, dachte ich mir gleich, Erich, hier stinkt’s. Nur einmal bin ich ihm begegnet. Ich lege auch keinen Wert auf weitere Begegnungen. Ich habe mich erkundigt. Konrad, Dr. Herrmann Konrad, General der SS und Obergruppenführer. Zuständig für alle KZs und alle Wunderwaffen. V1, V2, Düsenjäger, Reichsflugscheibe und weiß der Henker was. Ein ganz hohes Tier. Wer dem widerspricht ist gleich im KZ.“
„Was weißt du von KZs?“
„Geheim, sicher, aber man hört so einiges. Meine Schwester hatte einen Bekannten, einer, der das Maul nicht halten konnte. Den hat die Gestapo abgeholt. War über ein halbes Jahr weg. Und als er zurückkam, hieß es, er sei im KZ gewesen. Meine Schwester hat ihn gefragt. Er hat sie dann in seine Wohnung gezogen und hat sein Hemd ausgezogen. Meine Schwester ist bald umgefallen. Narben überall. Auf dem Rücken, der Brust, den Armen. Schreckliche Narben. Danach hat er sein Hemd wieder angezogen und hat nur gesagt: ‚Ich habe nichts gesagt.‘ Danach hat meine Schwester nichts mehr gefragt. So viel zu den KZs. Und Konrad ist da irgendwie Chef. Weitere Fragen?“
Rabenhorst starrte auf die Papiere. Die Dieselmotoren hämmerten ihren Takt, das aber hörten sie nicht mehr. Es war alltäglich.
„Wenn wir ENIGMA nicht mehr benutzen dürfen, kann das nur eins bedeuten.“ Der Kommandant hustete und streckte sich. „Es kann nur bedeuten, dass der Code verraten wurde. Oder dass die Tommys ein Gerät erbeutet haben. Oder dass einer übergelaufen ist. Verrat halt. Deshalb jetzt diese primitive Masche. Zuerst kommt die Seitenzahl, dann die Zeilennummer und dann kommen die Nummern für die Buchstaben. Fein säuberlich nacheinander. Du musst lediglich hinterher sehen, wo ein Wort zu Ende ist. Und weil jedes Mal eine neue Seite und eine neue Zeile genommen werden, ist der Code unknackbar. Es sei denn, du weißt, welches Buch du nehmen musst. Das Großdeutsche Reich hat viele Bücher, das ist die Auswahl groß. Ein primitives, aber wirkungsvolles Verfahren. Nur das Buch unseres Führers sollten sie nicht nehmen. Da steht zu wenig drin.“
Er lachte gepresst, denn er wusste, dass ihn dieser Spruch das Leben kosten konnte.
„Und was bedeutet das, ‚Der Zielhafen wird bei Erreichen des Endpunktes übermittelt‘, das verstehe ich nicht.“ Rabenhorst drehte die Schreibmaschinenseiten in der Hand herum, als wolle er die Blätter kneten.
„Verstehe ich auch nicht. Aber auf der Position sollen wir zum ersten Mal senden. Präzise 13 Uhr 15 Berliner Zeit „XQH“. Nur XQH sonst nichts. Ein Mal. Mehr nicht. Zu kurz, um angepeilt zu werden. Eine Sache von Sekunden. Über ‚Kurier‘, unserem Kurzsignalverfahren, Bruchteile von Sekunden, ein Knacken im Äther, mehr nicht. Und dann noch auf einer völlig verqueren Frequenz. Auf der gleichen Frequenz kommt dann die Anweisung zurück. Da muss dann der Schiller ran. Wir werden das selbst machen und es nicht dem Funkmaat überlassen. Der lacht sich doch tot, wenn wir mit dem Heftchen da ankommen.“
„Ich geh wieder in die Zentrale und lass den Zwei WO den Kurs abstecken. Jetzt wissen wir wenigsten, wo wir hinwollen. 28 Grad 11 Minuten Nord, 14 Grad 24 Minuten West, ein paar Seemeilen vor der Nordwestküste von Fuerteventura. Das gehört, glaube ich, zu Spanien. Inseln vor Afrika. Hoffentlich ist die See tief genug um sich vor Fernaufklärern zu verstecken. Das fehlte uns noch, dass uns auf den letzten Metern der Tommi die Bonbons aufs Dach schmeißt.“
Plötzlich krachte der Kommandolautsprecher. „Horchposten an Kommandant: Horchalarm! Schraubengeräusche auf 15 Grad, Einzelläufer. Entfernung geschätzt 8 Meilen.“
Kommandant und Eins WO sprangen auf und hasteten in die Zentrale.
I/9.
Neben der äußeren Kellertreppe lag das Fenster, durch das er eingestiegen war. Der morsche Rahmen ließ sich leicht wieder zurückschieben und musste von außen so aussehen, als sei das Fenster geschlossen. Mit einem Drehhaken im Inneren konnte Slot das Holzteil weitgehend fixieren. Er hatte Glück gehabt, dass der Haken bei seinem Einsteigen noch nicht das Fenster versperrt hatte. Dann nämlich wäre der morsche Rahmen gleich auseinandergebrochen.
In der großen Stahltüre zur äußeren Kellertreppe steckte von innen ein Schlüssel. Zum großen Erstaunen Slots ließ sich das Schloss spielend leicht aufsperren und die Türe schwang geräuschlos auf. Es schien, als sei dieser Kellerzugang bewusst leicht begehbar gehalten worden. Als sei diese Türe einer der wichtigeren Ein- und Ausgänge des Hauses gewesen. Diesen Schlüssel musste er haben.
Am nächsten Tag betrat Slot bereits in aller Herrgottsfrühe das Haus des Kunsthändlers. Heute fühlte er sich schon wesentlich besser in der ungewohnten Umgebung. Außerdem hatte er zwei Taschenlampen mitgenommen. Eine winzig kleine, um auch bei Dämmerung kleine Ecken untersuchen zu können, und eine recht große, langlebige, um im Keller und an Stellen, die die Nachbarn von außen nicht einsehen konnten, suchen zu können. Was er eigentlich suchte, wusste er nicht, aber das konnte sich ja ändern.
Die Regale mit den Aktenbergen überging er einfach. Eine einzelne Mappe hatte er geöffnet, darin aber lediglich uralte Ausgabenabrechnungen aus den frühen 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gefunden. Da war er noch nicht einmal geboren gewesen. Immer wieder umkreiste er das Treppenhaus ins Erdgeschoss. Irgendwie war der Aufgang völlig verbaut. Es fehlten drei bis vier Quadratmeter Fläche, die der Kellerraum eigentlich mehr gehabt haben müsste. Als er ein Metermaß fand, begann er systematisch nachzumessen. Es fehlte ein Raum zwei mal zwei Meter groß, neben der Treppe, direkt unterhalb der Bibliothek. Der fehlende Raum konnte auch nicht von Kaminröhren oder Belüftungsschächten herrühren, denn die hätten ja irgendwelche Öffnungen im Keller oder sonstwo gehabt.
Im Erdgeschoss nahm er die gleichen Messungen vor. Auch hier war der vier Quadratmeter große Raum nicht zu finden. Es fehlte sogar hinter dem Bücherregal im großen Zimmer zum Garten eine noch größere Fläche. Da erinnerte sich Slot an die offene Geheimtür mitten in dem großen Holzregal, das er durchs Fernglas bei seiner Beobachtung der Hausdurchsuchung gesehen hatte. Er fühlte sich auf einmal ein wenig wie ein kindlicher Indianer auf dem Kriegspfad und auch erinnert an Sherlock Holmes mit seinen Kriminalfällen. Geheimräume und verborgene Gänge hatten ihn schon als Kind fasziniert. Dunkel erinnerte er sich aber daran, dass er sie auch ein wenig gefürchtet hatte. Slot war nie ein Held gewesen. In dieser Richtung bestanden bei ihm keine Ambitionen.
Wenn, so sagte er sich, die Polizei den verborgenen Eingang gefunden hatte, dann musste er ihn auch finden können. Er versuchte seine damalige Position im Wald zu bestimmen. Das war gar nicht so einfach, denn von hier aus gesehen war der Wald eine durchgehende grüne Fläche. Aber er konnte sich vage daran erinnern, dass die Öffnung direkt gegenüber der Terrassentür gelegen hatte. Das Regal aber sah an dieser Stelle stabil und bodenständig aus. Ein solides, handgearbeitetes und sauber eingepasstes Stück Möbel, das die gesamte Wand einnahm. Und doch fiel bei sehr genauer Betrachtung eine winzige Kleinigkeit auf. Der Glanz der Politur der Oberfläche hatte an einer Stelle ein wenig gelitten. So groß wie eine Hand, allerdings lediglich auf der eines Seite des doppelt ausgeführten senkrechten Regalbretts. Als hätte jemand hier öfter als an anderen Stellen Hand angelegt. Slot nahm beiderseits dieser Stelle ein paar Bücher heraus und legte sie auf den Boden. Hinterher konnte er sich nicht mehr daran erinnern, in welcher Reihenfolge sie zuvor im Regal gestanden hatten. Dies aber fiel im erst viel später ein.
Das Brett auf der Seite, an der die Gebrauchsspuren waren, stand nicht, wie bei normalen Regalen, senkrecht auf der Rückwand, sondern war schräg eingebaut. Hier war also die Türe zum geheimen Raum, in den er schon gesehen hatte. Hätte das Brett senkrecht auf der Rückwand gestanden, könnte niemand das Regalteil herausklappen. Die Rückseite hätte geklemmt. Wie allerdings die Türe zu öffnen war; Slot hatte keine Ahnung.
Wenn die Polizei, so sagte er sich, wenn die Polizei den Öffnungsmechanismus gefunden hatte, dann musste er ihn doch auch finden können. Er versuchte sich an die Geschichten zu erinnern, die er in seiner Jugend gelesen hatte. Wie hatten die Autoren damals das Öffnen von Geheimtüren beschrieben? Er konnte sich nicht recht erinnern. Aber irgendwo musste doch ein Mechanismus verborgen sein. Ein Knopf, ein bewegliches Brett, ein Rad, ein Schalter.
Ein Schalter! Das Zeitalter der Elektrizität war ja schließlich schon geraume Zeit angebrochen. Warum also sollte das Tor zum Geheimnis nicht elektrisch betrieben werden? In der Nähe des riesigen Bücherregals gab es zwar nur wenige Lichtschalter, die aber schalteten lediglich die Lampen. Slot probierte alle möglichen Schalter aus. Nichts passierte an der Bücherfront. Schließlich setzte er sich an den Tisch auf das Sofa. Neben seinem Fuß lag der Bodenschalter für die Stehlampe zwischen Sofa und Bücherregal.
„Na, dann du auch noch!“, sagte er laut und überhaupt nicht überzeugt und trat mit Wut auf den Schalter. Die Stehlampe ging nicht an, die Glühbirne musste wohl hin sein. Aber ein feines, ganz leises Summen lenkte seine Aufmerksamkeit in Richtung der vermeintlichen Türe. Sie stand sperrangelweit auf. Slot erschrak heftig und starrte ungläubig auf die Öffnung. Mit großer Langsamkeit beugte er sich hinunter und drückte vorsichtig mit der Hand, er wollte ja nichts kaputtmachen, den Schalter erneut. Wieder ertönte das Summen, die Tür schloss sich und rastete mit einem kaum hörbaren Klack ein. Die Öffnung war verschwunden. Wieder drückte er auf den Knopf und erneut öffnete sich die Pforte zum großen Geheimnis. Ganz ohne „Sesam öffne dich!“ Nur mit dem primitiven Fußschalter einer Stehlampe, die nicht funktionierte.
Mit etwas mulmigem Gefühl betrat Slot das enge Gemach. Links neben dem schmalen Eingang befanden sich zwei kleine Schalter und ein größerer. Er drücke auf den obersten kleinen Schalter, und sofort flammte blendend helles Neonlicht auf. Hecktisch schaltete er wieder zurück, sofort verlosch das Licht. Slot hoffte, dass draußen niemand die plötzliche Lichtfülle gesehen hatte. Der kleine Schalter darunter ließ eine kleine rote Lampe an der Wand aufleuchten, die draußen im Garten wohl kaum zu sehen war. Der dritte Schalter war der große und Slot legte ihn ohne nachzudenken um. Wieder das Surren, wieder schloss sich die Türe und ein schrecklicher Gedanke überkam ihn: Wenn dieser Schalter die Türe nicht wieder öffnen würde, wäre er verloren, eingesperrt in diesen engen Raum, ohne die Möglichkeit zu entkommen.
Herzklopfen, als er den Schalter wieder umlegte. Aufatmen, als die Tür wieder aufschwang. Slot fühlte sich dem Tode entronnen. Was aber, sagte er sich, wenn der Strom ausfällt. Bleibt dann die Türe zu und der Besucher gefangen? Er untersuchte die Innenseite des Verschlusses und fand, verborgen unter einem gelochten Deckel, einen stählernen Hebel, aufzuziehen nach innen, mit der Aufschrift „Open“ und „Closed“. Anscheinend hatte der englischsprachige Erfinder der Technik also auch an Katastrophen gedacht.
Jetzt hatte er Muße sich in dem Raum umzusehen. Eng gedrängt standen Regale aus Metall. Alle waren leer geräumt. Hier hatte wohl die Polizei einiges beschlagnahmt. Das hatte er ja beobachten können. Drei der Wände waren weiß gestrichen. An einer dieser Wände hing ein Rahmen mit einer Inschrift. „Silendo Libertatem Servo“ war da geschrieben. Da Slot nie Latein gelernt hatte, konnte er mit der Inschrift nichts anfangen. Die vierte Wand schien aus Metall zu sein. Aluminium oder gebürsteter, blanker Stahl. Slot war kein Fachmann, um das zu ergründen. Der Fußboden wies eine Menge Schrammen auf. Die ehemals helle Bodenfarbe war fast gänzlich weggeschrappt. Anscheinend waren die Regale häufig hin- und hergeschoben worden. Jedes Mal zu den Wänden hin und wieder zurück. Warum der häufige Umbau nötig war, konnte er nicht erkennen. Von der Razzia der Polizei konnten die Schrammen am Boden allerdings nicht sein. Die hätten die Dinger einmal verschoben, und das wäre es dann gewesen. Grübelnd stand er im Raum und betrachtete das Chaos.
Er klopfte die Wände ab, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis zu finden. Nichts. Er betätigte noch einmal alle Schalter innerhalb des Geheimraums und im großen Wohnzimmer mit der Bücherwand. Nichts. Schließlich holte er wieder das Metermaß und begann, die Räume nun auch im Erdgeschoß zu vermessen. Wiederum fehlte eine Fläche. Da, wo die stahlverkleidete Wand war. Oder halt auf der anderen Seite zur Treppe. Aber auch da waren die Wände stabil und Klopfen blieb ohne Ergebnis. Trotzdem hätte hier ein Raum sein müssen, rund ein Meter tief und so breit wie der Geheimraum, wenn man mögliche Wände abrechnete. Er kletterte durch eine Luke zum flachen Dachboden des Bungalows, um eine Erklärung zu finden. Hier aber lagen lediglich zwei Stapel mit Dachziegeln. Ansonsten war die Decke durchgehend aus Beton, ohne Fugen, eine einzige, glatte Fläche. Auch hier also kein Hinweis.
Aber in einem schlichten Bungalow konnte doch eine solche Fläche nicht einfach ungenutzt und unentdeckt bleiben. Im Erdgeschoss und im Keller. Slot kletterte wieder herunter, öffnete wieder die Geheimtüre und schloss sich in dem Raum ein. Das fahle Licht der Neonröhren beleuchtete den Raum mit kaltem Licht. Auch den anderen Schalter, den mit dem kleinen roten Licht an der Decke, legte er um. Dann stand er in der Mitte des Raums und starrte die metallene Wand an. Hier musste des Rätsels Lösung liegen. Einen anderen Platz konnte er sich nicht vorstellen.
Und dann glaubte er an dieser glatten, glänzenden Wand Spuren erkennen zu können. Nicht Flecken von schmutzigen Fingern, von einem Menschen möglicherweise, der sich abgestützt haben könnte, weil Regale im Weg gestanden hatten, sondern ganze Handflächen. Mit den Fingern nach unten, zum Boden gerichtet. Von der halben Höhe des Raumes bis an die Decke. Als hätte jemand diese Wand nach unten verschoben. Ohne Griffe, ohne irgendein Gestänge, das ihm geholfen hätte.
Slot stellte sich vor die Wand, legte beide Hände auf die glatte Fläche, drückte dagegen und bewegte die Hände nach unten. Und die Wand gab nach. Federleicht. Als hätte sie kein eigenes Gewicht. Langsam glitt sie nach unten und gab einen kleinen Raum frei. Vielleicht einen Meter breit. Unverputzt. Roh vermauert. Mit einem breiten Loch im Boden. Slots Herz begann zu bis zum Hals zu pochen. Angst beschlich ihn. Sein Magen reagierte mit Unwohlsein. Einen halben Meter über dem Boden ließ sich die Wand nicht weiter absenken. Über diese kleine Hürde musste er hinwegsteigen, um an die Öffnung im Boden zu kommen. Dann blickte er hinab. Er hatte erwartet, einen kleinen Raum im Keller zu finden. Ein Versteck für kleine, wichtige, wertvolle Gegenstände oder Unterlagen. Dieser Raum aber reichte tiefer. Viel tiefer. Eine Leiter führte hinab. An der Decke baumelte ein elektrischer Kran. Tief unten, am Ende des Schachts, klein wie eine Postkarte, hellgrau gestrichener Beton. Die gleiche Farbe wie im Geheimraum. Anscheinend aber nicht verkratzt, beleuchtet von blinkendem Neonlicht.
I/10.
Flugzeug Typ Ju 290 A5, Kurs 210 Grad, 4 Mann Besatzung,2 Piloten, Navigator, Funker, 2 Passagiere, 4,1 Tonnen Fracht, im Anflug auf die Puerto de la Cruz, die Südwestspitze von Fuerteventura. Flughöhe rund 30 Meter, Marschgeschwindigkeit 340 Kilometer pro Stunde.
Dr. Herrmann Konrad, der hochrangige SS-Obergruppenführer und Vertrauensmann Adolf Hitlers, lehnte sich auf dem unbequemen Segeltuchsitz neben der Ladefläche zurück. Trotz der heftigen Bewegungen der Windböen in dieser niedrigen Fluglage wollte er sich nicht anschnallen. Bisweilen musste er sich festhalten, um nicht aus dem Sitz geschleudert zu werden. Konrad war schlecht gelaunt, die heftigen Bewegungen während der Flugreise machten ihm zu schaffen. Der Pilot hatte ihm aber versichert, dass so tief geflogen werden musste, denn Amerikaner und Engländer hatten hochentwickelte Funkmessgeräte entwickelt, die sie Radar nannten und mit denen sie Flugzeuge auf große Entfernungen orten konnten. Der Pilot hatte ihm nicht gesagt, dass es Geräte in Flugzeugen gab, die auch niedrige Objekte erkennen konnten. Deshalb hatte Konrad schließlich eingewilligt. Sein Gegenüber, ebenfalls ein hochrangiger nationalsozialistischer Funktionär, war erst gar nicht gefragt worden.
„Die Schaukelei ist zu Kotzen. So schlecht bin ich ja noch nie geflogen worden.“
„In Friedenszeiten und bei Lufthoheit ist es halt gemütlicher, Obergruppenführer. Die Zeiten sind aber vorbei.“
„Kamerad, jetzt brechen wieder Friedenszeiten über uns herein. Deshalb hauen wir ja auch alle ab. Aber immerhin. Wie sagte unser großartiger Reichsmarschall Göring: ‚Hauptsache, 10 Jahre gut gelebt!‘ Recht hat der Dickwanst. Aber sie werden ihn hängen, wenn sie ihn erwischen. Sie werden ihn hängen …“. Konrad lehnte sich wieder zurück und fühlte sich bei dem Gedanken, nicht erwischt zu werden, gleich wesentlich besser.
„Sie werden ihn nicht erwischen. Auch er wird die Flatter machen. Oder er geht zu den Amerikanern. Die Amis bringen doch keinen aus einer Regierung um. Das könnte ja sonst Schule machen und sie selbst treffen. Denken Sie an Kuba, an die Philippinen, den spanisch-amerikanischen Krieg bis 1902. Wie viele Menschen hat General Arthur MacArthur umbringen lassen? Die verbrennen sich doch nicht die Finger. Denken Sie an die Indianer im eigenen Land. Da kommt nichts.“
„Wie auch immer“, Konrad kam dicht an sein Gegenüber heran, sein Stimme wurde leise, „die Juden werden schon Krawall machen. Aber es wird wie immer sein“, seine Stimme wurde wieder lauter, siegessicherer, „die Kleinen wird man henken und die Großen lässt man laufen.“ Er lachte laut auf. „Und deshalb mein Lieber, wollen wir uns auf unsere Aufgabe konzentrieren und unseren Großen den Weg in ein unbehelligtes Dasein ebnen. Die Reichsautobahn erster Klasse bis nach Südamerika!“ Er begleitete seine Worte mit einer allumfassenden Geste. „Und über den Rest unserer Sache lässt sich nur sagen: Wer redet, weiß nichts, wer weiß, redet nicht. Darauf wollen wir uns erst einmal verlassen.“
Eine Weile schwiegen sie und starrten auf die endlose Wasserfläche wenige Meter unter ihnen.
