Читать книгу Unschuldsengel - Petra A. Bauer - Страница 9