„Wie gut hätte das alles werden können. Ein paar Monate noch und das Blatt hätte sich gewendet. Nur ein paar Monate noch.“ Konrad sah sein Gegenüber an und sinnierte weiter. „Was meinen Sie, was ich für Pläne dabei habe. Da drüben in den Kisten. Waffen, Waffen sage ich Ihnen, gegen die die Alliierten nichts dagegensetzen könnten. Überschnelle Flugzeuge. Bomben von unvorstellbarer Zerstörungskraft. Raketen von Berlin bis Washington. Aber wir kommen zu spät. Verrat sage ich Ihnen, es kann nur Verrat sein.“
„Obergruppenführer, konzentrieren Sie sich jetzt auf Ihre Aufgabe. Der Führer selbst hat Sie beauftragt. Unser Chef, Heinrich Himmler selbst hat Sie beschworen, Erfolg zu haben. Sie müssen die Linie aufbauen: Deutschland, Italien, Rotes Kreuz, katholische Kirche, Spanien, Südamerika. Retten Sie an Kameraden, was zu retten ist. Bevor sie vom Iwan gefressen werden oder die Amis sie auf ihre Seite ziehen. Das sind Sie Ihrem Heimatland schuldig.“
„Heimatland und schuldig?“ Konrad zeigte ein hässliches Grinsen. „Wissen Sie, was Himmler, der treue, der mutige Heinrich von mir verlangt hat? Ein Flugzeug wollte er von mir. Abhauen wollte er. Mit den Amis verhandeln wollte er. Ich bin ihm nichts schuldig. Er, er allein hätte uns verraten!“
„Was haben Sie ihm gesagt?“
„Ich habe Herrn Himmler am Telefon gesagt, dass ich kein Flugzeug für ihn freimachen könne. Alle Flugzeuge seien im Auftrag des Führers in der Luft. Alle verteidigten das Heimatland, das Großdeutsche Reich also.“
„Alle, außer denen, die wegen Spritmangels am Boden bleiben mussten.“
„Alle, außer denen, die wegen Spritmangels am Boden bleiben mussten!“
Beide grinsten sich an. Sie wussten genau, dass die meisten am Boden standen und keinen Sprit hatten. Außer dem einen, in dem sie saßen. Für dieses Flugzeug war genug Sprit vorhanden gewesen.
„Wir nähern uns jetzt der Insel und erkunden die Landebahn. Wenn die Herren sich jetzt anschnallen wollen. Die Piste soll nicht besonders glatt sein.“ Der Funker hatte nur kurz seinen Kopf aus der Führerkanzel herausgestreckt. Die beiden Herren waren ihm unheimlich.
I/11.
Slot hatte Angst. Dieser Bau überschritt alles, was er sich vorgestellt hatte. Alles, was er sich wagte vorzustellen. Er fühlte ein merkwürdiges Ziehen in der Magengegend. Unwohlsein und Hunger zugleich. Er sah auf die Uhr. 20 Uhr 43. Mehr als zwölf Stunden war er nun schon in diesem Haus. Zwölf Stunden, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Wie ein reißender Wolf fiel der Hunger über ihn her. Betäubte seine Sinne und lähmte seinen Willen. Der einzige Gedanke in ihm: Raus hier, schnell an die frische Luft, weg von diesem schrecklichen Ort.
Am nächsten Morgen konnte er sich nur vage daran erinnern, dass er alle Türen geschlossen, das Licht auf allen Ebenen gelöscht und sogar den Stecker der Stehlampe gezogen hatte, mit der die Geheimtüre zu öffnen war. Der Weg aus dem Kellerschacht hinaus war ihm nicht mehr bewusst. Wie aber hätte er sonst hinausgelangen können. Slot überlegte, was zu tun war. Wie konnte es kommen, dass unter diesem lächerlichen Bungalow ein so großer Keller sein konnte. Unerklärlich.
Nach reiflicher Überlegung beschloss er, dieser Sache nachzugehen. Im Internet hatte er nichts Wesentliches über das Haus gefunden, also musste er andere Quellen anzapfen. Deshalb begab er sich nach einem ausgedehnten Frühstück, die Teller und Schalen ließ er wieder mal vorerst stehen, in die Garage und holte seinen betagten Mercedes heraus. Der hatte, wie sein Besitzer, auch schon bessere Tage gesehen. Er wollte in die Stadt fahren. Denn er hatte ein Ziel.
„Jungfernpfad 14, sachten Se. Dat is doch draußen in – in --, na wie heißt dat da, in, ähh, in Ingelborn. Dat Dorf da draußen. Wat interessiert Sie denn dat Dorf? Da is doch nix los? Da draußen.“ Der dicke Mann vom Katasteramt konnte sich keine Beweggründe vorstellen.
„Ja wissen Sie Herr“, --- jetzt hatte er doch den Namen vergessen, der draußen neben der Tür stand. „Kleinschmitt de Name, Klaus Kleinschmitt, mit zwei Ke und zwei Te.“ Kleinschnitt mit zwei Ke und zwei Te lachte fröhlich ob seines Witzes. Der Gag war zwar nicht besonders lustig, aber nicht jeder konnte „Pfeiffer“ heißen mit drei F, eins vor dem Ei, zwei hinter dem Ei.
Slot lachte trotzdem. „Ja wissen Sie Herr Kleinschmitt, das ist eine Sache, die dem Oberbürgermeister sehr am Herzen liegt. Es wird eine Festschrift geben über Ingelborn und deshalb brauche ich ein paar Informationen. Es liegt dem Oberbürgermeister wirklich sehr am Herzen. Sie können ihn auch gerne anrufen.“
„Nää, nää, mit Oberbürgermeisters will ich nix am Hut hahm. Dat brauchen wir nich hier. Dat kriegen wir schon so hin. Ich bin getz fünfundreißich, nä – sechundreißich Jahre hier in dat Katasteramt, ich kenn hier allet. Wirklich allet. Da brauchen wir kein Oberbürgermeister zu. Also wat is interessant für Ihne Ihre Festschrift. Sie können allet haben, wat Sie wolln.“
Kleinschmitt öffnete wirklich interessante Quellen. Er hatte, auch aus eigenem Interesse, versteht sich, denn er war im Angelverein Vorsitzender, Zugang zu allen möglich Unterlagen. Auch solchen, die schon vor geraumer Zeit entstanden waren. Sie mussten lediglich im städtischen Computernetz zu finden sein.
„Jungfernpfad 14, dat ham wer doch jeleich. Getz is dat hier so ne Sache. Dä Jungfernpfad jibets ers seit 1952. Ers da wurde dat Gelände bebaut. Wat is datt denn?“ Kleinschmitt beugte sich tief über seinen Monitor. In Schwarzweiß waren viele Striche, Schraffuren und Schriften zu sehen. Anscheinend ein Plan, aber viel komplizierter. „Mommentde mal! Da muss ich watt gucken.“ Kleinschmitt ging an einen anderen Computer, ließ sich unter Schnaufen und Gestöhne auf dem Bürostuhl nieder und hackte auf der Tastatur herum. So viel körperliche Behändigkeit hatte Slot ihm gar nicht zugetraut.
Irgendwann, Slots Gedanken waren bereits weit abgeschweift, kam er zurück. „Vielleicht interessiert Sie dat ja. Getz is dat viel komlizierter als ich dat jedacht hab. Dä Jungfernpfad hieß früher nich Jungfernpfad, sondern hatte jar kein Name. Dat war nur son Feldweg. Wissen Se, aufm Acker en Wech, mehr nich. Un da ist einjezeichnet, dat dat da 1944 ne Flack jejeben hat, also gegen die Fluchzeuche zu schießen, die vonne Feinde. Un dann war daen Bunker jeplant. Aber et is nich klar, ob dat Ding auch jebaut wurde. Damals. Denn irjendwann konnt ja jeder machen, wat e wollte.“
Slot fiel fast vom Stuhl, als er das hörte. Ein Bunker im Jungfernpfad. Vielleicht.
„Können Sie“, er musste sich erst räuspern, „können Sie feststellen, wo der Bunker gelegen haben könnte, wenn es ihn denn tatsächlich gegeben hat?“ Slots Hände schwitzen.
„Aber sischer dat. Ich brauch blos die beiden Karten übernanderzulejen, un dann seh ich dat. Mit Elektronik is dat heute jar kein Problem mehr. Früher hätt ich gez in dat Archiv im Keller jemusst, un Sie hätten in ner Woche wiederkommen können. Muss ma gucken. So, gez hab ich dat. Dat wäre an die Stelle jewesen, wo heute dat Haus Nummer 14 steht. Jungfernpfad Nummer vierzehn, janz sischer.“
Slot hielt die Luft an. „Was ist denn mit den Bunkerplänen passiert?“
„Dat kann isch Ihnen nit sagen. Da hab ich nix. Aba dat bedeutet au nix. Viernvierzich fünfnvierzich hat keiner an das Katasteramt jedacht. Da hat ma annen Keller jedacht, wenn die Fliejer kamen un Bomben schmissen.“
Er sah weiterhin interessiert auf seinen Monitor.
„Wat is datt dann? November 1945, direkt nachem Krich, wurde datt erste Haus jebaut. Lang vor de Währungsreform 48. Wer konnt dat dann da bezahlen, damals? Da muss isch doch ma gucken. Wie ging denn dat? Dat is jaen Ding! Da hat doch wer 45, direkt nachem Krich dat Haus jebaut. Mittn aufn Acker. Aufn Platz, wo später dat Haus Nummer 14 steht. Für achthundert Reichsmark jekauft dat Jrundstück. Vonne Stadt. Bar jezahlt. Donnerwetter. Un jebaut mit de Jenemijung vonne Stadt. De muss aba jute Beziehungen jehabt haben. Vitamin B. musse eben haben.“
Kleinschmitt lachte über seinen Witz. Kleinschmitt schien sowieso gerne über seine eigenen Witze zu lachen.
„Ist bekannt, wer das Grundstück gekauft und wer das Haus gebaut hat?“
„Sischer dat! Steht alles hier drin! Dat is preussische Jründlichkeit. Jekauft hat dat Grundstück vonne Stadt eine jewisse Gerlinde Konrad, jeborene Schneider. Jeboren am 25. Februar 1918 in Berlin. Wann se jestorben is, steht hier nit drin. Aba wenn se hier bei uns jestorben is, dann kann ma dat rauskriejen. Wollnse dat wissen?“
„Nein danke, muss nicht sein, das ist schon genug. Wer hat denn aber das Anwesen später übernommen? Kann man das rausbekommen?“
„Sischer dat. Dat steht alles hier drin. Dafür sin wa ja dat Katasteramt. Jeerbt hat dat Anwesen, also Jrundstück un Jebäude, Juann Jarzia, dat mussn Verwandter jewesen sein. 1986. Dat hört sich an wien spanische Verwandter. De konnte de Erschaftssteuer wohl auch bar bezahlen, denn et jibt keinen Eintrach über ne Hypothek. 1995 jibet dann hier nochn Eintrach, dat dat Haus umjebaut wurde, mit Baujenehmijung vonne Stadt. Auch da au noch kein Eintrach vonne Hypothek. Mann, dat müssen reiche Leut jewesen sein die Jarzias. Alle Penunse bar ausse Tasche! Wer kann dat schon?“
Slot verabschiedete sich überschwänglich von Klaus Kleinschnitt mit zwei Ke und zwei Te, nicht ohne darauf hingewiesen zu haben, den Herrn Oberbürgermeister der Stadt von seinem zuvorkommenden Mitarbeiter im Katasteramt Kenntnis zu geben.
„Dat brauchen Se nit. Isch geh in drei Wochen in Rente, angeln un so. Da brauch isch so wat nit mehr. Aber trotzdem: Nix für unjut. Bisie Tage!“
I/12.
Langsam schwebte die Maschine dicht über das Wasser. Heftige Windböen ließen das Flugzeug taumeln. Dann kam urplötzlich das Land näher, rechts, vom Fenster aus, zuerst kaum zu sehen, ein qualmendes Ölfass und dann unmittelbar darauf ein heftiger Aufprall, Steine wurden von den Rädern hochgeschleudert, schlugen gegen die metallene Außenwand. Das ganze Flugzeug wurde heftig durchgeschüttelt. Obergruppenführer Dr. Herrmann Konrad, im Auftrag des Führers unterwegs, hielt sich krampfhaft am Sitz fest, obwohl er stramm angeschnallt war. Landungen auf Feldflugplätzen hatte er zwar schon oft erlebt, eine so schlechte Piste war ihm allerding noch nicht begegnet. Rumpelnd kam die Maschine zum Stehen.
„Maschine sichern, auftanken und tarnen. Wollen doch nicht, dass der Tommy entdeckt, wer hier zu Besuch ist.“ Befehle gingen Konrad schon immer glatt von den Lippen. „Außerdem: Wer ist zuständig für die Piste? Muss geglättet werden. Aber flott. Ist ja ein Saustall. Wer soll denn hier landen?“
Draußen war ein Kübelwagen vorgefahren, der Navigator hatte die Türe geöffnet und eine kleine Leiter herausgeklappt. Das Empfangskomitee, vier Mann hoch, war angekommen. Konrad ordnete seine Kleidung, rückte Pistole und Mütze gerade und trat hinaus. Draußen ein warmer, heftiger Wind. „Passatwinde“ ging es ihm durch den Kopf.
„Heil!“ Das Empfangskomitee hob stramm den Arm zum gerade noch aktuellen „deutschen Gruß“, der schon bald nicht mehr aktuell und danach überhaupt nicht mehr gefragt sein würde. Konrad grüßte lässig zurück, sein Begleiter war im Denkprozess schon um Wochen weiter und nickte nur noch.
„Nachrichten von XQH?“
„Keine Obergruppenführer! Willkommen in Puerto de la Cruz.“
„Nachrichten aus Berlin?“
„Es sollen noch weitere Herren unterwegs sein. Wer, wissen wir noch nicht.“
„Probleme mit feindlicher Aufklärung?“
„Ab und zu fliegen sie über uns hinweg. Sie vermeiden aber den direkten Kontakt. Spanien ist neutral und der Caudillo empfindlich, was die Souveränität betrifft.“
Inzwischen zerrten mehrere Männer ein großes Tarnnetz mit einem wüstenähnlichen Muster über das Flugzeug. Die Leute fluchten, weil der Wind das große Teil immer wieder von der Maschine abhob.
„Obergruppenführer, wir haben ein Frühstück im Dorf vorbereitet. Empfehle, wir fahren hinüber, dann fällt Ihr Besuch hier nicht so auf und für Sie ist es bequemer.“
Konrad und sein Begleiter stiegen sofort in den Kübelwagen, um hier wegzukommen. Es wurde heiß, der Wind nahm zu und der Dreck flog ihnen in die Augen. Das Dorf lag unten am Wasser, nur ein kurzes Stück entfernt vor dem Leuchtturm. Es war weitgehend leer, denn die Bewohner waren aus diesem Teil der Insel schon vor Jahren weggejagt worden. Jetzt gab es hier nur noch deutsche Soldaten und SS.
Das Dorf Puerto de la Cruz lag nur ein paar hundert Meter westlich der Landebahn auf der Halbinsel Jandia. Ein winziges Dorf. Ein paar Hütten nur. Doch die deutschen Soldaten hatten sich gemütlich eingerichtet. Es gab Wohnhütten und eine Kantine. Die Wehrmacht des Deutschen Reiches lief hier aber nicht in Uniformen herum, sondern in Zivilkleidung mit nur ganz wenigen militärischen Erkennungszeichen. Eigentlich war Spanien neutral und wollte diesen Schein auch weiter nach außen tragen. Andererseits aber war der spanische Diktator Franko, nach seinem Sieg über die republikanischen Truppen Spaniens und ihre Verbündeten, dem deutschen „Führer“ und dem italienischen „Duce“ zu Dank verpflichtet. Innerlich war er den beiden Diktatoren ohnehin verbunden, weshalb er sich, eine gewisse Gleichheit unter Diktatoren muss wohl sein, ebenfalls „Führer“, eben „Caudillo“ nennen ließ. Deshalb, das ging wohl auf eine Verabredung mit dem Chef der deutschen Auslandsabwehr Admiral Canaris zurück, sah er bei dem deutschen Engagement auf Fuerteventura einfach weg und ignorierte offiziell die Aktivitäten.
Die westliche Hälfte der Insel, Jandia, war kurzerhand zum militärischen Sperrgebiet erklärt worden. Der eigentliche deutsche Stützpunkt lag indes auf der nördlichen Seite des Gebirges von Jandia und unterlag strenger Geheimhaltung. Hier durften sich lediglich Angehörige der SS aufhalten, nachdem die Bauarbeiter wieder abgezogen waren und die Insel verlassen mussten. Die nördliche Seite des Gebirges hatte aber den Nachteil, dass hier für Überwasserschiffe kein Hafen gebaut werden konnte. Entweder waren die Felsen zu schroff oder der Sandstand war zu flach. Fahrrinnen auszubaggern wäre zu auffällig gewesen und die wären, bedingt durch die starke Meeresströmung, auch schnell wieder verschüttet worden. Deshalb wurde auf der südlichen Seite der vorhandene kleine Hafen Morro Jable genutzt, um Material und Arbeitskräfte heranzubringen.
„Gibt’s hier Ratten?“ Der Obergruppenführer schnüffelte bedenklich durch die Nase.
„Nicht mehr, Obergruppenführer. Die haben wir ausgerottet. Die Küche ist sauber.“ Der Chef des Empfangskomitees hatte einen Heidenrespekt vor seinem neuen Gast. Er wusste, ein falsches Wort und es gab richtig Ärger mit der obersten Führungsspitze.
„Wir haben Bohnenkaffee, Eier mit Speck und frischgebackenes Brot vorbereitet. Natürlich auch Wurst und Käse. Bitte auftragen zu dürfen.“
Konrad nickte nur. Er war müde, durchgeschüttelt und schlecht gelaunt. Die plötzliche Wärme, der Wind, der Dreck, alles war ihm zuwider. Vielleicht konnte ja der Kaffee helfen.
I/13.
Vorsichtig näherte sich Slot dem Haus Nummer 14. Man konnte ja nie wissen, ob nicht ein vorwitziger Erbe oder die Polizei sich in das Haus drängelte und seine Erkundungen störte.
„Guten Tag, Perry!“ Slot zuckte zusammen. Die alte Frau Schneider, die von der Nummer 12, kannte ihn natürlich schon von klein auf als Perry. Musste die alte Frau denn tatsächlich ausgerechnet jetzt in ihrem Garten herumfuhrwerken und ihn daran hindern, ins Haus seiner Begierde hineinzukommen.
„Guten Tag, Frau Schneider, alles in Ordnung?“
„Wie man‘s nimmt, der Rücken macht nicht mehr so mit. Aber ich bin ja auch nicht mehr neu.“ Sie lachte. „Ist das nicht furchtbar, das mit dem Herrn García. Ich habe es in der Zeitung gelesen. Geschossen haben sie auf ihn und dann ist er gestorben. Aber, das muss man schon sagen, er war immer ein verschlossener Mensch. Ganz anders als seine Tante, die Frau Konrad. Die war immer sehr lustig. Manchmal aber auch ein bisschen ordinär. Aber bei der hat sich ja keiner getraut, was zu sagen. Der Mann muss früher ein hohes Tier gewesen sein. Ist aber im Krieg geblieben. Wurde erschossen, so wurde gesagt. 1945, als der Krieg schon fast vorbei war. Schrecklich für die Frau. Sie ist dann später auch weggezogen. Niemand wusste wohin. Ach ja, aber das ist so lange her.
„Wissen Sie noch, was der Mann gewesen war?“
„Ach weißt du, das waren so Sachen, wo man nicht gefragt hat. Irgendwas in der Partei. Ich habe nicht gefragt. Es ging mich ja auch gar nichts an.“ Sie stützte sich auf ihren Rechen und versuchte sich aufzurichten. „Ja der Rücken! Ich glaube, ich muss mich mal hinlegen. Es wird mir jetzt auch zu warm. Mach‘s gut mein Junge. Schön, mal wieder mit dir gesprochen zu haben.“ Sie drehte sich um und ging in Richtung ihres Kellereingangs. Als sie hinter der Türe verschwunden war, sprang Slot behände über den niedrigen Zaun der Nummer 14 und verschwand hinter der Hausecke.
Der Weg durch den Keller war ihm inzwischen vertraut. Er steckte den Stecker der Bodenlampe in die richtige Steckdose und öffnete die Geheimtür. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er überall seine Fingerabdrücke und seine Spuren hinterlassen hatte. Fußspuren, Haare, Schuppen, Hautpartikel. Sollte dies die Polizei einmal untersuchen, dann würden sie eindeutige Hinweise haben, um ihn zu finden. Dafür aber war es jetzt zu spät. Seine Spuren waren überall, er konnte sie nicht mehr verwischen. Er schloss die Geheimtüre von innen und öffnete die Metallwand. Unten, da wo der Bunker sein musste, war es stockdunkel. Er erinnerte sich an das kleine rote Licht an der Decke und drehte den Schalter um. Unten flammten flackernd Neonröhren auf. Der Raum wurde von kaltem Licht erleuchtet.
Die Leiter war aus Eisen und machte einen stabilen Eindruck. Sie war an der Wand festgeschraubt und in regelmäßigen Abständen mit Bügeln versehen, die ein Abstürzen des Kletterers verhindern sollten. Es war eine sehr lange Leiter. Sie führte durch den Keller des Hauses hindurch, weit in die Tiefe.
Slot bekam in einem sehr hohen Raum wieder festen Boden unter die Füße. Der Raum war klein und hatte zwei Stahltüren, die mit jeweils zwei großen Hebeln verschlossen werden mussten. Solche Türen hatte Slot bisher nur in Fernsehberichten über Bunker gesehen, gasdicht und explosionssicher. Vorsichtig näherte sich Slot der rechten Türe und versuchte den oberen Hebel umzulegen. Es ging spielend leicht, so als sei die schwere Türe eben erst gewartet worden. Er öffnete auch den unteren Verschluss und drücke die Türfüllung auf. Auch jetzt war keine Kraft nötig. Dahinter ein dunkler Raum. Die Taschenlampen hatte er zu Hause vergessen und seine tastenden Hände fanden keinen Lichtschalter in der Nähe des Einlasses.
Die linke Türe bot ebenfalls keinen Widerstand und führte in einen kleineren Raum, in dem anscheinend eine Maschine stand. Das Licht des Vorraums ließ erahnen, dass möglicherweise hier ein Verbrennungsmotor eine Lichtmaschine antreiben konnte. Mehr war aber nicht zu erkennen.
Slot verließ den Bunker und das Haus, denn ohne Taschenlampe war hier nichts zu machen. Er wollte bis zum späten Abend warten, dann aber fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, die Geheimtüre wieder zu schließen. Wenn jetzt jemand käme und das Haus beträte, dann würde nicht nur sein Besuch auffallen, der Geheimraum wäre verraten und der weitere Zugang zu den geheimnisumwitterten Räumen bliebe ihm damit zukünftig verwehrt. Also musste er zurück, um zumindest den geheimen Zugang zu verschließen. Er hatte Angst. Doch dann siegte die Neugier. Er zog sich einen dicken, dunklen Pullover an, denn dort unten im Bunker war es doch empfindlich kalt gewesen. Dann steckte er sich seine beiden Lampen ein und begab sich auf den Weg.
„Guten Tag, Herr Slot.“ Sein immer gut gelaunter Nachbar, der erst vor knapp einem Jahr sein Haus renoviert hatte, schickte sich an, mit ihm ein längeres Gespräch zu führen. Er saß auf einem selbstfahrenden Rasenmäher wie weiland Rudolf Caracciola, oder heute besser, Fernando Alonso Diaz.
„Heute so warm angezogen. Sind Sie erkältet. Es ist doch schön warm. Da schwitzt man doch. Ja, ja: Es frieret selbst im dicksten Rock der Säufer und … na ja und der andere. Nichts für ungut Herr Nachbar. Für einen guten Witz muss man auch mal eine Freundschaft riskieren. Ha ha ha.“
Wie einige seiner Zeitgenossen konnte auch dieser Vertreter über seine eigenen Witze am besten lachen. Slot lachte ein wenig gekünstelt mit, denn er wollte ihn loswerden. „Muss weiter, Sport!“ Ein Wort, das immer hilfreich ist. „Wiedersehen, Herr Schmitz.“
Hinter der Nummer 14 bog er im Trabschritt ab in den Wald, wo er ziemlich atemlos ankam. Sportliche Betätigung war seine Sache weniger. Er sah sich um. Nachbarn oder Spaziergänger waren keine zu sehen, von Ferne knatterte ein Rasenmäher, und irgendwo spielten lautstark Kinder. Mühsam kletterte er über den Zaun, der hier am Waldrand wesentlich höher war als auf der Vorderseite des Hauses. Er nutzte etwas ungeschickt, schließlich war er kein Indianer auf dem Kriegspfad, die Sträucher auf dem Grundstück, um sich dem Haus heimlich zu nähern. Dann aber erkläre er sich selbst für bescheuert. Für einen Beobachter bewegte er sich wie ein Dieb. Er schlich sich an wie einer, der Böses will, so musste es zumindest aussehen. Nach dieser Einsicht ging er gemütlich weiter, als wolle er etwas auf vertrauter Umgebung erledigen, quer über den Rasen, hin zu dem Kellereingang auf der Seite des Gebäudes. Er schloss auf, trat ein und verriegelte die Türe von innen.
Wenige Minuten später stand er am Fuße der Leiter vor den beiden Luftschutztüren. Die Zugänge hinter sich hatte er vorsichtshalber von innen verschlossen. Man konnte ja nie wissen.
Slot wandte sich dieses Mal zuerst der linken Türe zu. Dem Raum mit der Maschine. Im Schein seiner großen Lampe erkannte er, was er bereits vermutet hatte. Hier stand ein Generator älterer Bauart mit einem Motor. An der Wand befestigt ein großer Tank. Er klopfte daran. Der Tank war leer. Auch Motor und Generator machten den Eindruck, als seien sie jahrzehntelang nicht in Betrieb gewesen. Staub lag auf allen Bauteilen, an den Schmierstellen eingetrocknetes schmutziges Fett, die Kabel brüchig. Einen gar nicht brüchigen Eindruck machte dagegen der moderne Sicherungskasten auf der anderen Seite des Raumes. Hier herrschte Staubfreiheit und neue Technik. Sogar moderne Fehlerstrom-Schutzschalter waren eingebaut. Es gab einen Anschluss für Kraftstrom und etliche Sicherungen für Beleuchtung und Steckdosen.
Seltsamerweise gab es hier keinen Staub, keinen Schmutz, nichts, was darauf hinweisen konnte, dass hier Menschen arbeiteten oder ein und aus gingen. Es war eine saubere, völlig intakte, aber verlassene Welt. Trotzdem war die Luft frisch, keine Spur von Schimmelgeruch oder Muffigkeit. An der Wand befand sich eine Öffnung, und als Slot die Hand davorhielt, spürte er eine funktionierende Belüftung. Die elektrische Anlage war betriebsbereit. Jetzt fand er auch den Lichtschalter, neben dem oberen Ende der Türe. Er konnte nicht aus der Bauphase stammen, denn er entsprach den neuesten Bauvorschriften für Nassräume.
Die zweite Tür ließ sich wiederum ohne Schwierigkeiten öffnen. Slot hatte gelernt, dass die Lichtschalter in diesen Räumen zwar neben der Tür, aber in größerer Höhe als normal angebracht waren. Im großen Raum flammten zahlreiche Leuchtstoffröhren auf und tauchten den Raum in kaltes Licht. Auf verschiedenen Paletten entlang der Wände waren einige Kisten unterschiedlicher Größe aus Holz und Blech gelagert. In der Mitte, auf besonderen Gestellen, hingen Kleidungsstücke militärischer Art. Das gesamte Lager war sauber, so sauber, als kümmere sich jeden Tag ein Trupp von Verwaltern um die ordnungsgemäße Abwicklung der Geschäfte.
Auf der gegenüberliegenden Seite war ein Durchlass in der Größe einer normalen Türe, allerdings ohne Rahmen und Füllung. Die Wände waren mit einer merkwürdigen gelblichen Farbe gestrichen. Slot hatte vor langer Zeit einmal gehört, dass im Inneren der Bunker eine Farbe benutzt wurde und wird, die im Dunkel noch eine gewisse Zeit leuchtet. Bei Ausfall der elektrischen Beleuchtung sollte dieses Licht noch die Möglichkeit geben, sich in den Räumen zu bewegen. Angeblich reichte diese Lichtspeicherung für einige wenige Stunden. Als Slot, er wollte das schließlich genauer wissen, das Licht im Raum ausschaltete, strahlten die Wände ein unsicheres, grün- gelbliches Licht ab, das zuerst stark abnahm, sich dann aber in der Intensität auf niedrigem Niveau hielt. Der Restaurator der Bunkeranlage hatte anscheinend an alles gedacht.
Der hintere Raum war auf einer Seite angefüllt mit kleinen hölzernen Behältern und auf der anderen Seite mit acht doppelstöckigen Etagenbetten. Die Matratzen waren mit weißen Tüchern bezogen, auf jedem Schlafplatz lagen eine Wolldecke und ein Kissen. Die Betten erzeugten den Eindruck, als erwarte man in jedem Moment Gäste. Slot fasste erstaunt die Bettbezüge an und musste feststellen, dass sie trocken und frisch waren. Neben den Betten, an der schmalen Stirnwand, befand sich in halber Höhe eine Blechklappe, wohl ein Quadratmeter groß, zu der Stahlbügel als Leiterstufen in die Wand eingelassen waren. Als Slot die Klappe öffnete, auch hier wieder zwei Hebel, blickte er in einen längeren Tunnel, anscheinend aus großen, massiven Kanalröhren erbaut. Auch hier waren in regelmäßigen Abständen geschützte Lampen an der linken Wand angebracht, die mit einem Schalter am Anfang des Tunnels in Betrieb gesetzt werden konnten. Alles funktionierte. Nach geschätzten 30 Metern knickte der Gang nach links ab. Der Lichtschein an der gegenüberliegenden Wand verriet, dass es dort weiterging. Wie, ließ sich vom Eingang aus nicht erkennen.
Slot war erschüttert. Hier hatte sich anscheinend jemand aus einem alten Schutzraum der Nazizeit seinen privaten Atombunker angelegt, weitergebaut und vervollkommnet. Für was sollte das nützlich sein und warum wollte ein „Kunsthändler“ so eine Anlage besitzen. Um das zu klären, musste er sich die Anlage genauer ansehen.
I/14.
U-Boot Typ XXI, Rufzeichen XQH, Position 38 Grad 11 Minuten Nord, 16 Grad 26 Minuten West, Kurs Süd. Nächster Anlaufpunkt: 28 Grad 11 Minuten Nord, 14 Grad 24 Minuten West. Horchalarm.
„Maschinen langsame Fahrt, auf Seerohrtiefe gehen. Alle auf Gefechtsstationen!“ Während die Befehle wiederholt wurden, rannten die Männer auf ihre Stationen und der Leitende Ingenieur überwachte das Einpendeln des Boots auf Seerohrtiefe. Wenn oben der Kopf des Sehrohrs aus dem Wasser ragte, befand sich der Kiel in 14,5 Meter Tiefe. Der Nachteil bei dieser Lage war, dass Flugzeuge das Boot jederzeit aus der Luft erkennen und angreifen konnten. Das Boot selbst hatte kaum Möglichkeit, den Angreifer zu erkennen. Deshalb wollte der Kommandant sich jetzt nur einen kurzen Überblick verschaffen. Bei einer Entfernung von 8 Meilen war aus der niedrigen Position des Seerohres außer den Mastspitzen des Schiffes nichts zu erkennen.
„Frachtschiff, Sie hatten Recht. Ein Einzelfahrer. Recht hohe Geschwindigkeit. Fährt genau unseren Kurs.
Horchmaat! Objekt weiter verfolgen. LI! Auf 40 Meter gehen. Alle Kraft voraus. Unter Wasser sind wir mit diesem Typ XXI schneller als über Wasser. Ein entscheidender Vorteil dieses neuen Boots. Wollen doch mal sehen, ob wir den Kerl einholen können. Wenn wir ihn haben, hängen wir uns dran und lassen ihn für uns Krach machen. Wenn der Tommy oder der Ami nach uns suchen sollten, sollen sie ruhig ein Schiff finden. Aber nicht uns. Eins WO, übernehmen Sie.“
Während der 1. Wachoffizier das Kommando übernahm, ging der Kommandant in das Funkschapp. Hier wurde auch die Horcheinrichtung abgehört. „Lass mal hören!“ Der Funker reichte ihm den Kopfhörer und der Kommandant bediente selbst die Richtungssteuerung. Im Umkreis von 360 Grad war das Frachtschiff voraus die einzig messbare Schallquelle. Das bedeutete allerdings nicht, dass es keine weiteren Schiffe in der Nähe gab. Die konnten entweder mit ganz kleiner Kraft fahren oder still liegen und horchen. Auch die eigenen U-Boote hatten oftmals diese Taktik angewandt und waren damit schon häufig auf Beute gestoßen. Deshalb wollte der Kommandant dicht an den Frachter heran. Dann nämlich würden die Geräusche seiner Elektromotoren im Lärm der großen Schiffsdiesel untergehen. Eine perfekte Tarnung.
Sie brauchten rund vier Stunden, bis sie den Frachter erreicht hatten. Durch das Sehrohr, auftauchen wollte der Kommandant nicht, konnten sie die Beschriftung des Schiffs lesen. Das Schiff hieß „Plus Ultra“, war anscheinend voll beladen und kam aus Montevideo in Uruguay. In der Schiffsliste des U-Boots wurde er als Stückgutfrachter geführt. Was der Bestimmungshafen war. konnten sie natürlich nicht feststellen. Das war aber in diesem Moment auch gleichgültig. Hauptsache war allein, dass der Kahn ungefähr in ihre Richtung fuhr.
„Alle mal herhören!“ Der Kommandant rief seine Leute über die Sprechanlage zur Aufmerksamkeit. „Ich kann euch jetzt sagen, wo es vorerst hingeht. Wir fahren an die Nordküste von Fuerteventura. Wer es noch nicht weiß: Das ist eine Insel vor Afrika und gehört zu den Kanarischen Inseln und die gehören zu Spanien. Wie es dann weitergeht, bekommen wir dort gesagt. Das ist alles!“ Der Kommandant hängte das Mikrofon wieder an seinen Platz in der Zentrale und sah dem zweiten Wachoffizier zu, wie er die zurückgelegte Strecke koppelte.
„Wie genau, glauben Sie, ist die Koppelei?“
„Wenn die Karten stimmen, die wir haben, dann müssten wir ziemlich präzise wissen, wo wir sind. Ich traue aber den Strömungskarten nicht. Die sind uralt, und ob die damals so genau gemessen haben, wage ich zu bezweifeln. Wir kriegen dann möglicherweise einen Strömungsversatz, der uns ganz anders trifft als das errechnete Ergebnis. Wir loten aber häufig und versuchen die Tiefe unter uns mit der eingetragenen Tiefe auf der Karte zu vergleichen. Irgendwann aber sollten wir auftauchen, dass ich ein Besteck aufnehmen und unsere Position geprüft werden kann.“
„Machen wir. Nachts. Und hoffen wir, dass wir gute Sicht haben. Loten Sie aber nicht zu häufig. Der Funkmessstrahl zum Grund ist über weite Entfernung messbar. Ich will nicht, dass wir uns auf den letzten Meilen verraten.“
„Jawohl Kommandant.“
„LI, wie sieht es mit unseren Batterievorräten aus? Reicht es bis heute Nacht?“
„Reicht dicke. Ich würde aber gerne heute Nacht richtig auftauchen. Der Schnorchel ist bei diesem Seegang doch der letzte Dreck. Die Wellen sind zu hoch und das Ding geht dann dauernd unter. Dann schließt das Kugelventil. Und dann holen sich die Diesel die Luft aus dem restlichen Boot. Das haut jedes Mal heftig auf die Trommelfelle und auf die Augen. Das hält auf die Dauer kein Mensch aus. Wir müssen aber die Diesel zum Nachladen anschmeißen. Außerdem müssen wir das Boot belüften. Die Luftreserven gehen schneller zur Neige als der Batteriestrom. Und ich würde gerne die Zylinder durchblasen, die Schleichfahrten unter Diesel haben uns zu viel Ruß in den Maschinen angesammelt. Das Zeug muss raus.“
„Wie lange brauchen Sie bis zur Vollladung?“
„Rund drei Stunden, vielleicht dreieinhalb. Mehr nicht.“
„Horchmaat! Was macht unser Dampfer?“
„Fährt stur geradeaus, Kurs und Geschwindigkeit gleichbleibend, rund 50 Meter voraus, 70 Meter über uns. Wir sind außerhalb der Schraubenwirbel. Der Kerl ist sehr laut. Die Messung von Schraubengeräuschen anderer Schiffe ist unter diesen Umständen nicht möglich.“
„Dann fahrt mal schön weiter.“ Neumann war froh, dass er sich für längere Zeit aufs Ohr legen konnte. Auch Kommandanten müssen manchmal ein paar Stunden schlafen.
I/15.
Slot ging in den ersten Raum zurück. Die Holzkisten waren beschriftet, die Farbe war allerdings stark verblasst. 5 X StG 44 konnte er mit Mühe erkennen, konnte damit aber nichts anfangen. Auf anderen Kisten schien die Beschriftung griechisch zu sein. Er hatte zwar in seiner Schulzeit ein paar Jahre Griechisch lernen müssen, hatte aber das meiste wieder vergessen. Plötzlich erinnerte er sich. Es gab Kyrill von Saloniki, diesen verrückten griechischen Mönch oder Bischof nach dem das russische Alphabet benannt worden war. Diese Kisten stammten nicht aus Griechenland, sondern aus Russland oder der ehemaligen Sowjetunion. Slot kramte seine verschütteten Kenntnisse aus den Tiefen seines Gedächtnisses. „Awtomat Kalaschnikowa obrasza 47“. Kalaschnikows, Sturmgewehre oder Maschinengewehre oder etwas Ähnliches war anscheinend in der Kiste. Aus dem Jahre 1947 oder später. Millionen von den Dingern waren produziert worden. Aber alle nach 1947, nach dem Krieg. Im Westen nicht ohne Weiteres zu bekommen. Kriegswaffen. Nicht für den privaten Gebrauch. Nur für Soldaten, Gangster und Revolutionäre. Wer hatte nach dem Krieg in Westdeutschland so etwas sammeln und einsetzen wollen?
Die Kisten hatten aufklappbare Deckel und waren gegenüber den Scharnieren mit Ösen verschlossen. Die Ösen wurden durch Schrauben mit Flügelmuttern gesichert. Slot konnte nur mit Mühe die verrosteten Schrauben drehen. Die Kisten waren entweder noch nie oder schon sehr lange nicht mehr geöffnet worden. Slot hatte kein Werkzeug und versuchte es mit den Fingern. Er rutschte zwar immer wieder an der Mutter ab, aber schließlich hatte er die beiden Schrauben entfernt. Was er zuerst sah war Holzwolle, jede Menge Holzwolle. Als er aber hineingriff, förderte er tatsächlich vier dieser legendären Kalaschnikows heraus. Vier Stück in einer Kiste, jeweils eingeschlagen in Ölpapier mit einem Jutesack darüber. Die Waffen wirkten so unberührt, als kämen sie soeben aus der Fabrik, eingefettet und poliert. Nie benutzt, völlig neu. Die Magazine, zwölf Stück, waren extra verpackt und lagen am Rande verteilt. Die Waffen trugen russische Schriftzeichen, hatten Nummern und eingeschlagene Stempel. Slot nahm an, dass sie tatsächlich aus russischer Produktion stammten. Munition war keine zu finden. Slot packte alles wieder ein. Unbehaglich war ihm. Die Sache begann richtig gefährlich zu werden, keine kleine Spielerei mit der Vergangenheit, sondern Konfrontation mit krimineller Gegenwart. Die Schrauben drehte er nur wenig ein, seine Finger hatten beim Öffnen der Flügelmuttern zu sehr gelitten.
Er fand insgesamt fünf Kisten mit den Maßen und der Beschriftung der Schießeisen aus Russland. Das waren wohl zwanzig hochgefährliche Gewehre mit insgesamt sechzig Magazinen. Ausrüstung für eine kleine Armee.
Daneben die Kisten mit der undeutlichen Schrift 5 X StG 44. Drei Stapel je vier Kisten. Auf der obersten Kiste im linken Stapel lag der Deckel nur lose auf. Die anderen Kisten waren anscheinend verschraubt oder vernagelt. Slot nahm den Deckel ab und musste sich auf eine niedrige Blechkiste daneben stellen, um hineinsehen zu können. In der Kiste lagen, sauber aufgereiht in präzise geschnittenen Führungen, fünf Gewehre. Je zwei Magazine für jedes Gewehr lagerten in extra abgeteilten Holzfächern an der Schmalseite. Die Waffen sahen ebenfalls fabrikneu aus, waren eingefettet und hatten durchsichtige Cellophanhüllen. Dazwischen lagen kleine Heftchen aus vergilbtem Papier. Slot griff danach, musste dann aber sehr vorsichtig zu Werke gehen, denn das Papier zerfiel sofort unter seinem groben Griff. „Dienstanweisung der Großdeutschen Wehrmacht für den Gebrauch des Sturmgewehrs 44“ konnte er in gotischer Schrift auf dem Deckblatt lesen. Ein deutsches Sturmgewehr 44 hatte er also vor sich. Was hieß „ein“ Sturmgewehr, hier lagerten voraussichtlich 60 dieser Sturmgewehre mit 120 Magazinen. Die Privatarmee des Bunkerbesitzers wurde immer größer. Ausgerüstet mit Waffen der Wehrmacht und der russischen Armee. Eine merkwürdige Kombination. Zusammen achtzig Gewehre. Achtzig! Und dazu Unmengen von Munition. Slot legte den Deckel wieder zurück, als hätte er ihn nie abgenommen. Als wolle er nichts mit dem Inhalt zu tun haben.
In der Blechkiste, auf der er gestanden hatte, fand er Papiere. Die Kiste hatte einen einfachen Verschluss und war leicht zu öffnen. Er fand schreibmaschinengeschriebene Seiten und großformatige Konstruktionszeichnungen. Säuberlich geordnet in Mappen aus Karton. Mit der Bezeichnung, die er las, konnte er nichts anfangen: Aggregat 4. Andere Blechkisten enthielten weitere Papiere. In einer der Holzkisten, sie waren kleiner und hatten Gurte, wohl um sie zu transportieren, fand er Pappschachteln mit Patronen. Es gab viele kleinere Kisten mit Gurten. Er bekam den Eindruck, dass sich in den Holzkisten Waffen und Munition und in den Blechbehältern Papiere befanden. Er verließ sich auf Stichproben: FZG 76, auch mit dieser Bezeichnung konnte er nichts anfangen.
Er zählte grob zusammen: Über vierzig Holzkisten, große und kleine, und, wenn nicht noch weitere unter den Stapeln versteckt waren, rund sechzig Blechbehälter unterschiedlicher Größe. Über 100 Kisten allein in diesem Raum. Waffen, Munition und geheime Papiere. Dass die Schriftstücke und Zeichnungen geheim waren, davon ging Slot jetzt aus.
I/16.
Puerto de la Cruz war ein kleines Dorf am westlichen Ende der Insel Fuerteventura. Allein dass ein Flugfeld in der Nähe war, brachte dem Ort ein wenig Aufmerksamkeit. Konrad saß mit seiner Begleitung und dem Empfangskomitee beim Frühstück in einer zur Kantine umgebauten Hütte. Vielleicht war hier auch vorher eine spanische Kneipe gewesen, nun aber entsprach sie deutschen Vorstellungen. Es gab eine Theke, ein paar Tische mit Stühlen, an der Decke baumelte ein großer Ventilator, der meist wegen Strommangels außer Betrieb war, und an der Wand hing das übliche Bild des Führers.
„Das Bild da könnt ihr bald abhängen!“ Konrad lehnte sich zurück und schloss die Augen. Das Empfangskomitee war wie vom Donner gerührt. Schweißperlen standen auf einmal auf der Stirn ihres Anführers. Das, was er eben gehört hatte, war Hochverrat. Solche Sätze konnten mit dem Tode bestraft werden. Mit solchen Leuten zu tun zu haben konnte gefährlich werden.
„Obergruppenführer, wie meinen Sie das? Wird sich der Führer denn nicht in die Alpenfestung zurückziehen? Wenigstens so lange, bis die Wunderwaffen eingesetzt werden?“
„Wunderwaffen? Alpenfestung?“ Konrad brach in schallendes Gelächter aus. Sein Begleiter trank ungerührt seinen Kaffee, das Empfangskomitee bekam Angst. Solche Äußerungen waren Defätismus, Verrat an Heimatland und Führer. In erster Linie eigentlich am Führer. „Die Alpenfestung“, Konrad beugte sich vor, und seine Stimme wurde leise, „die Alpenfestung ist eine Schimäre. Ein Trugbild. Goebbels hat sie erfunden, ein Werk seiner Propaganda. Eine Luftnummer. Eine reine Erfindung. Die Alpenfestung besteht aus ein paar Bunkern, ein paar Tunneln, ein paar Kasernen, ein paar Straßen, ein paar Flugplätzen und einem großartigen Märchen, das sogar der Feind glaubt. Mit der Alpenfestung können Sie noch nicht mal eine Stadt verteidigen. Die Alpenfestung können Sie sich in den Arsch schieben. Und die Wunderwaffen?“ Konrad lehnte sich wieder zurück, griff nach der Tasse und stellte fest, dass sie leer war. Angewidert stellte er sie zurück auf den Tisch. „Die Wunderwaffen, die sind alle draußen im Flugzeug, in den Blechkisten. Sauber aufgemalt auf Papier. Unsere Wunderwaffen, meine Herren, existieren hauptsächlich auf Papier. Und für die paar, die tatsächlich funktionieren, haben wir kein Material, keinen Treibstoff, keine Rohstoffe und keine Leute, die sie bauen können. Es ist alles im Arsch. Und wir, meine Herren, sind auch im Arsch. Der Führer wird sich nicht – wie sagten Sie – „zurückziehen“. Er wird nicht nach Österreich oder Bayern abhauen, sich absetzen, wegen mir auch „flüchten“. Unser geliebter Führer wird entweder in Berlin hopsgehen oder sich nach Südamerika davonmachen müssen. Die Russen stehen vor seiner Tür und werden nicht besonders freundlich zu ihm sein. Stalin ist rachsüchtig und duldet keinen Potentaten neben sich. Da sind sich die beiden einig. Hitler muss abhauen, und zwar flott.“ Konrad war immer lauter geworden, jetzt schlug er mit der Faust auf den Tisch. „Warum gibt es hier nichts zu trinken?!“
Die Ordonanz im Hintergrund, völlig anachronistisch komplett in Weiß gekleidet, verstand als Erster, was Konrad meinte. Innerhalb weniger Sekunden, die anderen knabberten noch an dem herum, was sie eben gehört hatten, stand er mit Gläsern und einer Flasche spanischen Weinbrandes neben dem Obergruppenführer und schenkte ein.
„Meine Herren“, Konrad kippte das scharfe Zeug in sich hinein und stellte das Glas zum Nachschenken wieder auf den Tisch, „das Großdeutsche Reich ist am Ende. Die tausend Jahre sind vorbei. Der Krieg ist verloren. Darüber sollten Sie sich im Klaren sein. Bleiben Sie aber auf dieser Insel und halten Sie den Weg frei für die Kameraden, die nach Südamerika gehen. Sie müssen hier die Stellung halten. Der Nationalsozialismus ist noch nicht verloren, aber wir müssen woanders neu beginnen. Der Führer hat uns gezeigt, wo es langgeht. Ihm müssen wir folgen. Führer befiehl, wir folgen dir! Das haben Sie doch mal ernst gemeint. Jetzt bleibt Ihnen nur noch das ‚Folgen‘“ Er kippte den nächsten Brandwein. „Auf – auf Ihr Wohl, Obergruppenführer“, stotterte der Anführer des Empfangskomitees. Die Herren, dergestalt auf die Zukunft des Großdeutschen Reiches verpflichtet, tranken auf das Wohl des Obergruppenführers und auf das aller anderen. In erster Linie aber auf das eigene.
Draußen fuhren vier Ochsengespanne vor. Die Tiere wurden vor einer Tränke abgestellt. Auf den Karren türmten sich die Blechkisten aus dem Flugzeug, zur Tarnung von ein paar Tüchern bedeckt. „Obergruppenführer, wohin sollen wir die Behälter bringen?“ Der Unteroffizier stand stramm und erwartete seine Anweisungen. „Warum habt ihr sie auf die Karren geladen? Gibt es etwa hier keine LKW? Seid vorsichtig mit den Kisten, da ist streng geheimes Material des Deutschen Reiches drin. Wenn da was drankommt, mach ich euch zur Sau!“
Konrad war sichtlich ungehalten. Sein Gesicht war gerötet, nicht nur vom Alkohol sondern auch von seiner Wut und seiner Aufregung. „Obergruppenführer, wir haben Befehl, tagsüber alles mit Ochsenkarren zu transportieren. Tarnung vor feindlichen Spionen und Aufklärern. Nur nachts dürfen LKW benutzt werden.“ „Aha“, Konrad sah die Vorsichtsmaßnahme ein, “haben Sie ein sicheres Lagerhaus?“ „Jawohl Obergruppenführer. Hier im Dorf. Kann rund um die Uhr bewacht werden. Völlig sicher. Auch trocken.“ „Gut, stapeln Sie das Zeug da hinein und bewachen Sie es gut. Ich mache Sie persönlich verantwortlich. Warten Sie ab, bis ich neue Befehle gebe.“ Konrad machte einen erschöpften Eindruck. Sein Begleiter setzte unbekümmert sein Frühstück fort und dem Empfangskomitee war der Appetit vergangen.
I/17.
U-Boot Typ XXI, Rufzeichen XQH, Kurs Süd. Nächster Anlaufpunkt: 28 Grad 11 Minuten Nord, 14 Grad 24 Minuten West.
„Kapitän, bitte wach werden, wir müssen auftauchen. Die Zeit ist gekommen.“ Neumann brauchte ein paar Sekunden um sich zu orientieren. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. „Wie spät ist es, Zwei WO?“ „23 Uhr 30 Minuten Ortszeit, wie Sie befohlen hatten. Draußen muss Neumond sein. Oben dürfte jetzt kein Licht scheinen, außer den Positionslampen von unserem Dampfer.“ Neumann quälte sich aus dem Bett. Immerhin hatte er fast sechs Stunden geschlafen. Bis in die Kommandozentrale war es nicht weit.
„Meldungen?“ „Tiefe Siebzig Meter, Kurs Süd. Der Dampfer ist direkt über uns, hält gleichbleibende Geschwindigkeit. Scheint aber schlechtes Wetter zu sein, da oben. Der Dampfer stampft ganz ordentlich. Steuerbordwache auf Station. E-Maschinen laufen glatt. Batterien auf fünfzehn Prozent. Atemluft ohne Atemkalkpatronen ausreichend für noch zwei Stunden. Keine besonderen Vorkommnisse. Möchten Sie Kaffee?“
Bevor der Kommandant antworten konnte, hatte der Smutje ihm schon seine persönliche Tasse in die Hand gedrückt. Neumann grinste. Lief doch alles wie am Schnürchen. „Wir werden auftauchen. Und weil wir nicht wissen, was uns da oben erwartet, wecken Sie die gesamte Besatzung und geben Sie Frühstück aus. Auftauchen in zwanzig Minuten.“
Während die Maate die restliche Besatzung aus den Kojen warfen, schlenderte der Kommandant zur Funkbude. Eigentlich war das nur eine größere Nische neben dem Gang von der Zentrale zum Bugraum. Weil sie aber mit allem möglichen technischem Gerät vollgestopft war, gab es eigentlich nur Platz für eine Person.
„Was gibt’s?“ „Nichts Kommandant. Außer unserem Dampfer kann ich nichts hören. Wir sind auch zu tief, um fremde Funkmessstrahlen messen zu können. Wenn wir auftauchen, wissen wir mehr.“ „Hmm.“ Neumann hatte mit dieser Antwort gerechnet. Sein Funkmaat war ein Spezialist, aber Physik war eben Physik, da war nichts zu machen. Er wanderte zurück, durch die Zentrale und die Messe, vorbei an Schlafkojen, die jetzt leer waren, weiter in den Maschinenraum. Direkt hinter der Tür traf er seinen leitenden Ingenieur. „Wir tauchen gleich auf.“ „Ich weiß, Kommandant, wir bereiten uns gerade darauf vor. In ein paar Minuten sind wir einsatzbereit. Batterien laden, Diesel durchpusten, Luft erneuern. Gleich geht’s los.“
Zurück in der Zentrale begannen die Vorbereitungen.
„Rotlicht an!“
„Rotlicht ist geschaltet.“
„E-Maschinen halbe Kraft.“ Das Summen der Elektromotoren wurde leiser.
„E-Maschinen sind auf halber Kraft.“
„Frage: Wie weit ist der Dampfer weg.“
„Der Dampfer ist 300 Meter voraus.“ Kam es aus dem Funkschapp in dem auch die Horchanlage installiert war.
„LI nehmen Sie die E-Maschinen noch weiter zurück, ich will den Abstand zum Dampfer vergrößern. Ruder 10 Grad Steuerbord.“
„Ruder liegt 10 Grad Steuerbord“ Neumann ließ seine Stoppuhr mitlaufen.
„Ruder mittschiffs.“
Ruder ist mittschiffs.“
„Jetzt setzen wir uns rechts hinter den Dampfer. Da behalten wir die Übersicht und können ihn später wieder einholen.“ Neumann sah dem Navigator zu, wie er den neuen Koppelkurs in die Karte eintrug und die geschätzte Position notierte. Nach fünf Minuten gab er den neuen Befehl: Ruder 10 Grad backbord, auf Parallelkurs zum Dampfer gehen. Frage: Wie weit ist der Dampfer entfernt?“
„Geschätzt eintausendzweihundert Meter.“ Kam es vom Horchposten.
„Im Turm Licht löschen, auf Seerohrtiefe gehen. LI bringen Sie uns nach oben, aber langsam, ich will kein auffälliges Durchstoßen und kein großes Durcheinander da oben.“
In der Zentrale gab der LI den beiden Matrosen an den Höhenrudern Anweisungen und brachte so das Boot langsam knapp unter die Wasseroberfläche. Je höher das Boot kam, umso stärker wurden die Schlingerbewegungen. Das Wetter schien wirklich schlecht zu sein.
„Backbordwache fertig machen zum Aussteigen. Achtet auf Flieger und andere Fahrzeuge. Das Wetter ist zwar miserabel, aber man kann nie wissen. Frage Peilung?“
„Nichts außer unserem Dampfer.“
„Na dann wollen wir mal.“
„Sehrohrtiefe erreicht.“ Der LI versuchte mit seinen Leuten die Tiefe zu halten. Das Boot aber schlingerte stark, der Wellengang musste erheblich sein.
„Sehrohr ausfahren, Funkmessantenne aktivieren!“
Als das Sehrohr einrastete, klemmte sich der Kommandant sofort an das Okular. Schneller 360-Grad-Rundumblick, danach Musterung des Dampfers backbord voraus.
„Umschalten von E-Maschine auf beide Diesel, halbe Kraft voraus. Sehrohr einfahren. Auftauchen.“
Als Erstes verschluckten sich die Diesel, weil der Schnorchel am Kopf des Sehrohrs von einer Welle überschwemmt wurde und die Maschine sich die Verbrennungsluft nun aus dem Bootsinnenraum holte. Ein böser Schlag auf die Trommelfelle und Augen der Männer. Der Navigator half seinem Kommandanten in den Ölmantel. Das Boot begann wild auf den Wellen zu tanzen. In der Messe gingen Teller zu Bruch und die Steuerleute begannen sich auf ihren Sitzen festzuschnallen. Im Bugraum, wo die Männer an den verbliebenen Torpedos auf ihren Einsatz warteten, schlugen Flaschenzüge gegen die Spanten. Im Maschinenraum hatten die Maschinisten Schwierigkeiten, sich an den beiden Dieselmaschinen vorbeizuhangeln.
Der Kommandant stand an der obersten Position auf der Leiter zum Turm und öffnete die Luke als der Druckausgleich abgeschlossen war. Sofort war er völlig durchnässt. Dann aber war er draußen und augenblicklich kamen die Beobachtungsposten hinterher. Auch der Navigator erschien und begann sofort nach Sternen für seine Messungen zu suchen. Neumann sah schräg voraus den Dampfer, der sich schwer durch die Wellen kämpfte. Aus den großen Auspuffrohren der Diesel stieg schwarzer Qualm in die Luft. Ruß aus den Maschinen. Außer den Positionslampen des Frachters war kein Licht zu sehen. Schwarze Nacht ringsum, nur die Wellen in unmittelbarer Nähe des Bootes hatten phosphoreszierende Säume, wenn sie sich brachen. Fernab im Süden, weit hinter dem Horizont, gab es anscheinend ein Gewitter, denn immer wieder leuchtete dort der Himmel für kurze Momente auf.
„Meldung an Kommandant: Atmosphärische Störungen im Süden. Reger Funkverkehr nördlich und westlich von uns. Mehrere Frequenzbänder. Funkmessfelder in geschätzt sechzig Meilen nördlich. Sie nennen das, glaube ich, Radar. Keine Schraubengeräusche außer dem Dampfer. Entfernung zu ihm geschätzt eintausenddreihundert Meter backbord voraus.“
„Eins WO, bringen Sie uns dichter an den Frachter heran. Wenn die TommysRadar im Flugzeug einsetzen, kann es sein, dass sie zwei Fahrzeuge orten und nicht nur eins. Ich will dichter an den Frachter heran. Funkmaat, bleiben Sie an den Funkmessfeldern dran. Kann sein, dass es ein Patrouillenflugzeug ist. Meldung, wenn sich die Biene nähern sollte.“
Unter Deck fuhren die Diesel hoch. Durch die starke Dünung schlug aber immer wieder die Schraube leer in die Luft. Dann musste der Leitende Ingenieur die Maschinen zurückfahren und das Boot verlor Schwung. Auf die Dauer war das kein Zustand. Nach zwei nervenden Stunden im Kampf mit den Wellen die Information vom Funkschap: „Meldung an Kommandant: Neues Funkmessfeld geschätzt fünundzwanzig Meilen Abstand, Schraubengeräusche auf neunzig Grad Steuerbord, geschätzte Entfernung zwanzig Meilen. Funkverkehr verstärkt sich.“
„Herrschaften, einsteigen. Wir gehen wieder in den Keller. Fertigmachen zum Alarmtauchen.“ In kurzer Zeit war die Brücke geräumt, das Turmluk geschlossen und das Boot wieder auf sechzig Meter Tiefe. Die E-Maschinen waren wieder angesprungen und der Erste Wachoffizier führte das Boot wieder dicht unter den Frachter.
„Eins WO, so dicht es irgend geht. Wir wissen nicht, was die Alliierten Neues an Technik anschleppen. Wir müssen uns gut verstecken.“
Wegen des starken Wellengangs konnte der Dampfer oben seine schnelle Geschwindigkeit nicht halten, die E-Maschinen im Boot liefen daher auch nur mit einem Viertel ihrer Kraft und waren aus diesem Grund oben mit Horchgeräten wohl kaum zu hören.
„Wer hätte gedacht, dass so weit weg von jedem Schifffahrtsweg die Tommys und Amis so stark präsent sind? Mit Schiffen und Flugzeugen. Donnerwetter. Wer hätte das gedacht? Und? Was hat die Positionsmessung gebracht?“ „Unbedeutend neben der gekoppelten Position. Die Strömungskarten scheinen doch genau zu sein. Da können wir uns ‚von‘ nennen.“ Neumann nickte zufrieden. Seine Besatzung war wirklich gut. „Bootsmann, fragen Sie den Koch, was es zu essen gibt. Ich habe Hunger. Wir alle haben Hunger.“ In diesem Augenblick drehte der Dampfer über ihnen um 45 Grad nach Steuerbord. Sie hatten ihre Deckung verloren.
„Kommandant, ich schlage vor, unter die nächste Temperaturschicht zu gehen. Wenn die Suchschiffe tatsächlich herkommen, können sie uns unter der Thermokline nicht so leicht entdecken. Und dem Boot ist es egal, ob wir tiefer gehen oder nicht.“ Der Erste Wachoffizier wollte tiefer gehen, um die unterschiedlichen Temperaturschichten des Meereswassers als Tarnung zu nutzen. Außerdem würden Sonarwellen von Überwasserschiffen bei diesen Verhältnissen keine brauchbaren Ortungsergebnisse liefern. Er hatte erst vor kurzem von diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen gelesen. Vorher wäre die Information auch unsinnig gewesen, weil U-Boote mit den alten Modellen noch nicht die notwendigen Tauchtiefen erreichen konnten.
„Sie haben recht, Eins WO. Bringen Sie das Boot tiefer. Achtung, Wassertemperatur beachten! Wir gehen unter die nächste Thermokline. Kurs beibehalten.“
I/18.
Slot verspürte Hunger und gleichzeitig Angst. Er musste raus aus diesem Bunker. Weg von Waffen und Geheimplänen. Deshalb löschte er das Deckenlicht und verschloss die Stahltüren. Auf der Leiter, in halber Höhe auf dem Weg nach oben, glaubte er auf einmal Stimmen zu hören. Unverständlich zwar, aber menschliche Stimmen. Er verharrte hinter der Metallwand zum Geheimraum hinter den Bücherregalen. Leise, ganz vorsichtig schlich er zur Wand und legte das Ohr auf das kühle Metall. Deutlich waren Stimmen zu hören. Was gesprochen wurde, konnte er nicht verstehen, vielleicht sprachen die Besucher zu undeutlich, zu leise oder sie redeten in einer Sprache, die er nicht beherrschte. Auf jeden Fall waren Menschen in der Wohnung. Menschen, denen er nicht begegnen wollte. Sein Herz pochte bis in den Hals, Angst schnürte ihm die Kehle zu. Dass jemand außer ihm das Haus betreten hatte, jagte ihm großen Schrecken ein. War es die Polizei, waren es ausländische Agenten, Kriminelle, die sich ihre Waffen holen wollten? Slot hatte keine Ahnung und wollte sich auch nichts vorstellen. Dafür war er zu erschreckt.
Die Flucht nach oben war verschlossen. Ihm blieb lediglich der Weg zurück in den Bunker und die Hoffnung, dass die fremden Besucher das Geheimnis im tiefen Keller nicht kannten. Er schaltete auch hier oben das Licht aus und kletterte im Schein seiner Taschenlampe zurück in den unteren Raum. Er öffnete die Stahltür zum ersten Vorratsraum und verschloss sie von innen. Vergeblich suchte er eine Vorrichtung, um sie zu verriegeln. Die einzige Möglichkeit, den Weg zu versperren, wäre aber gewesen, mit der Hand den Hebel festzuhalten. Wenn die Besucher kräftiger als er wären, würden sie ihn trotzdem entdecken.
Seine Flucht führte ihn in den hinteren Raum, aber auch hier bot sich kein vernünftiges Versteck an. Blieb nur noch der halbhohe Gang, vielleicht ein Fluchtweg, auf der anderen Seite des Raumes. Er öffnete die Klappe, stieg hinein und verschloss die Türe sogleich wieder von innen. Nun hatte er, wenigstens vorerst, den größtmöglichen Abstand zwischen sich und die fremden Besucher gebracht. Ob das ausreichen würde, war indes zweifelhaft.
Trotz oder vielleicht sogar wegen seiner Angst schaltete er die Beleuchtung des niedrigen Ganges nicht ein. Ab und zu ließ er kurz seine Taschenlampe aufblitzen. Wenn er sich schon in gebückter Haltung fortbewegen musste, dann wollte er sich zumindest nicht den Kopf an harten Hindernissen anschlagen. Es war unangenehm, so leise wie möglich gebückt durch den niedrigen Gang zu schleichen. Als er das scheinbare Ende des Tunnels erreicht hatte, machte der Gang zwei scharfe rechtwinklige Knicke und mündete in einem kleinen, würfelförmigen Raum, in dem Slot aufrecht stehen konnte. Über sich erblickte er ein wenig Licht und hörte das Rauschen des Waldes und den Gesang der Vögel. Hier musste ein Weg ins Freie sein.
An der Wand waren eiserne Krampen eingelassen, an denen er emporsteigen konnte, bis er in einem turmähnlichen, engen Schacht ankam. Auf der Oberseite lag eine steinerne Platte, die auf der einen Seite zwei Scharniere und auf der anderen Seite ein einfaches Sperrschloss hatte. Darunter aber, vielleicht zehn Zentimeter hoch, war ein Zwischenraum, durch den der Wind hindurchstrich.
Slot klemmte sich mit seinem Kopf unter die Platte und konnte nun nach draußen blicken. Er befand sich zu seiner Überraschung am hinteren Ende des Gartens, dicht am Waldrand, unweit der Stelle an der er zum ersten Mal das Grundstück betreten hatte. Vorsichtig versuchte er das Sperrschloss zu lösen und hatte auf Anhieb Erfolg. Das Schloss war geölt und leichtgängig. Auch an dieser Stelle hatte der Wärter des Verstecks gute Arbeit geleistet.
Slot wollte gerade die steinerne Platte aufklappen, um zu flüchten, da hörte er wieder Stimmen. Ganz nah. Vor Schreck erstarrte er, wagte kaum zu atmen, fürchtete sein Herzschlag könnte ihn verraten. Es dauerte lange bis er sich gefasst hatte, dann aber konnte er vorsichtig durch den Schlitz hinausschauen, um zu erkunden, woher die Stimmen kamen.
Sein Kopf unter der Steinplatte befand sich nur wenige Zentimeter über der Grasnarbe. Er musste sich sehr den Hals verdrehen, dann aber erblickte er ein Paar Schuhe, vielleicht dreißig Zentimeter von ihm entfernt. Hinter diesen Schuhen, die von ihm abgewandt waren, sah er ein zweites Paar Schuhe, Damenschuhe. Durch seine Flucht befand er sich den Besuchern viel näher, als er jemals geplant hatte. Aufgrund seiner krummen Haltung in dem engen Schacht begannen seine Füße auf den Trittstufen zu zittern und auch der Rücken machte schmerzhaft sich bemerkbar. Langsam und sehr leise versuchte er in eine etwas entspanntere Position zu gelangen. Das gelang ihm nur zu dem Preis, dass ihm jetzt die Hände, mit denen er sich an der obersten Sprosse festhalten musste, einschliefen. Ganz langsam, ganz vorsichtig und ganz leise, quasi in Zeitlupe, stieg er mit einem Fuß eine Sprosse tiefer und lehnte sich mit dem Rücken an die andere Schachtwand. Jetzt konnte er gerade eben noch über einzelne Grashalme des Rasens hinwegsehen. Die beiden Paar Schuhe befanden sich nunmehr am Rande seines Blickwinkels. Aber immerhin konnte er beobachten, wo die beiden Personen standen.
„Der General soll in den nächsten Tagen kommen, dann werden wir weitersehen. Bis dahin sollten wir finden, was wir suchen“, sagte eine männliche Stimme. Eine Frau antwortete nach einer kleinen Pause. „Ich habe je bereits mit der Polizei verhandelt, die haben nichts von Bedeutung gefunden, halten sich aber sehr bedeckt. Ich habe keine Ahnung, warum der Bau nicht freigegeben wird. Ich kann natürlich bei Gericht intervenieren, aber … .“ „Um Gottes willen, damit würden wir nur Dreck aufwirbeln. Bleiben wir dabei, was wir im Moment machen: Wir vertreten die Interessen der Erben und sehen uns an, wie Haus und Grundstück nach der Freigabe verwertet werden können. Mit dieser Begründung können wir hier machen, was wir wollen.“
Die Füße bewegten sich weg und gingen über die Rasenfläche. Frau und Mann gingen nebeneinander her, als wären sie auf einem Spaziergang. Jetzt konnte Slot sie bis zur Hüfte sehen, erkennen konnte er sie nicht.
„Ich weiß aber wirklich nicht mehr, wo wir suchen könnten. Den Geheimraum hinter den Bücherregalen hat die Polizei entdeckt und beschlagnahmt, was drin war. Was es war, wollte mir niemand verraten.“ Das Paar ging weiter. „Ich habe zwar einen Antrag auf Rückgabe gestellt, bisher habe ich aber noch nicht einmal eine Liste über den Fund bekommen. Ich habe lediglich gesehen, dass es Papier und möglicherweise Gerichtsakten waren. Die Unterlagen waren nämlich in Aktendeckel oder Pappschachteln verpackt.“
Jetzt konnte Slot die Frau erkennen. Es war dieselbe Frau, die er bereits beim Polizeieinsatz auf der Terrasse gesehen hatte. Die, die sich mit Keller und Wagner gestritten hatte. Jetzt ahnte Slot auch, warum: Sie hatte wissen wollen, was die Polizei mitnahm. Den Mann neben ihr hatte er noch nie gesehen. Er war sehr groß, breitschultrig, vielleicht sechzig Jahre alt, hatte graues Haar und machte einen herrischen Eindruck. Er schien kein besonders sympathischer Zeitgenosse zu sein. „Der Alte hat immer gesagt: ‚Was ich gerettet habe, habe ich an einem sicheren Ort verwahrt.‘ Und dann noch: ‚Wer was weiß, redet nicht. Wer redet, weiß nichts.‘ Und dann hat er immer gelacht, das alte Schlitzohr. Und dieser junge Spund, dieser Neffe, dieses Rindvieh, wollte noch ein Geschäft mit uns machen. Geld wollte er herausschlagen. Verhandelt hat er. Über das, was uns gehört. Als wenn er und seine Tante nicht schon genug abgestaubt hätten. Und als er erschreckt wurde, stirbt dieser Trottel doch an Herzinfarkt oder so was Ähnlichem. Manche Leute sind zu dumm, um zu leben. Schade um ihn ist es nicht. Aber möglicherweise hat der Dummbeutel die Ware woanders gelagert und wir stehen jetzt dumm da. Es ist zum Kotzen.“
Die beiden gingen auf die Terrasse zu, als ein Mann aus dem Haus kam und ihnen zuwinkte, sie sollten doch hereinkommen. Die beiden verschwanden im Haus, die Tür wurde geschossen. Slot überkam jetzt Panik. Wenn sie den geheimen Bunker entdeckt haben würden, war die Gefahr groß, dass sie auch den Fluchtgang erkunden würden. Dann wäre er entdeckt und seines Lebens, nach all dem, das er gehört hatte, nicht mehr sicher.
Slot kletterte, trotz des mulmigen Gefühls, das er hatte, die Stufen wieder hinunter und lauschte um die Ecke, ob sich im Bunker irgendwas tat. Es blieb ruhig, zumindest hatten sie den Zugang zum Fluchtweg nicht entdeckt. Wenn er jetzt, so überlegte er sich, durch den Fluchtausgang das Gelände verlassen würde, könnte er hier nicht mehr einsteigen. Das Schloss an der Steinplatte war ein schlichtes Schnappschloss, von innen zu öffnen, von außen nicht. Wenn er allerdings blieb, dann bestand die Gefahr, dass sie ihn erwischten. Durch den Vordereingang waren sie mit Sicherheit nicht eingedrungen, denn der war polizeilich versiegelt. Blieb nur noch, dass sie, wie er auch, durch die Kellertreppe oder das Kellerfenster eingedrungen waren. Entweder hatten sie einen Schlüssel, der passte, oder sie hatten das Schloss mit einem Dietrich geöffnet. Slot hatte so etwas einmal im Fernsehen gesehen. Das Teil sah aus wie eine kleine Bohrmaschine und wurde von einer Batterie angetrieben. E-Picker oder Lockpicker wurden die Dinger genannt. Ein geübter Einbrecher brauchte für ein Schloss nur ein paar Sekunden.
Das aber half ihm jetzt nicht weiter.
Er kletterte wieder hoch zum Ausgang. Das Schnappschloss verschwand im Mauerwerk in dem kleinen Ausschnitt eines Eisenrahmens. Slot hatte eine Idee. Er stemmte sich wieder gehen die Schachtwand und zog seine Geldbörse aus der Tasche. Mit Kleingeld, einem Euro und zwei 50- Cent-Münzen verstopfte er den Ausschnitt. Der Riegel konnte nicht mehr einrasten. Noch einmal blickte er in alle Richtungen, sicherte wie ein scheuer Wolf seinen Fluchtweg, öffnete die Klappe und kletterte, die Angst vor Entdeckung machte ihn sehr behände, aus dem Schacht heraus. Die Klappe vorsichtig und leise zu schließen machte ihm keine Mühe und die Flanke über den Zaun fiel ihm wesentlich leichter, als er gedacht hatte. Danach erst einmal schnell in den Wald. Hinter den Büschen ging er in Deckung und beobachtete die Terrasse. Nichts passierte.
Als er eine Viertelstunde später über den Jungfernpfad zurück zu seiner Wohnung schlenderte, sah er vor der Nummer 14 zwei Autos stehen. Einen schweren englischen Luxuswagen und einen größeren Transporter ohne Aufschrift. Soeben kamen aus dem Seitenweg, der zur Kellertreppe führte, vier Leute heraus. Den herrischen Mann und die Frau, die mit Keller und Wagner gestritten hatten kannte er bereits vom Sehen. Die beiden anderen, einer war der, der die beiden ins Haus geholt hatte, schleppte mit einem anderen zwei anscheinend schwere Umzugskartons und luden sie in den Transporter.
„Guten Tag, Perry.“ Slot war heute richtig froh, dass Frau Schneider in ihrem Vorgarten stand und gärtnerte. So konnte er ein kleines Gespräch mit ihr anfangen und dabei die vier fremden Besucher beobachten. Der mürrische Kerl schimpfte heftig, und die Frau versuchte ihn immer wieder zu beruhigen. Was sie sprachen, war zwar nicht zu verstehen, allerdings waren alle ziemlich schlecht gelaunt. Brüsk gab der Mann den beiden Trägern einen Befehl, und die machten, dass sie schleunigst davonkamen. Der Mann und die Frau stiegen in den PKW, stritten anscheinend noch eine Weile und fuhren dann mit quietschenden Reifen davon.
Slot hatte den Redefluss von Frau Schneider zwar kaum registriert, war aber froh, dass sie ihm mit dem Gespräch eine Deckung gegeben hatte. Jetzt passte er eine Redepause ab, verabschiedete sich und behauptete, er habe noch einen Termin.
Zu Hause versuchte er sich an die beiden Begriffe auf den Papieren zu erinnern. Irgendwas mit Aggregat und dann noch FZG und einer Zahl. Slot ging an seinen Computer und wählte sich in das Internet ein.
I/19.
„Meine Herren, Sie haben eine Aufgabe zu erfüllen. Sie sind es dem Reich und dem Führer schuldig. Das deutsche Volk, der Führer hat es klar ausgedrückt, das deutsche Volk hat versagt. Es hat dem Führer die Gefolgschaft verweigert, es hat den Krieg nicht konsequent zu Ende geführt und deshalb nicht gewonnen. Das ist Verrat an der Sache. Die Idee aber muss weiterleben. Deshalb müssen wir die führenden Kräfte dieser Idee in die Lage versetzen, den nationalsozialistischen Gedanken fortzuführen. Sie verstehen, was ich meine?“ Konrad setzte sich in Positur, hier musste er jetzt den Anführer geben, den Menschen, dem alle folgten, den Befehlenden, gleichgültig, ob sie ihm glaubten oder nicht. Konrad wollte sich selbst retten, er wollte mitnehmen, was er an sich reißen konnte, und dann, aber erst dann, wollte er noch Wege für Kameraden schaffen, die auch flitzen mussten. Die Verbrechen, die er und seinesgleichen zu verantworten hatten, waren ihm bewusst, aber sie waren ihm egal. Und um Unangenehmes für sich selbst zu vermeiden, musste er weg. Dahin, wo sich niemand dafür interessierte, was er gemacht hatte.
„Aber Obergruppenführer, das deutsche Volk hat doch nicht versagt. Die vielen Opfer. Die Kameraden, die an der Front gefallen sind. Die Menschen in den Kellern bei den Bombenangriffen. Die haben doch nicht versagt!“
„Sie wollen doch nicht mit diesem defätistischen Geschwätz mit zu den Verrätern gehören. Der Führer hat gesagt, dass nur die Besten ihr Leben gelassen haben, was übrig bleibt, hat nicht verdient zu leben. Sie wollen doch nicht die Worte des Führers anzweifeln.“ Konrad brüllte jetzt, er war aufgesprungen und schrie seinem Gegenüber ins Gesicht. Konrad wusste, wie man Menschen einschüchtert. Viele hatten vor ihm Angst. Nicht nur kleine Untergebene oder KZ-Häftlinge, auch Offiziere und hohe Verwaltungsbeamte. Er war am Tod vieler schuldig und würde nicht zögern weitere Morde zu begehen. Wenn es sein musste auch eigenhändig.
Sofort herrschte Ruhe. Kein Widerspruch mehr, alle hielten die Luft an. Alle Anwesenden hatten Angst. Außer seinem Begleiter. Der kannte dieses Spiel. Er beherrschte diese Mechanismen genauso gut. Vielleicht sogar besser. Konrad aber hatte erst einmal erreicht, was er erreichen wollte: die Unterstützung der Verschüchterten für eine Fluchtlinie für sich und seine Gesinnungsgenossen.
„Meine Herren!“ Zum ersten Mal ergriff der Begleiter in dieser Runde das Wort, „stellen Sie sich vor, Sie sind hier so eine Art Bahnhof. Es kommen Transporte an und es gehen Transporte weiter. Kamerad Konrad zeigt hier hohes Engagement und ist deshalb vielleicht ein wenig ungeduldig. Wir, also auch Sie an diesem verantwortlichen Posten, müssen dafür sorgen, dass diese Transporte reibungslos funktionieren. Diese Transporte beinhalten Personen und Güter. Eben wie auf einem Bahnhof. Den direkten Weg können Personen und Güter nicht gehen, dazu sind die Ziele zu unterschiedlich und die Zeiten zu unruhig. Wir alle wissen, der Krieg geht zu Ende, mit einem Ende, das wir so nicht wollten. Das ist jetzt aber nicht mehr so wesentlich. Wichtig ist, dass die Bahnhöfe funktionieren. Und noch etwas: Auf Ihrem Bahnhof hier steht Ihnen ein angenehmes Leben bevor. Kein Kampf mehr, keine Kriegsgefangenschaft, keine Verfolgung. Offiziell wird Caudillo Francisco Franco von Spanien Sie und Ihre Arbeit hier nicht zur Kenntnis nehmen. Inoffiziell werden Sie von Spanien unterstützt werden. Franco zeigt uns gegenüber eine gewisse Dankbarkeit, das reicht im Moment aus.“
„Wir werden also nicht zum Endkampf ins Reich zurückgerufen?“ Es blieb unklar, ob der Frager aus den Reihen des Empfangskomitees erleichterte über diese Aussicht war oder lieber nach Hause gegangen wäre.
„Nein, Sie werden auf Ihrem Posten bleiben, bis der Führer oder einer seiner Vertreter … .“
„Wer wird das sein?“, unterbrach ihn der Frager aufs Neue, ohne den Redner zu verunsichern.
„… oder einer seiner Vertreter einen anderslautenden Befehl gibt. Geld haben Sie genug. Britische Pfund, bestens gefälscht von unseren Spezialisten im KZ Sachsenhausen. Die Leute sind gut, die Blüten auch und die Scheine werden wohl von der Bank of England bis zum jüngsten Tag akzeptiert werden. Außerdem haben Sie hier auf der Insel mehrere Tonnen Gold- und Silberbarren. Also: Finanziell geht Ihnen hier die Luft so schnell nicht aus.“
„Was sollen wir denn machen, und wie soll das ganze System denn funktionieren. Die Meere sind voll von alliierten Schiffen, und die Lufthoheit haben sie auch. Nichts passiert mehr ohne die Billigung von Engländern und Amerikanern. Geld nützt da nicht viel. Wie sollen wir das machen? Wir brauchen mehr Anweisungen, damit die Geschichte klappt. Sonst gibt das hier nur ein Fiasko!“ Der Anführer des Begrüßungskomitees hatte die Sprache wiedergefunden.
„Deshalb, lieber Herr Oberst, sind wir ja da.“ Die Stimme wurde sanft wie Honig. „Das ist jetzt unsere Aufgabe. Um Ihnen das System zu erläutern, wie dieser Verschiebebahnhof funktionieren wird, nehmen wir einmal ein Beispiel an: Die Reise unserer Person beginnt, sagen wir mal, in Stuttgart oder München oder von mir aus auch in Frankfurt. Der Zug fährt dann zum Beispiel in die Schweiz. Dort bekommt unser Passagier dann einen vorläufigen Pass vom Internationalen Roten Kreuz.“
„Das Rote Kreuz gibt uns so einfach mal einen Pass? Das glauben Sie wohl selbst nicht!“
„Und doch ist es so, denn was Sie über Geld sagten ist eine naive Einschätzung. Für Geld bekommt man sehr viel. Auch Pässe vom Roten Kreuz. Außerdem sollten Sie nicht vergessen, dass wir Sympathisanten haben, auch beim Internationalen Roten Kreuz in Genf. Hinzu kommt, dass es viele Leute gibt, die Angst vor den Kommunisten haben. Stalin hat auch seine guten ‚schlechten Seiten‘. Also das wäre als Erstes der Zug in die Schweiz.
Es gibt aber auch einen Zug über Österreich, schließlich gibt es dort genügend ‚Brüder im Geiste‘, die uns und sich selbst weiterhelfen. Dieser Zug bringt unsere Person stracks in den Vatikan.“
„Der Vatikan, die Katholiken, die sollten uns helfen? Warum sollten die das machen? Auch für Geld?“
„Das kann und will ich Ihnen nicht sagen. Aber bedenken Sie: Wir, das Großdeutsche Reich, haben mit dem Vatikan ein Konkordat, ein international bindendes gegenseitiges Vertragswerk. Weder wir noch die anderen haben dieses Vertragswerk bisher gekündigt. Warum sollten sie auch? Also gilt der Vertrag noch. Und auch hier: Denken Sie an den Kommunismus und an Stalin. Die mögen den Vatikan und die Katholiken nicht. Und das weiß auch der Vatikan.
Vom Vatikan nach Italien ist es nur ein Schritt, und es gibt keine bewachte Grenze. Italien hat, das ist für die Organisation der Reiserouten interessant, mit Argentinien ein Einwanderungsabkommen. Das erleichtert die Arbeit doch ungemein. Der Zug, oder vielmehr jetzt das Schiff, fährt von Italien weiter nach Spanien, mit dem wir traditionell gute Beziehungen pflegen. Von dort per Schiff, via Ihrer Insel und Ihrem Stützpunkt, wo weitere Versprengte eingesammelt werden können, geht es dann nach Südamerika, zum Beispiel nach Argentinien, oder sonst wohin. Die Schiffskarten, auch das, meine Herren, sollten Sie wissen, werden häufig von Internationalen Roten Kreuz bezahlt. Das ist ebenfalls hilfreich.
Sie können natürlich auch über Portugal reisen. Dort gibt es, bis auf Weiteres, so hoffen wir, den sich als faschistisch verstehenden Staat des Antonio de Oliveira Salazar, der wie Franco-Spanien im Krieg neutral blieb und jetzt das große Geschäft machen kann. Besteigen Sie also in Italien, in Spanien oder in Portugal ein schönes Schiff - es sollte der Einfachheit halber aus Italien, Spanien oder Portugal kommen – und Sie gelangen mit Ihren Papieren als ‚Displaced Person‘, als DP, zu jedem Ziel dieser Erde. Sie sind nämlich mit diesem Papier eine vom Roten Kreuz oder dem Vatikan international anerkannte ‚arme Sau‘ und werden von keinem der Alliierten belämmert werden. So einfach ist das, und genau das wollte Ihnen der Obergruppenführer in seiner unnachahmlichen Art nahebringen. Haben das ‚die Herren Bahnhofsvorstände auf Fuerteventura‘ jetzt verstanden?“ Der Begleiter lehnte sich entspannt zurück und lächelte genauso sanft, wie er gesprochen hatte.
I/20.
Slot fand im Internet mehr, als er gedacht hatte. Die Begriffe „Nationalsozialismus“ und „Aggregat“ führten ihn auf die Spur eines gewissen „von Braun“, mit dem Slot, ohne von, verwandtschaftlich nichts zu tun hatte. Am bekanntesten von dem Braun mit von war das „Aggregat 4“, dem Goebbels den Propagandanamen „V 2“ gegeben hatte. Vergeltungswaffe 2. Eine Rakete, die über 100 Kilometer hoch steigen konnte, Verderben nach London, Antwerpen und in andere Städte gebracht hatte, deren Produktion allerdings mehr Tote forderte als Opfer an den Einschlagstellen. Wernher von Braun, Erfinder und technisch treibende Kraft des Unternehmens, lebte übrigens inzwischen als angesehener und hochgeehrter Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA verdankten ihm viel, da leidet dann schnell ein ganzer Staat an kollektiver Amnesie.
Die Bezeichnung FZG war genauso schnell entschlüsselt. Gemeint war FZG 76, die Geheimbezeichnung für den ersten funktionierenden Marschflugkörper der Welt, hergestellt in den Fieseler Werken in Kassel unter dem Namen Fi 103. Besser bekannt war die Bezeichnung, die Goebbels der Waffe gegeben hatte: „V 1“. Vergeltungswaffe 1. In dem Bunker lagerten anscheinend Pläne über die sogenannten „Wunderwaffen“ der Nazis. Das passte zwar zu den deutschen Sturmgewehren, die da auch noch waren, ließ aber im Dunkeln, was sonst noch in den Aktenkisten zu finden war. Außerdem: Wem sollten diese Pläne nutzen. Die westlichen Alliierten und die Sowjets hatten Wissenschaftler, alle vorhandenen Modelle und alle greifbaren Pläne bereits kurz nach Kriegsende nach Hause geschleppt, ausgewertet, nachgebaut und weiterentwickelt. Wer konnte jetzt noch Interesse daran haben, das ganze Zeug aufzuheben?
Und dann musste er daran denken, was dieser herrische Mann im Garten kürzlich gesagt hatte: „ … Und dieser junge Spund, dieser Neffe, dieses Rindvieh, wollte noch ein Geschäft mit uns machen. Mit uns am ‚Unternehmen Xiphos‘. Geld wollte er herausschlagen. Verhandelt hat er. Über das, was uns gehört…“ Wieso hatten Pläne und Waffen ihm gehört. An wessen Stelle trat der Mann auf. Er hatte nicht ausgesehen wie der harmlose Vertreter einer Firma. Nicht einmal wie ein verschlagener Politiker. Für einen ehemaligen SS-Funktionär war er zu jung. Eher sah er aus wie ein fanatischer Vertreter einer Terrorgruppe. „Also doch so was Ähnliches wie ein Nazi“, dachte Slot. „Oder es geht um viel Geld!“ Das aber konnte er natürlich nicht beweisen.
Jedenfalls bestätigten die Recherchen Slots Befürchtung es mit einer mächtigen, skrupellosen Organisation zu tun zu haben. Doch Slot wollte Klarheit. Er beschloss Slot noch einmal in den Bunker zu gehen. Zwar wollte er nicht mehr durch den Keller einsteigen, das erschien ihm zu unsicher, aber durch den Tunnel wollte er es noch einmal wagen. Außerdem überlegte er, wie er sich vor überraschenden Besuchern schützen könnte.
Er könnte, so dachte er sich, so eine Art Babyphone kaufen und das Sendegerät irgendwo im Vorgarten verstecken. Er war sich aber nicht sicher, ob die Sendeleistung ausreichen würde die dicken Betonwände zu durchdringen. Wenn nicht, wäre die ganze Übung für die Katz. Schließlich kam er zu der Einsicht, dass er sich vor unerwünschten Besuchern nur schützen konnte, indem er die Zeit seines Aufenthalts im Bunker kurz hielt und zudem die richtige Uhrzeit wählte. Zuerst wollte er mitten in der Nacht eindringen. Dann fiel ihm aber ein, dass diese Uhrzeit die Besucher ebenfalls wählen könnten, denn sie wollten ja auch nicht erwischt werden. Andererseits fand ihr letzter Besuch am hellen Tag statt und sie hatten so getan, als seien sie die Erben, die ihren Grundbesitz besichtigten. Jede Entscheidung wäre also falsch oder richtig, je nachdem, wie man die Sache betrachtete. Schließlich entschied er sich, morgens seinen Besuch zu machen, in der Hoffnung, dass die anderen Besucher ihren am späten Nachmittag absolvieren würden. Schließlich stattet man fremden Leuten morgens keinen Besuch ab, sagten zumindest die Benimmregeln.
Das mit dem Babyphone war vielleicht doch keine so schlechte Idee. Zwar nicht für den Vorgarten, wohl aber, um die Wohnung abzuhören. Er setzte sich an seinen Computer und konnte schnell feststellen, dass die Reichweite eines solchen Geräts bis zu zwei Kilometern betrug. Da es vom Haus des Kunsthändlers bis zu seinem Häuschen weniger als einhundert Meter waren, müsste die Sache klappen. Also setzte er sich in sein betagtes Auto, fuhr in die Stadt und erstand käuflich in einem darauf spezialisierten Geschäft für Babyartikel so ein Gerät der letzten Entwicklungsgeneration. Digital und designt nach dem letzten Schrei, am Netz und per Batterie zu betreiben. Und weil es bei weitem billiger war, als er befürchtet hatte, kaufte er gleich zwei Geräte, denn die Wohnung des Kunsthändlers war groß und weitläufig.
Wieder zu Hause, sah er sich einen langweiligen Naturfilm im Fernsehen an, zappte zu einer Diskussionssendung, bei der er nicht verstand, um was es ging, und landete schließlich bei einem Krimi, wo sich Leute ununterbrochen totschossen. Frustriert ging er ins Bett und hatte einen unruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen kramte er zuerst einmal seinen Rucksack hervor, denn er hatte einiges zu transportieren. Da waren die beiden Babyphone-Sender, seine beiden Taschenlampen und ein digitaler Fotoapparat nebst Ersatzbatterien. Außerdem packte er noch eine kleine Flasche Wasser ein und Handschuhe, denn er war in der Vergangenheit als Verursacher von Spuren doch sehr unvorsichtig gewesen. Dass diese Einsicht reichlich spät kam, wurde ihm erst später bewusst. Gekleidet in einen früher mal modischen Jogginganzug, begab er sich auf den Weg vor seinem Haus und begann, damit es auch alle Nachbarn sehen konnten, mit Freiübungen, die einen sportlichen Menschen vortäuschen sollten. Da dies zum ersten Mal in seinem Leben geschah hätten sich die Nachbarn bestimmt gewundert. Allein, niemand sah ihn und somit war sein Bemühen gänzlich überflüssig. Aber, das konnte er ja nicht ahnen.
Er trabte los in Richtung Kunsthändler-Bungalow, erreichte die Wiese und bog zum Wald hin ab. Dort angekommen, blieb er stehen und musste sich erst einmal verschnaufen. Er setzte sich auf einen Baumstumpf und nahm den ersten tiefen Schluck aus der Wasserflasche. Vielleicht hätte er doch besser ein Bier mitgenommen, schoss es ihm durch den Kopf.
Es war jetzt nur noch ein kurzes Stück Weg durch den Wald, um auf die Rückseite des Grundstücks, in die Nähe des geheimen Fluchtausgangs des Bunkers zu gelangen. Slot legte sich hinter dem Zaun auf die Lauer und beobachtete fast eine Viertelstunde die Umgebung. Dann hob er seinen Rucksack vorsichtig und leise über den Zaun, kletterte wesentlich umständlicher als das letzte Mal hinterher und wetzte gebückt bis zu der kleinen Säule, die den Eingang zum Fluchttunnel darstellte. Die Klappe war blitzschnell geöffnet und Slot samt Rucksack darin verschwunden. Die Münzen, die er in den Schlitz gelegt hatte, um den Verschluss zu blockieren, nahm er heraus und deponierte sie auf einem kleinen Sims unterhalb des Rahmens. Dann verschloss er den Zugang gewissenhaft mit dem Sperrriegel und lauschte, ob sich draußen oder drinnen irgendwas regte.
I/21.
Stunden später waren sie mit dem Bootwieder an die Oberfläche gekommen, denn sie mussten sich nun melden, um weitere Anweisungen zu bekommen. Präzise um 13 Uhr 15 Berliner Zeit sendeten sie „XQH“ über „Kurier“, ein neu entwickeltes Kurzsignalverfahren. Rabenhorst, Neumann und der Funker hingen zu Dritt in der engen Funkbude und warteten auf irgendeine Reaktion. Sie sendeten auf einer völlig verqueren Frequenz, die der Funker nur mit Mühe einstellen konnte und für die sie extra auftauchen mussten, weil die Länge der Antenne verändert werden musste. Ohne diese Veränderung wäre die Sende- und Empfangsleistung so gering gewesen, dass sie die Morsetöne überhaupt nicht gehört hätten. Die kurze Meldung „XQH“ über das Kurzsignalverfahren hatte nur Bruchteile von Sekunden gedauert. Ein Knacken im Äther, eine atmosphärische Störung nur. Es war unmöglich diese Meldung zu entschlüsseln, und es war erst recht unmöglich, ihre Position zu ermitteln.
Die Rückmeldung kam wenige Sekunden später. Lange Zahlenkolonnen, verschlüsselte Informationen, an denen sich die Spezialisten der alliierten Entschlüsselungsstelle in Bletchley Park, 70 Kilometer nordwestlich von London, die Zähne ausbissen. Zuerst nahmen sie an, auch dieser Befehl sei mit der Verschlüsselungsmaschine ENIGMA hergestellt worden. Diesen Code hatten sie nämlich geknackt. Doch bald mussten sie erkennen, dass bei dieser Methode nur sinnloser Buchstabensalat herauskam. Der Code konnte nicht entschlüsselt werden.
Dabei war die Methode simpel: Grundlage zur Entschlüsselung war das kleine Heftchen mit der Schülerausgabe von Schillers „Don Karlos“, Ausgabe von 1933, die 3. Auflage. Die erste zweistellige Zahl eines jeden Abschnitts bestimmte die Seitenzahl. Die Nummer 14 bedeutete zum Beispiel, dass für diesen Abschnitt Seite 14 aufzuschlagen sei. Die zweite zweistellige Zahl gab die Zeile an, die gewählt werden musste. Die Dritte und alle folgenden zweistelligen Zahlen gaben die Buchstaben an, die abzuzählen waren. So bedeutete die Kombination 14 – 07 – 05 – 14 – 01 – 28: Seite 14, Zeile 7 der fünfte Buchstabe (K), der vierzehnte Buchstabe (A), der erste Buchstabe (R), der 28 Buchstabe (L), also KARL. Wenn der gewünschte Buchstabe in der siebten Zeile nicht vorhanden war, wurde einfach weitergezählt, auch in die nächste Zeile hinein. Bis 99 konnte ja gezählt werden. Wenn der Verschlüssler des Funkspruchs die Angelegenheit noch komplizierter machen wollte, konnte er gleiche Buchstaben mit verschiedenen Zahlen darstellen. So war der Buchstabe K in der angesprochenen Zeile sowohl auf Position 05 als auch auf Position 19 zu finden. Zudem wurde die Veränderung von Seite und Zeile bei jedem neuen Absatz neu festgelegt. Diese Ver- und Entschlüsselung konnte nur jemand anwenden, der die Methode kannte und das richtige Buch hatte. Bletchley Park war hoffnungslos überfordert.
Der Empfang dauerte über eine halbe Stunde. Da der Ort des Senders den Alliierten ohnehin durch Anpeilen bekannt war, er lag irgendwo in Deutschland, konnte er senden, bis ihn Bombengeschwader ausschalten würden. Das wurde inzwischen täglich versucht, klappte aber nicht immer. Der Empfänger konnte nicht ermittelt werden. Von ihm ging keine elektronische Emission aus, die hätte angepeilt werden können. Die Meldung wurde von vielen Empfangsstationen mehrerer Länder aufgenommen und mitgeschrieben. Entschlüsseln konnte sie niemand. Allen Beteiligten war klar, dass dies eine wichtige Meldung oder ein Befehl sein musste, denn so lange wurde normalerweise nicht gesendet. Der Empfänger aber konnte überall auf der Welt sitzen. Es rauchten deshalb viele Köpfe rund um den Globus.
Rabenhorst und der Funker wechselten sich ab, das Funktelegramm aufzunehmen. Hastig schrieben sie die Zahlenkolonnen auf die vorgesehenen Formulare. Zahlen über Zahlen, die überhaupt nicht enden wollten. Um sie herum standen die Männer der Freiwache und beobachteten gespannt die Aktion. Oben auf der Brücke kontrollierte die Brückenwache Himmel und See, damit während der langen Zeit des aufgetaucht Fahrens keine Überraschungen passierten. Über dem gesamten Boot lastete eine gespannte Atmosphäre. Selbst die Maschinisten bei den laut röhrenden Dieselmaschinen schlichen geräuschlos über die Stahlplatten, als könnte sie durch den geringsten Lärm irgendwas verderben.
Nach vierunddreißig Minuten war der Funkspruch zu Ende und das Boot quittierte weisungsgemäß mit der Meldung „XQH“ über „Kurier“. Ein Knacken im Äther, mehr nicht. Draußen war heller Tag, und Neumann gab den Befehl zu tauchen. Auf einhundert Meter. Er wollte weg von der Oberfläche, er war ohnehin sehr lange oben gewesen, jetzt wollte er tiefer, weit unter die Thermokline. Weg von der Möglichkeit, gefunden zu werden.
I/22.
„Obergruppenführer, Berlin meldet, dass der neue Befehl an XQH übermittelt wurde. Das Objekt kann also in den nächsten Tagen erwartet werden, sagt zumindest Berlin. Da wir nicht informiert sind, müssen wir hier irgendwas vorbereiten? Ich könnte dann die Befehle vorbereiten.“
„Oberst, vorerst brauchen Sie nichts vorzubereiten und auch nichts zu wissen. Dies alles ist eine streng geheime Reichssache. Ich werde Sie informieren, wenn die Zeit gekommen ist. Sie sollten aber jetzt mal darüber nachdenken, wie sie uns aus diesem Drecknest herausbringen. Die Baracken sind ja unerträglich. Es soll doch hier eine Villa geben. Jedenfalls wird im halben Reich über diese Villa gemunkelt. Eine sehr komfortable Villa.“
„Obergruppenführer, es gibt diese Villa, sie ist auf der Nordseite des Gebirges. Die Gegend ist sehr karg, aber die Villa ist recht komfortabel. So sagt man. Selbstverständlich können wir Sie jederzeit hinüberfahren. Das Haus gehört offiziell einem Privatmann, der hier schon längere Zeit ist und wohl, aber das habe ich lediglich gehört, auf Befehl von Admiral Canaris hierhergekommen ist. Dieser Mann war der Erste hier und hat auch die besten Beziehungen zu den spanischen Behörden auf der Insel und wohl auch nach Madrid. Er ist sehr zurückhaltend und redet nur ungern mit anderen, ein merkwürdiger Typ. Aber bisher hat er sich als sehr kooperativ gezeigt. Er soll auch der Verwalter von anderen, streng geheimen Einrichtungen auf der anderen Seite sein. Das aber entzieht sich meiner Kenntnis. Näheres weiß mit Sicherheit SS-Sturmbannführer Kattowitz, der Befehlshaber dort. Der Wehrmacht ist es normalerweise nicht gestattet, den Pass zu überqueren. Wir können Sturmbannführer Kattowitz aber jederzeit anrufen, es besteht Telefonverbindung.“
„Rufen Sie Kattowitz an und sagen Sie ihm, dass er mich und meine Begleitung am Pass abholen soll. Wie lange brauchen wir bis nach oben?“
„Gut dreißig Minuten, Obergruppenführer.“
„Also, dann in dreißig Minuten oben am Pass. Er soll sich beeilen! Wir fahren in zehn Minuten.“
Konrad verschwand noch einmal in der Hütte und informierte seinen Begleiter über die Reisepläne. Der Weg würde beschwerlich sein und das würde Konrad noch einmal auf den Sack gehen, aber das vorläufige Ziel war jetzt in greifbarer Nähe. Und es sollte komfortabel sein. Währenddessen fuhr draußen ein kleiner spanischer Militärlastwagen vor. Die Ordonanz schleppte zwei Koffer und mehrere Taschen hinaus und verlud sie auf die Pritsche. Der Oberst der Wehrmacht war froh, die beiden lästigen Reisenden endlich loszuwerden. Beide waren ihm unheimlich. Der eine, weil er ein mächtiger Choleriker war, und der andere, weil seine honigsüße Art auf ein hohes Gewaltpotenzial schließen ließ. Beide waren intelligent, machtbesessen, und Konrad hatte anscheinend zudem irgendwie Angst. Das machte ihn noch gefährlicher.
Der Fahrer kannte den Weg. Er war die Strecke schon häufig gefahren, jedoch nie weiter als bis auf den Pass. Dann musste er immer seine Ladung abgeben, drehen und zurückfahren. Auf der Nordseite hatte die SS das Sagen und ließ sich nicht in die Karten sehen. Da oben war die Grenze zu einem fremden, anscheinend feindlichen Land, so schien es ihm, besetzt von niemals lächelnden großen blonden Menschen, ausgesucht nach der Rassetheorie der Nationalsozialisten. Der Fahrer wusste, dass diese Leute arrogant waren, sich für die Elite hielten und auf einfache Wehrmachtssoldaten herabblickten. Das störte ihn allerding wenig, solange sie ihn persönlich in Ruhe ließen.
Konrad und sein Begleiter quetschten sich auf die Sitzbank im Fahrerhaus. Es war eng für die beiden. Sie konnten aber nicht weiter zum Fahrer hinüberrutschen, denn zwischen den beiden Bänken lagen das Getriebe, die Schaltung und die Handbremse. Konrad beschwerte sich über den Dreck und die Enge im Führerhaus, doch der Fahrer sah sich zu keiner Antwort genötigt. Das war vielleicht auch besser so, denn Konrad war ausgesprochen schlechter Laune. Sein Begleiter indes machte den Eindruck unendlicher Gelassenheit.
Ihr Weg führte sie zuerst zurück nach Osten, über die Landebahn des Feldflugplatzes hinweg, bis dicht an die Küste. Dann bogen sie scharf nach Norden ab, hinein ins Gebirge, über enge Haarnadelkurven ging es den Berg hinauf.
„Tommys! Aufklärer!“ Der Fahrer deutete nur kurz nach oben. Da kreiste in größerer Höhe ein kleines Flugzeug, das jetzt in den Sinkflug überging, immer größer wurde und zuletzt dicht über sie hinwegflog.
„Die sind neugierig, die Tommys! Deshalb dürfen wir tagsüber nur mit Autos fahren, die die Spanier weiter im Osten auch haben. Da fallen wir gar nicht auf.“
Konrad und sein Begleiter hatten automatisch versucht, sich im Führerhaus zu verstecken. Der Fahrer hatte keinerlei Reaktion gezeigt. Er fuhr nicht schneller oder langsamer. Eine Möglichkeit, sich zu verstecken, hatte er ohnehin nicht. Für ihn war die Situation alltäglich. Die Luftüberwachung der Alliierten nahm kaum noch Rücksicht auf das spanische Hoheitsgebiet. Deshalb war Tarnung für die Deutschen von großer Wichtigkeit.
Oben, direkt auf dem Pass, war ein kleiner, von Steinen eingefriedeter Platz, auf dem ein großes Militärzelt stand. Daneben ein Mast mit der spanischen Nationalflagge. Auch eine Sache der Tarnung. Neben dem Zelt stand ein Kübelwagen in Tarnfarben. Der Wagentyp widersprach nicht den Obliegenheiten der Tarnung, denn es war bekannt, dass Francos Spanien nach dem Bürgerkrieg, der 1939 zu Ende ging, Anfang der vierziger Jahre immer noch Rüstungsgüter und Kraftwagen vom „Dritten Reich“ bezog. Insofern war der Kübelwagen im spanischen Heer zwar nicht oft vertreten, aber auch nichts Ungewöhnliches.
Der Fahrer hielt vor der imaginären Grenze an und seine Passagiere stiegen aus. Konrad verfluchte die schlechte Straße, den Dreck und die Sonne. Die drei SS-Männer der Wache salutierten stramm, ohne von den Besuchern beachtet zu werden. Der Fahrer lud Koffer und Taschen in den Kübelwagen um und kehrte unschlüssig zu seinem Fahrzeug zurück. Konrad stieg auf den Beifahrersitz und sein Begleiter kletterte über die Rückseite des Kübelwagens auf die Rückbank.
„Worauf warten Sie? Fahren!“ Konrad ließ seine schlechte Laune auch an dem SS-Fahrer des Kübelwagens aus, der sich aber, streng nach vorne blickend, keine Gemütsregung anmerken ließ. Er schaltete krachend den Gang ein und schoss in abenteuerlichem Tempo die unbefestigte Straße hinab. Nach ein paar Kilometern ging es eng an ein paar Häusern vorbei, die früher wohl einmal bewohnt gewesen waren. Jetzt lungerten hier ein paar SS-Leute in ihren grauen Felduniformen herum, die aber verdrückten sich sofort, als sie den Kübelwagen sahen.
Dann fuhr der Wagen im Dorf rechts weiter zu einem größeren Gebäudekomplex, der zwischen Meer und Gebirge am Hang lag und an einer Ecke, zur Seeseite hin, einen mächtigen Turm hatte. Das war die Villa, von der viele munkelten, die die Wenigsten allerdings von innen gesehen hatten. Viele Geschichten, Erfundenes und Tatsächliches, wurden über dieses Haus erzählt. Immer nur kamen Halbheiten ans Tageslicht, nie wurde so richtig klar, was die Betreiber des Hauses als Desinformation bewusst in die Welt gesetzt hatten und was von Ortsunkundigen dazugedichtet worden war. Die Villa war ein Mysterium und sollte es, nach dem Willen ihrer Nutzer, auch bleiben.
„Obergruppenführer, im Namen des Führers, Willkommen in der Villa!“ Sturmbannführer Kattowitz begrüßte ihn zackig. So, wie sich das zwischen einem untergeordneten Sturmbannführer und einem übergeordneten Obergruppenführer auch gehörte. Ein bisschen Unterschied in der Eliteeinheit musste schon sein.
„Sturmbannführer, sind Sie über meinen Auftrag im Bilde?“
„Bin im Bilde Obergruppenführer. Vorbereitungen sind abgeschlossen.“
Aus der Höhe, aber noch weit entfernt, näherte sich das Geräusch des Aufklärungsflugzeuges.
„Aufdringlich wie die Fliegen, der Tommy heute. Bitte einzutreten. Ist sicherer gegen Spionage.“
Die Kommunikation des Sturmbannführers schien sich auf einen kurzen Telegrammstil zu beschränken. Konrads Begleiter hatte sich erst gar nicht der Begrüßungszeremonie angeschlossen und war gleich nach der Ankunft im Haus verschwunden. Angeblich hatte er etwas Wichtiges mit dem Führerbunker in Berlin zu erledigen. Deshalb war er schnell in der Funkstation und hatte sich an eine spezielle Chiffrierarbeit gemacht, ohne die Codiermaschine ENIGMA zu benutzen. Er bekam auch sehr schnell eine Antwort, die recht ausführlich ausfiel. Deshalb brauchte er auch länger, sie in verständliches Deutsch zu übersetzen.
Konrad war in der Zwischenzeit in ein großes Wohnzimmer mit Blick auf den Atlantik geleitet worden und bekam Getränke angeboten.
„Schottischer Whisky, spanischen Cognac oder doch lieber einen portugiesischen Rotwein?“
„Geben Sie mir einen Whisky, darauf versteht sich der Tommy wenigstens. Und berichten Sie über den Zustand Ihrer Einheit!
„Jederzeit einsatzbereit. Sollstärke zweiundvierzig Mann, Iststärke zweiundvierzig Mann, keine Kranken. Stimmung ausgezeichnet. vierzehn Fahrzeuge betriebsbereit …. .“
„Das interessiert mich nicht!“, fuhr Konrad grob dazwischen. „Was ist mit dem Bunker?“
„Bunker bereit zur Aufnahme von XQH. Milchkuh mit Diesel und Flugbenzin bereits eingetroffen …“
Der Sturmbannführer wurde durch den Eintritt von Konrads Begleiter in den Raum unterbrochen. Mit einem Handzeichen hatte der ihm Einhalt geboten. Von anderen hätte sich Kattowitz diese Behandlung sicherlich nicht gefallen lassen. Dieser fremde Mensch, in der Uniform der SS, allerdings ohne Rangabzeichen, strahlte aber eine solche Befehlsautorität dass, dass er jäh verstummte. Kattowitz‘ Eindruck wurde verstärkt durch die Art, wie der Fremde mit Konrad umging. Er fasste ihn leicht am Arm und führte ihn ohne jede Gegenwehr weg von Kattowitz, hin zum weiter entfernten Fenster. Dort begann er mit ihm zu flüstern und reichte ihm schließlich einen Bogen Papier.
„Der Führer ist tot. Heute, am 30. April 1945, um ungefähr 15 Uhr 30 hat er sich erschossen. Sie haben ihn gerade erst gefunden. Die Meldung ist sicher.“
„Hat sich der Kerl gerade noch auf die letzte Sekunde einfach davongemacht.“ Konrad sah gedankenverloren aufs Meer hinaus.
„Diese Nachricht wird der großdeutsche Rundfunk morgen verbreiten“, der Begleiter reichte Konrad einen Bogen Papier:
„An der Spitze der heldenmütigen Verteidiger der Reichshauptstadt ist der Führer gefallen. Von dem Willen beseelt, sein Volk und Europa vor der Vernichtung durch den Bolschewismus zu erretten, hat er sein Leben geopfert.“
Konrad und sein Begleiter sahen sich in die Augen. Sie mussten lächeln.
„Kann man sich selbst heldenmütig umbringen? Unten im Führerbunker? Mit allen Verteidigern der Reichshauptstadt zusammen?“, flüsterte der Begleiter.
„‚Man‘ nicht, mein Lieber, nur der Führer kann das. Sonst opfert ja auch heute niemand mehr sein Leben im Kampf gegen den Bolschewismus.“ Beide grinsten sich an. Dann aber brachten sie schnell ihren Gesichtsausdruck wieder in die der Situation angebrachte Ordnung.
„Kattowitz“, Konrad konnte den Befehlston gut, „Sie werden neue Befehle bekommen. Und zwar von mir. Ausschließlich. Befehle und Meldungen aus Berlin oder von sonstigen Dienststellen haben geheim zu bleiben und sind mir unverzüglich vorzulegen. Unverzüglich! Und nur mir! Das ist ein Befehl. Geheime Reichssache! Teilen Sie das dem Funkraum mit. Die Funker unterstehen ab sofort allein meinem Befehl! Verstanden?“
Kattowitz knallte die Hacken zusammen und riss die Hand zum Hitlergruß hoch.
„Du dumme Sau, wenn du wüsstest“, dachte Konrad. Das aber sagte er nicht.
I/23.
Slot hockte am Fuße der Treppe und lauschte hinein in den Gang und nach draußen in den Garten. Nichts passierte, außer einem entfernten Rasenmäher war nichts zu hören. Slot schoss es durch den Kopf, dass in dieser Siedlung eigentlich immer irgendwer seinen Rasen mähte. Richtige Ruhe gab es lediglich mitten in der Nacht. Langsam schlich er durch die Röhre in Richtung des hinteren Raumes. Kurz vor der Blechklappe hielt er noch einmal inne und horchte. Aus dem Inneren des Hauses vernahm er ein dumpfes Rauschen mit einem regelmäßigen Klopfen. Lange rätselte er, woher das Geräusch kommen könnte, bis er bemerkte, dass er seinen eigenen Herzschlag hörte. Ein bisschen schämte er sich, auf seinen eigenen Körper hereingefallen zu sein.
Vorsichtig öffnete er die Klappe und leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein. An dem Zustand des Raumes schien sich nichts geändert zu haben. Keuchend kletterte er die kurze Wandleiter hinab und überlegte, ob er die Klappe wieder verschließen sollte. Er sah davon ab, weil eine Flucht von geschlossenen Türen behindert werden könnte und vom Garten aus niemand kommen würde, weil der Einstieg verriegelt war. Schnell durchquerte er beide Räume, öffnete die Türe zum Vorraum und stieg die Leiter ins Erdgeschoss empor. Oben angekommen schob er die Metallwand weg und stand alsbald hinter dem Bücherregal. Auch jetzt war aus dem Haus nichts Verdächtiges zu hören. Also öffnete er die Geheimtür.
Der große Raum lag im Halbdunkel. Anscheinend hatten die letzten Besucher die Vorhänge zugezogen, um nicht erkannt zu werden. Slot war das sehr recht. Er suchte nach zwei geeigneten Plätzen für seine Abhöreinrichtungen. Er hatte extra darauf geachtet, zwei Babyphone mit Batterie- und Netzbetrieb zu bekommen. Sollte der Strom abgeschaltet werden, würden die Geräte trotzdem funktionieren. Er musste aber einen Platz finden, an dem die Geräte nicht auffielen und in dessen Nähe eine Steckdose war. Der erste Platz war schnell gefunden. Unter dem Sofa, dicht bei einem Stromanschluss, der von ebendiesem Möbelstück zudem noch verdeckt wurde. Der zweite Platz war schwerer zu finden, war dann aber ideal für ein Lauschgerät. Neben der Tür, eingekeilt in eine Nische, stand ein bombastischer Schreibtisch, auf dessen Rückseite sich eine Vielzahl von Fächern befand. In diesen Fächern lagerten Bücher und Schriften, füllten den Raum allerdings nicht komplett aus. Hier legte Slot das zweite Gerät ab und führte das Kabel unter einem Teppich zur Steckdose. Mit Wohlgefallen betrachtete er sein Werk, kontrollierte noch einmal, dass die Geräte eingeschaltet waren, und verließ den Raum. Geheimtüre schließen, Metallwand zurückschieben, erst danach fühlte er sich wieder einigermaßen sicher.
Als Erstes verschaffte sich Slot in den beiden Räumen einen Überblick darüber, was hier herumstand. Er fotografierte wild in beiden Räumen, ohne auf besondere Inhalte zu achten. Später konnte er zu Hause nachsehen, was er gefunden hatte. Er fotografierte zuerst den ganzen Raum und dann viele, viele Einzelheiten, ohne den Aufbau der Kisten und Schachteln zu verändern, dann die Waffen und die Stapel der Kisten. Als er glaubte, sich zumindest fotografisch einen Überblick verschafft zu haben, wandte er sich den Behältern mit den Dokumenten zu.
Zuerst klappte er immer nur den Deckel der Blechkisten auf, nahm einen der Pappaktendeckel heraus und fotografierte das oberste Blatt. In der ersten Kiste lagen Unterlagen über das Aggregat 1 bis 3. Slot wusste, dass die SS irgendwann das Raketenprogramm mit dem Tarnnamen Aggregat X an sich gerissen hatte und als Waffe gegen die Niederlande, Belgien und England einsetzte. Als Aggregat 4 schließlich funktionierte, nannte Goebbels die Rakete V 2, Vergeltungswaffe 2. Danach wurden weitere Entwürfe und Testmodelle gebaut, die schließlich als Aggregat 10 Amerika erreichen sollten. Die Entwicklung wurde aber nicht abgeschlossen. V 10 blieb der Wunschtraum der Nationalsozialisten. Wernher von Braun brachte die Entwicklung erst Jahrzehnte später für die USA zum Abschluss.
In anderen Kisten lagerten Entwürfe, Pläne und Details für Flugzeuge von Heinkel, Messerschmid und Arado, He 178, He 280, Me 262, Ar. 234 und noch viele andere Typen mehr. Slot konnte die Pläne und Dokumente nur zum Teil fotografieren, dazu waren es zu viele. Schließlich stieß er aber auf eine Kiste mit Unterlagen über die Horten H XVIII, einem Nurflügler, der als Bomber dienen sollte. Die Pläne waren sehr präzise und anscheinend fertig ausgearbeitet. Von der H IX, einer früheren Variante, hatte Slot schon gehört. Der Bomber galt damals, 1944, als das modernste und innovativste, was im Flugzeugbau zu finden war. International. Er war auch unter der Bezeichnung Ho 229 unter Fachleuten bekannt. Erst viel später, 1993, baute die amerikanische Rüstungsfirma Northrop die B 2, einen flugfähigen Nurflügler als Serienmaschine. Und jetzt lagen vor ihm die kompletten Unterlagen für das neue Modell HXVIII vor ihm. Neugier hatte ihn gepackt.
Gut drei Stunden später hatte er den gesamten Inhalt der Blechkiste fotografiert. Die Akkus der Kamera waren leer und die Speicherkarten voll. Slot musste die Arbeit abbrechen. Das Wasser war ausgetrunken und er fühlte sich schrecklich müde, der Rücken schmerzte und die Augen tränten. Slot musste für heute Schluss machen. Er bemühte sich, die Kiste wieder so einzuordnen wie er sie gefunden hatte, war aber fast sicher, dass es niemandem auffallen würde, wenn einige Unterlagen anders angeordnet wurden als vorher. Er schaltete das Licht aus, schloss hinter sich die Türen und begab sich zum Hinterausgang.
Draußen dämmerte bereits der Abend. Slot klemmte sich wieder auf die Leiter und spähte rund zehn Minuten durch den Schlitz unter der Klappe in alle Richtungen. Ihm fiel nichts auf, was ihn hätte erschrecken können. Das Schnappschloss präparierte er wieder mit den Geldmünzen, hob den Deckel an und verschwand in der Dämmerung des Abends.
„Na? Wieder mal munter gewesen?“ Der nervende Nachbar, der immer einen krampfhaft lustigen Eindruck zu vermitteln suchte, musste ihm natürlich ausgerechnet über den Weg laufen, als er aus dem Wald kam. Er stand in seinem Vorgarten und bereitete sich darauf vor, seinen Rasenmäher anzulassen. Es war eines dieser Teile, auf dem der Bediener Platz nehmen konnte und das Gerät wie einen kleinen Traktor durch die Gegend bewegte. Bei dem Leibesumfang des „lustigen“ Herrn Schmitz hätte diesem zwar ein Handgerät besser angestanden, aber der Herr wollte es eben bequemer.
„Ich habe im Wald Fotos gemacht“, bemerkte Slot und deutete auf den Fotoapparat, der an seinem Hals baumelte.
„Ja, dafür muss man Zeit haben. Dafür muss man Künstler sein“, bemerkte Herr Schmitz, den Slot entweder nur faul herumstehen sah oder der gemütlich Rasenmäher fuhr. Ansonsten war Herr Schmitz nie auffällig gewesen. Slot nickte nur grinsend, denn auf Diskussionen hatte er jetzt keinen Bock. Er wollte nur schnell nach Hause. Der andere sah dies als Bestätigung seiner Aussage und begann frohen Herzens seinen Mäher anzuwerfen, obwohl der Rasen noch ganz kurz war.
Zu Hause stellte Slot sich unter die Dusche und verbrachte geraume Zeit an diesem Ort, um seine Gedanken zu ordnen. Danach ging er in die Küche, holte Bier aus dem Kühlschrank und briet sich drei Eier in der Pfanne. Weil das ziemlich schnell ging, saß er alsbald mit Teller und Getränk an seinem Schreibtisch. Irgendwo neben oder unter den Papieren musste noch eine Plastiktüte mit Brot sein, die er zum Ei essen wollte. Er musste auch nur wenige Bücher zur Seite räumen, um die Packung zu finden.
Dann begann er den Inhalt der Speicherkarten auf eine Festplatte zu überspielen. Weil das weitgehend ohne sein Zutun geschah, hatte er Gelegenheit, die beiden Empfänger einzuschalten und zu prüfen, ob seine beiden Babyphone auch wirklich funktionierten. Nacheinander drehte er die Verstärkungen lauter und hörte zuerst lediglich ein Rauschen. Erst als draußen, laut miteinander streitend, einige Kinder mit den Rädern vorbeifuhren, kamen ihre Stimmen kurze Zeit später auch aus den Lautsprechern. Das bedeutete, dass zwar im Hause selbst nichts los war, die Geräte aber funktionierten.
Slot träume schon davon, dass die fremden Besucher im Hause des verblichenen Kunsthändlers ihm schon bald ihre intimsten Geheimnisse verraten würden, als ihm bewusst wurde, dass er nun, von dieser Sekunde an, ununterbrochen und ohne Pause neben den Geräten Wache halten musste, um diese Gespräche auch mitzubekommen. Das passte ihm jetzt wiederum gar nicht. Da musste eine Alternative her. Er hatte davon gehört, dass es im Überwachungsbereich Kameras und Aufzeichnungsgeräte gab, die nur dann ansprangen, wenn tatsächlich etwas los war. Der elektronische Kettenhund quasi. Im Internet war schnell eine ganze Menge gefunden und es eröffnete sich Slot eine völlig neue Welt des Misstrauens.
Unter der Bezeichnung „Detektivausrüstung“ lernte er eine Vielzahl von Geräten kennen, um seine Nachbarn, besonders aber untreue Ehegatten und Geschäftspartner zu bespitzeln. Außerdem fand er das schönste Einbrecherwerkzeug, das man sich vorstellen konnte, Übungsschlösser zum Knacken und die besten Gebrauchsanleitungen zum Einstieg in fremde Häuser. Schnell erkannte er zudem, dass seine beiden Babyphone anscheinend die Technik aus einem vergangenen Jahrhundert darstellten. Auf diesem Marktplatz hätte er wesentlich moderneres Zeug bekommen können. Nun aber standen die Teile im Wohnzimmer des Verblichenen und funktionierten. Relativ schnell fand er etwas, wonach er suchte. Es war eine Software, mit der er in seinem Computer die Töne der beiden Empfänger aufzeichnen konnte. Die Aufzeichnung wurde aber nur eingeschaltet, wenn ein einstellbarer Pegel überschritten war. Das war genau das, was er brauchte. Er konnte dieses Programm sogar sogleich herunterladen und wurde anschließend aufgefordert, seine Kreditkartennummer einzugeben. Sonst würde das Programm nicht funktionieren. Dreißig Minuten später bekam er per E-Mail ein Passwort und nach knapp einer Stunde funktionierte seine neue Spionagestation tatsächlich. Natürlich war ihm klar, dass dies alles völlig außerhalb der Legalität war. Aber, so dachte er sich, solange die NSA und der bundesdeutsche Geheimdienst das ebenso machten, brauchte er kein schlechtes Gewissen zu haben. Deshalb konnte er sich nach dieser Einsicht beruhigt das zweite Bier des Abends leisten.
I/24.
„Jungs, wir haben neue Befehle bekommen, müssen sie aber noch entschlüsseln. Dann sehen wir weiter. LI, legen Sie das Boot still. Keine Bewegung, kein Geräusch. Maschinen aus. Haut euch aufs Ohr. Ich melde mich, wenn ich Bescheid weiß. Zwei WO übernehmen Sie die Wache.“ Neumann verzog sich mit seinem ersten Wachoffizier in seine kleine Kammer, um den Text zu entschlüsseln.
Viele der Mannschaft legten sich in die Kojen, einige spielten leise Karten, andere lasen, und der Funkmaat hörte das Meer nach ungewöhnlichen Geräuschen ab. Die Maschinisten der E- Maschinen reparierten leise eine Kleinigkeit. Vorher waren sie nicht dazu gekommen. Die Dieselheizer schmierten ihre Maschinen ab, man konnte nie wissen, was geschehen würde.
Der Leitende Ingenieur hatte das Problem das Boot in der richtigen Lage und in der geplanten Höhe zu halten. Er ließ deshalb mehrmals die E-Maschinen anspringen, um sich gegen die Strömung behaupten zu können und genug Druckluft für die Ausgleichstanks zu haben. Neumann riss dann jedes Mal die Falttür zu seiner Kammer auf und fragte genervt, was denn los sei. Die Antwort des LI war immer die gleiche: „Nix Kommandant, nur die Strömung. Sonst nix.“
Nach zwei Stunden und mühsamem Hin- und Herblättern in dem kleinen Büchlein hatten sie es endlich geschafft. Der Text war entschlüsselt. Neumann ließ sich und Rabenhorst ein Bier bringen. Das hatten sie sich verdient. Die Mannschaft sollte anschließend auch eins bekommen. Das hatten sie sich alle verdient.
„Mal herhören! Wir fahren zuerst nach Fuerteventura, das wussten wir bereits. Aber wir werden in einem unterseeischen Bunker anlegen. Den zu treffen wird nicht ganz einfach sein. Die Einfahrt liegt unter Wasser, das heißt, wir müssen genau peilen, dann tauchen und aufpassen, dass wir uns die Nase nicht an einem Felsen ramponieren. Das Beruhigende ist, wir sind nicht die Ersten, die da anlegen. Bis jetzt ist dort noch keiner gesunken. Wir sind übrigens die Nummer zwei, die das versucht. Danach gehen wir weiter Richtung Südwest. Weil alles so gut funktioniert hat, bekommt jetzt jeder eine Flasche Bier. Das war‘s.“
Die Mannschaft war von dem Bier sehr begeistert. Es war das erste seit ihrer Abfahrt in Bremen. Bisher gab es unterwegs als Flüssiges nur Kaffee, Tee und manchmal ein Getränk, das nach dem Aufdruck auf den Flaschen als Apfelsaft durchgehen sollte. Neumann winkte den Navigator und den Leitenden Ingenieur zu sich.
„Wir steuern die Nordwestküste von Fuerteventura an. Die anzusteuernde Position ist Ihnen bekannt. 28 Grad 11 Minuten Nord, 14 Grad 24 Minuten West. Knapp vor der Küste von Fuerteventura. Wir werden, das wird zumindest behauptet, zwei Landmarken sichten. Nachts sollen diese Landmarken durch zwei Lichter gekennzeichnet sein. Von unserem Ansteuerungspunkt aus liegen tagsüber die Marken oder nachts die Lichter präzise übereinander. Das obere Licht ist blau und steht auf einem Turm, der gut erkennbar sein soll. Das untere Licht ist weiß und steht auf einer drei Meter hohen Betonsäule, gut vierhundert Meter hinter der Brandungslinie. Diesen Kurs müssen wir genau einhalten, sonst gibt’s Schrott. Wenn das untere und das obere Licht durch das Heranfahren fast verschmelzen, müssen wir tauchen und den Kurs halten. Die Strömung parallel zur Küste kommt aus West. Sie soll bis zum Ufer gleich bleiben. Wir können sie also schon vorher messen. Der Tunnel zum Bunker ist achtundzwanzig Meter hoch und fünfundzwanzig Meter breit. Die Oberkante liegt vier Meter unter dem mittleren Wasser. Bei langer Tide soll man die Betoneinfassung des Tunnels erkennen können. Die Einfahrt hat eine Rinne von fünfunddreißig Metern Tiefe. Die endet unmittelbar vor dem Tunnel, wir haben da also eine Stufe. Die dürfen wir nicht rammen. LI die Tauchtiefe müssen wir genau treffen. Den Tunnel können wir auch mit dem Horchgerät anpeilen. Die haben einen Geräuscherzeuger dort installiert. Den müssen wir ansteuern. Wenn wir dranstoßen sind wir drin, dann Maschinen Stopp. Wir können auch die S-Anlage benutzen. Das Sonar wird uns helfen, den Tunnel zu treffen. Allerdings werden wir es nur mit kleiner Leistung und nur ganz kurz einsetzen. Das Gerät ist nämlich wie die Nebelglocke in der ruhigen Nacht. Alle anderen in der Nähe hören mit und kommen dann, um mitzuspielen. Das wollen wir vermeiden. Gibt es noch Fragen?“
Bis auf Kleinkram war nichts mehr zu klären. Der Navigator zeichnete sich seinen geplanten Kurs schon einmal in eine Karte der Küstenlinie ein. Der LI bereitete seine Leute an den Rudern auf die schwierige Situation vor. Der Kommandant ließ auftauchen. Draußen war es dunkel, die Sicht war ausgezeichnet, der Mond eine kleine Sichel. Hervorragendes Wetter. Weit voraus der Schatten eines Gebirges. In die Berge eingebettet zwei Lichter. Ein blaues oben und ein weißes unten. Winzig klein, aber durch die Gläser gut zu erkennen. Noch waren die Lichter leicht versetzt, das aber war für die Steuerleute kein Problem. Kurz nach Mitternacht lagen sie auf präzisem Ansteuerungskurs, bereit, den schwierigen Anlauf in den engen Tunnel mit nur ein paar Metern Durchmesser zu wagen. Ein Tunnel, der unsichtbar unter Wasser lag. Ein Tunnel, der zu einem der geheimsten Bauwerke führte, das das Großdeutsche Reich unter den Nationalsozialisten jemals geplant und gebaut hatte. Dem U-Boot-Bunker von Jandia. Mitten im Sperrgebiet von Fuerteventura.
I/25.
Konrad war zusammen mit seinem Begleiter hinausgetreten ins Freie. Da sie sich nicht sicher sein konnten, dass die SS nicht auch die eigenen Leute abhörte, wollten sie jede Komplikation vermeiden.
„Hoffmann, der Russe steht in Berlin, der Ami an der Elbe und der Engländer mittendrin. Der Führer hat sich vom Acker gemacht. Der Krieg ist in wenigen Tagen zu Ende. Wen wir jetzt nicht sehr schlau sind, sind wir in ein paar Tagen am Arsch. So richtig am Arsch. Zumindest wir haben früh genug Land gewonnen. Und das sogar noch auf Weisung unseres geliebten Führers. Was werden Sie jetzt machen, Herr Sturmbannführer bald außer Diensten?“
„Mein lieber Obergruppenführer mit besonderem Auftrag, ich werde genau das tun, was mir der dahingegangene geliebte Führer befohlen hat. Ich werde Geld ausgeben. Das Geld des Großdeutschen Reiches. Ich habe vorhin nicht nur die Todesmeldung bekommen, sondern auch die Mitteilung, dass der Geldbote der Deutschen Reichsbank in Madrid angekommen ist. Er hat ein paar Tonnen Gold und Silberreserven in seinem Handköfferchen. Das werde ich jetzt gewinnbringend anlegen. Das Internationale Rote Kreuz in Spanien und die Katholische Kirche brauchen dringend Kapital und vermitteln dafür Visa, Schiffspassagen und Unterbringungen. Diesen armen Organisationen muss doch geholfen werden. Übermorgen am Abend geht ein spanisches Schiff vom Hafen Morro Jable auf Fuerteventura nach Malaga auf dem spanischen Festland. Ich gebe zu, es ist kein komfortables Schiff, aber es nimmt Passagiere mit und hat auch Kabinen. Dort wird ein gewisser Ingenieur Dr. Hans Schwertli, wohnhaft in Bern und Schweizer Staatsbürger, die Kabine Nummer 14 beziehen. Schwertli ist in Wirtschaftsfragen unterwegs. Sie verstehen.
In Spanien werde ich mir wohl eine bescheidene Bleibe am Meer suchen, denn in Madrid ist es im Sommer immer so brütend heiß. Ich kenne das noch von der Legion. Das muss ja niemand haben. Und dann werde ich geduldig auf Volksgenossen warten, die meiner Unterstützung bedürfen. Irgendwann kann ich mich wieder so nennen, wie ich heiße und bin ein gern gesehener, weil wohlhabender Gast im schönen Land des Generalissimo Franco. Das ist erst mal alles.“
Konrad lachte so laut hinaus, dass der Wachtposten verblüfft über die Mauer schaute. Er zog aber schnell den Kopf ein, als er sah, wer auf der anderen Seite stand. Bei diesen Vorgesetzten sollte man lieber nichts hören und nichts sehen, dann musste man auch nichts melden.
„Hoffmann, Sie sind schon immer ein schlauer Fuchs gewesen. Bei all Ihren Kommandounternehmen, beim Duce, beim Führer und jetzt hier. Sehr gut organisiert. Kein Wunder, dass Sie bei uns was geworden sind. Wir werden uns zwar kaum wiedersehen, aber ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“
Sinnierend blickten beide aufs Meer. Der eine in Erwartung eines ruhigen, gut dotierten Jobs als Reisevermittler für besondere Personen, und der andere dachte darüber nach, ob sein Vorhaben gelingen würde, die technischen Errungenschaften nationalsozialistischer Ingenieure und Techniker teuer zu vermarkten. Nicht umsonst schleppte er viele Kisten mit Papieren mit sich herum und nicht umsonst hatte er ‚im Westen des Reiches‘, so hatte er einmal sybillinisch angedeutet, Kopien versteckt. Die Sonne versank hinter den Bergen und die Ordonanz bat sie zum Abendessen.
Kattowitz erwartete sie bereits stehend neben dem gedeckten Tisch. Es waren vier Gedecke mehr da als Anwesende.
„Erwarten wir Gäste?“ Konrad zeigte sich verblüfft.
„XQH ist gemeldet worden. Bitte ans Fenster zu treten.“ Draußen war es inzwischen stockdunkel geworden.
„Sehen Herr Obergruppenführer die weiße Lampe unten am Strand? Eine andere ist oben am Turm. In gerader Linie weiter aufs Meer kommt XQH, zuerst aufgetaucht, dann getaucht in den Tunnel zum Bunker. Erwarten die XQH-Offiziere noch während des Abendessens.“
„Aha.“ Konrad wollte den Vorgang nicht kommentieren. „Hoffentlich treffen die auch das Loch.“ Weitere Regungen unterblieben. Schweigend wurde das Abendessen begonnen. Es gab kaltes, dünn geschnittenes, scharf gewürztes Lammfleisch, gebratene Kartoffeln, gedünstetes Gemüse und dazu schweren Rotwein vom Festland. Die Nachspeise war noch nicht serviert, da klingelte das Feldtelefon. Die Ordonanz stürzte sofort an den Apparat.
„Obergruppenführer, XQH ist gesichtet worden. Auf Anlaufkurs.“
Das Abendessen war uninteressant geworden. Alle stürzten zum Fenster. Konrad befahl, sofort das Licht zu löschen, man könne ja gar nichts sehen. Alle starrten in die schwarze Nacht und sahen lediglich eine schwarze Nacht.
I/26.
„Ruder mittschiffs!“ Der Befehl wurde vom Turm aus in die Zentrale, sechs Meter tiefer, weitergegeben, und die Steuerleute führten ihn aus.
„Frage: Versatz durch Strömung?“
„Geschätzt ein Knoten zurzeit.“
„Ruder, zwei Grad steuerbord.“ Sekunden später lag der neue Kurs an.
„Ruder mittschiffs!“
Der Kommandant und der Erste Wachoffizier standen auf der Brücke. Hinter ihnen, den Blick aufs offene Meer gewandt, drei Matrosen der Wache, die auf feindliche Bewegungen zu achten hatten.
„Frage: Sichtungen?“ „Keine Kommandant“, kam es dreimal zurück.
„Sehen Sie eine Brandungswelle?“ Auch der Kommandant starrte angestrengt durch sein Glas.
„Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber ich bilde mir ein, einen fluoreszierenden Streifen zu sehen. Das könnte die Brandung sein.“
„Schleichfahrt!“ Die E-Maschinen für die Schleichfahrt wurden angeworfen, das Boot verlor an Fahrt.
„Vielleicht noch einhundert Meter, dann sind beide Lichter deckungsgleich, Kapitän.“ Rabenhort hatte keine Lust, Gräben in den Meeresgrund zu pflügen.
„LI Frage: Tiefe?“
„Siebenunddreißig Meter abnehmend!“
„Tiefe laufend ansagen! LI: Fahrt rausnehmen!“
„Kommandant, wenn ich noch mehr Fahrt rausnehme, verlieren wir die Steuerkraft.“
„Fahrt reduzieren!“
„E-Maschinen stehen auf Minimum.“
„Meldung: Tiefe sechsunddreißig Meter mittschiffs!“
„Das Boot ist 76,7 Meter lang. Hoffentlich wird es vorne nicht zu knapp.“
„Es darf aber auch oben nicht zu knapp werden, sonst rennen wir uns den Turm ein.“
„Frage Horchposten: Kontakt?“
„Kein Kontakt! Wiederhole: Kein Kontakt! Kommandant Frage: Wissen die, dass wir kommen und das Ding auch anschalten?“
Eine Antwort auf diese Frage blieb Neumann schuldig, denn er wusste es auch nicht.
„Meldung: Tiefe fünfunddreißig Meter mittschiffs.“
„LI Tiefe weiter messen. Wiederhole: Tiefe weiter messen.“
„Kommandant! Deckung der Lichter. Tauchpunkt erreicht!“
„Einsteigen! Auf zwölf Meter über Grund gehen.“
Einer nach dem anderen rutschten sie die Leiter hinab. Die Wache zuerst, zum Schluss der Kapitän, die Klappe zugeschlagen und verriegelt.
„Rotlicht aus!“
Sofort flammte die schummerige Normalbeleuchtung an und machte das Innere des Bootes einigermaßen übersichtlich.
„Meldung: Höhe zwölf Meter über Grund erreicht.“
„LI! Halten Sie diese Höhe über Grund. Unbedingt halten. Sonar! Ein Ping! Mehr nicht.“
Alle im Boot hörten diesen durchdringenden Ton, der anderen Besatzungen häufig den Tod gebracht hatte, wenn sie von alliierten Schiffen verfolgt wurden. Hier sollte der Peilton Gewissheit darüber schaffen, dass sie auf dem richtigen Weg waren.
„Meldung: Wand geschätzt achtzig Meter voraus. Einfahrt noch nicht messbar.“
Irgendwas knirschte unter dem Maschinenraum im hinteren Teil des Bootes. Als hätten sie Grundberührung.
„Das ist nur Sand. Von der Seitenströmung in den Kanal gespült. Das kann das Boot ab!“
Zwar hörten alle die Worte des Kapitäns, so recht glauben wollte es aber keiner. Dann aber war ein anderes Geräusch nicht zu überhören. Ein stetiges Klopfen, als würde irgendwer mit einem Hammer auf eine Schiene schlagen.
„Frage: Soll das der Kontakt sein, nach dem wir steuern sollen?“ Der Horchposten war sich nicht sicher, wie er das Geräusch einordnen sollte.
„Wir nehmen es mal an. Horchposten: Verfolgen Sie das Geräusch.“
„Meldung von Horchposten: Hammerähnliches Geräusch geschätzt einhundertzwanzig Meter voraus, leicht nach Backbord versetzt. Geräusch kommt langsam näher.“
„Meldung: Tiefe schwankt erheblich zwischen zwölf Metern und sechs Metern.“
„Ruder ein Grad Steuerbord.“
„Meldung: Ruder spricht nicht an. Geschwindigkeit zu gering.“
„Jetzt treiben wir den Teufel mit dem Beelzebub aus. LI Geschwindigkeit hoch!“
Das Summen der E-Maschinen kam allen plötzlich sehr laut vor.
„Meldung: Boot dreht.“
„Ruder mittschiffs, E-Maschinen langsam. Sonar: Ein Ping!“
Wieder dieses Geräusch. Ping. Wieder die Angst, die in vergangenen Tagen immer wieder gefestigt worden war.
„Meldung von Horchposten: Hammerähnliches Geräusch kommt näher, jetzt Abstand einhundert.“
„Meldung von Sonar: Wand voraus geschätzt sechzig Meter. Möglicherweise Öffnung in der Wand fünfundzwanzig mal fünfundzwanzig Meter, Lage noch unklar. Frage: Erlaubnis zu weiterem Ping?“
„Erlaubnis erteilt!“
Noch ein Ping.
„Meldung von Sonar: Öffnung nun sicher. Öffnung weitgehend rund, über zwanzig Meter Durchmesser. Leicht nach Backbord versetzt. Stufe am Meeresboden voraus. Höhe zirka drei bis vier Meter. Abstand siebzig.“
„Meldung: Boot driftet nach Backbord ab. Vermutlich Strömung.“
„Ruder zwei Grad steuerbord. LI Geschwindigkeit hoch, Höhe elf Meter über Grund halten. Frage Horchposten. Wie ist die Lage?“
Inzwischen fuhren die E-Maschinen hoch.
„Abstand achtzig. Hammerähnliches Geräusch mittschiffs voraus. Signal wird stärker.“
„Ruder mittschiffs! Ansage Höhe über Grund.“
„Elf Meter, -- zehn Meter ….“
„LI Geschwindigkeit runter!“
„Meldung von Horchposten: Hammerartiges Signal mittschiffs.“
„Meldung: Höhe über Grund sechs Meter.“
„LI wir sind im Tunnel, gehen Sie einen Meter höher. Aber nicht mehr! Um Gottes Willen nicht mehr. Sonst kratzen wir unseren Turm an.“
„Verstanden, einen Meter höher.“
Der Leitende Ingenieur gab seinen Steuerleuten hektische Anweisungen und warnte gleichzeitig davor, nicht zu hektisch zu sein. Ruderausschläge, die jetzt zu stark ausfielen, konnten katastrophale Folgen haben.
„Meldung von Horchposten: Hammerschläge werden schneller! Das Signal ist dicht vor uns. Hammerschläge sind weg. Wiederhole: Hammerschläge sind weg.“
Von der Backbordseite waren schrammende Geräusche zu hören, als scheuerte das Boot leicht an etwas Hartem entlang.
„LI: E-Maschine halbe rückwärts.“
„E-Maschine halbe rückwärts!“ Die Maschinen wurden laut und das Boot verlor ruckartig an Fahrt.
„Meldung: Boot macht keine Fahrt mehr.“
„Sonar: Versuchen Sie über „Gertrude“ Verbindung aufzunehmen.“
Der Kommandant hastete die paar Schritte zur Sonarstation, in der auch das Unterwassertelefon mit dem Tarnnamen „Gertrude“, untergebracht war. Im Prinzip war Gertrude ein starker Unterwasserlautsprecher, den andere Sonarstationen hören konnten. Die Reichweite war sehr beschränkt.
„Ist was zu hören, antwortet jemand?“
Der Sonarmaat schüttelte nur den Kopf.
„Rufen Sie noch einmal.“ Dem Kommandanten wurde bewusst, dass er große Probleme bekommen würde, wenn er in den falschen Tunnel gefahren wäre. Aber, die Daten, die Peilung, die Tiefen, alles hatte gestimmt.
Im Lautsprecher krachte es. Dann Stille, dann wieder Krachen und dann eine Stimme:
„Deutsches U-Boot, hier spricht der Kommandant des U-Boot- Bunkers Jandia, schalten Sie Ihre Positionslampen an, damit wir die Lage des Bootes erkennen können.“
„Positionslampen an, Rotlicht einschalten. Wach-Kommando zum Aussteigen bereitmachen. Vorbereiten auftauchen.“
Draußen, in rund zehn Meter Wassertiefe, gingen die Positionslampen des Bootes an. Vorne, hinten und beiderseits des Turmes.
„Deutsches U-Boot, willkommen auf Jandia. Bleiben Sie bitte auf dieser Position, der Befehlshaber des Stützpunks ist auf den Weg hierher und will Sie begrüßen. Ich werde Ihnen die Aufforderung zum Auftauchen dann geben.“
„Frage an Kommandant des U-Boot-Bunkers: Warum hat Ihr Peilsignal nicht funktioniert. Wir hatten erhebliche Schwierigkeiten. Ihr Signal ist schwer aufzunehmen.“
„Deutsches U-Boot. Ich bin nicht befugt, Ihnen auf Ihre Frage Antwort zu geben. Fragen Sie den Stützpunktkommandanten!“
Neumann musste sich erst einmal schütteln.
„Wetten, dass der Kerl von der SS ist. So arrogant können andere gar nicht sein!“
I/27.
Slot war ganz stolz auf seine Vorbereitungen zum Besuch der Fremden in der Wohnung des verblichenen Kunsthändlers. Da aber nicht zu erwarten war, dass sie sogleich, quasi auf Einladung, kamen, schaltete er die Empfangsstationen auf Bereitschaft und ließ das Programm im Hintergrund des Computers laufen. Danach sah er sich das Ergebnis seiner Fotografiererei an. Im Prinzip war er von dem Ergebnis angetan, doch fragte er sich, ob das Ganze überhaupt sinnvoll gewesen war. Die Serie über den Nurflügler Horten H XVIII erweckte aber aufs Neue sein besonderes Interesse. Die Fotos der Pläne und die Reproduktionen von Abbildungen von bereits fertiggestellten Testversionen ließen ihn ahnen, dass die Entwicklung weitgehend abgeschlossen war.
Er konnte sich erinnern, dass die B 2, das Flugzeug der amerikanischen Rüstungsfirma Northrop aus dem Jahr 1993, nur mithilfe von aufwändiger Elektronik fliegen konnte. Die H XVIII hatte noch keine Elektronik, die diesen Namen verdient hätte. Die Digitalisierung war noch gar nicht erfunden. Wie konnte diese Maschine aber, ebenso wie die Vorgängerin, die H IX, ohne Steuerungshilfen problemlos starten und landen. In der Literatur, nachzusehen im Internet, war zudem zu lesen, dass sich das Flugzeug sehr leicht steuern ließe. Wie konnte das sein. Warum waren die modernen Varianten dem alten Typ unterlegen. Nur Fachleute konnten das herausfinden. Aber hatten nicht die Amerikaner mit ihrer Spezialabteilung CIC, dem Counter Intelligence Corps, während und direkt nach dem Krieg Pläne und Wissenschaftler der Nazis in die USA gebracht. Hatten Amerikaner, Russen und Briten keine Pläne dieses revolutionären Flugzeugs? Im Internet war diese Frage nicht zu klären. Und was war mit den vielen anderen Staaten, die, wild entschlossen, immer mehr Kriegshandwerkszeug entwickelten?
Weiter stieß Slot bei der Sichtung der Fotos auf Akten deren Inhalt er nicht verstand. Es wurde von einem Hauneburg-Gerät, auch V 7 genannt, geschrieben. Vergeltungswaffe sieben. Wieder so ein Hirngespinst? Außerdem wurde in anderen Dokumenten über „die Glocke“ berichtet, die angeblich mit Antigravitation arbeiten sollte. Was war Antigravitation? Waren all dies nur Theorien, wild erfundene Geschichten, Wunschträume der Nazis, oder war tatsächlich etwas Wahres an den Behauptungen über die Wirksamkeit dieser Geräte. Von diesen Unterlagen, des Hauneburg-Geräts und der Glocke, hatte er lediglich die obersten Blätter fotografiert. Alle Unterlagen konnte er bei seinem letzten Besuch nicht aufnehmen. Nur von dem Nurflügler hatte er eine komplette Reproduktion. Das bedeutete, dass er noch einmal in den Bunker hinunter musste, um das Versäumte nachzuholen. Die Originale einfach mitzunehmen war nicht möglich. Der Umfang der Sammlung war zu groß, die Akten zu schwer, um sie allein abtransportieren zu können. Er musste also noch einmal hinein. Um zu reproduzieren.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als bis zum nächsten Morgen zu warten, um dann in den nächsten Elektronikmarkt zu fahren. Er brauchte Speicherkarten, Batterien für die Kamera und eine weitere Festplatte. Seine bisherigen Möglichkeiten waren ausgereizt.
I/28.
„Wir gehen sofort in den Bunker. Ich muss zum Boot. Wichtige Reichssache.“ Konrad hatte es auf einmal furchtbar eilig. „Wo ist der Zugang hier im Haus?“
„Nicht hier, Obergruppenführer. Wir müssen ein Stück mit dem Auto fahren. Zugang liegt außerhalb. Hier war keine Gesteinsblase. Deshalb ist der Bunker weiter unten.“ Kattowitz wollte sofort hinausstürmen.
„Halt, warten Sie mal. Es wurde doch immer behauptet, die Anlage läge direkt unter der Villa. Mit direktem Zugang, einem unauffälligen direkten Zugang.“
„Gerüchte, Obergruppenführer. Dienten nur zur Desinformation. Realität ist anders. Bitte mir zu folgen!“
Während sie nach draußen gingen, konnte sich Konrad nicht beruhigen. „Kaltenbrunner hat mir davon erzählt, und Heydrich. Ich glaube sogar Himmler. Und jetzt stellt sich raus, dass keiner von denen eine Ahnung hatte.“ Konrad blieb stehen und fing an zu lachen. „Lassen Sie dem U-Boot-Kommandanten sagen, dass er warten soll. Ich will ihn begrüßen. Ich will unsere Helden begrüßen.“
Kattowitz gab den Wachsoldaten Befehle. Ein Uniformierter rannte los, um das Auto zu holen, ein anderer stürzte ans Telefon. Konrad, sein Begleiter und Kattowitz stiegen in einen spanischen PKW und ließen sich zum Eingang des Bunkers fahren, der als Bauernhaus getarnt war. Der Wagen fuhr sofort wieder weg, als sie begannen, eine lange Treppe in den Untergrund hinabzusteigen.
Tief unter der Oberfläche öffnete sich eine weite Halle. Große Jupiterlampen beleuchteten einen langen Kanal mit einer Kaje zu beiden Seiten. Mittendrin befand sich eine fast runde Wasserfläche, die in einen breiten Seitenarm überging. An der Decke waren verschiedene Laufkräne installiert, die schwere Lasten heben konnten. Das Ganze sah aus wie eine riesige Fertigungshalle, die von Flussläufen durchzogen war. An der rechten Seite des Gewässers, fast am Ende des Kanals, lag ein deutsches U-Boot vom Typ XIV mit einer Länge von rund 67 Metern. Dieses Boot war als sogenannte „Milchkuh“, als Versorgungsboot, nach Fuerteventura gekommen, um Flugbenzin und Diesel zu bringen. Das Boot lag jetzt ohne Besatzung im Bunker, denn Konrad hatte befohlen, die Männer über Spanien wieder nach Deutschland zurückzuschicken. Die Kriegsereignisse hatten dies indessen verhindert. Die Männer saßen in Spanien fest.
In den Bunker hätten noch vier weitere Boote hineingepasst. Deshalb gab es noch viel Platz. Unheimlich, ja gespenstisch wirkte jedoch das noch getauchte Boot von Kapitän Neumann mit angeschalteten Positionsleuchten in der Tiefe des Beckens. Es schien dort ein unentdecktes Ungeheuer der Tiefe darauf zu lauern, endlich zuschlagen zu können. Mit einer Länge von fast 77 Metern machte es einen gefährlichen Eindruck.
Auf der Kaje standen fast zwanzig SS-Männer mit Schnellfeuerwaffen im Anschlag.
„Weg mit den Waffen. Wir wollen unsere Helden zur See doch nicht wie Verbrecher empfangen. Unterscharführer, lassen Sie die Männer antreten und das Gewehr präsentieren. Wir wollen die Leistung unserer Marine nicht unterschätzen. Obersturmführer, geben Sie dem Boot den Befehl zum Auftauchen. Meine Herren, Sie sollten Haltung annehmen. Sie werden jetzt die modernste Entwicklung der deutschen U-Boot-Waffe zu sehen bekommen!“
Der Obersturmführer, der momentane Kommandant des Bunkers, griff ein einen Blechkasten an der Wand und holte einen Telefonhörer heraus: „Deutsches U-Boot. Tauchen Sie jetzt auf.“
Der Lautsprecher im Wasser gab seine Worte merkwürdig verzerrt wieder. Ebenso die Antwort von unten. „Achtung Bunker, wir tauchen auf!“
Das Wasser im Becken, das bisher lediglich durch die Dünung draußen im Meer leicht bewegt war, schlug auf einmal Wellen. Zischgeräusche drangen nach oben. Das Boot bewegte sich.
„Na also, hat sich das Empfangskomitee da oben endlich versammelt. Na, mal sehen. LI, tauchen Sie langsam auf, wir wissen nicht, wie viel Platz wir haben. Männer! Sobald wir oben sind, raus und auf dem Deck angetreten. Wollen den Kerlen da draußen doch mal zeigen, was die deutsche U-Boot-Waffe kann. Steuerbordwache, ihr übernehmt das Festmachen, Zwei WO, Sie überwachen das. Eins WO, Sie überwachen das Hissen der Reichskriegsflagge. Ich komme als Letzter an Deck und grüße vom Turm aus. Die Steuerleute bleiben an den Rudern, LI, Sie überwachen das.“
Mit träger Gelassenheit stieg der schwarz gestrichene Stahlkörper aus dem dunklen Meerwasser. Im gleißenden Licht der Jupiterlampen glitzerte das Schiff unheimlich. Aus den Ballasttanks stürzte das Wasser in das Hafenbecken. Kaum war das Deck über der Wasserfläche, flog auf dem Turm die Hauptluke auf, und Männer stürzten auf das Deck. Andere Luken wurden ebenfalls geöffnet, Leinen flogen zu den Festmachern. Langsam wurde das Boot dicht an die Kaje herangezogen, lautlos schlug der Stahl an. Autoreifen und Holzbalken schluckten das Geräusch des Anlegens.
„Heil!“ Das Wort Hitler ließ Konrad zum Erstaunen aller weg. „Willkommen auf Fuerteventura. Willkommen auf der Insel.“ Neumann grüßte zurück, seine Leute, aufgereiht in militärischer Ordnung, standen stramm, und sein Erster Wachoffizier kam sich neben der aufgehissten Flagge ein wenig überflüssig vor.
„Kapitän Neumann, sichern Sie jetzt das Boot. Danach werden Sie und Ihre Offiziere uns in die Messe begleiten. Ihre Männer erwartet im Dorf ein opulentes Abendessen. Mir wurde gesagt, dass U-Boot-Männer eine ganze Menge vertragen können. Wir werden sehen, ob das stimmt. Folgen Sie uns bitte.“
Was sich wie eine Bitte anhörte, war ein strikter Befehl. Der Kommandant des Bunkers war nicht eingeladen und das ärgerte ihn. Die Offiziere rückten ab und ließen die Mannschaft für die restlichen Arbeiten zurück.
„Die Bewachung Ihres Schiffs können Sie ruhig der deutschen SS überlassen. Dazu brauchen wir Sie nicht.“
Gelassen ging der Oberbootsmann, der die Arbeiten beaufsichtigte, auf den Kommandanten zu. „Herr Obersturmführer, das ist kein Schiff, das ist ein Boot. Ein modernes deutsches U-Boot. Damit kann man Kriege gewinnen. Und wir wissen, wie man das macht. Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn sie auf unser schönes Bötchen gut aufpassen würden. Ja? Danke.“
Er war bedrohlich dicht an den Obersturmführer herangetreten und lächelte ihn jetzt an. Weil er aber wesentlich größer und breiter als der SS-Mann war, sah die Lage nach Eskalation aus. Der Bewacher fühlte sich unbehaglich und auch in seiner vermeintlichen Ehre gekränkt. Bevor er allerdings reagieren konnte, verbeugte sich der große Kerl leicht, drehte sich um und brüllte: „Achtung Männer! Abrücken! Es wird aufgetischt. Und zu saufen gibt’s auch. Abmarsch, im Gleichschritt.“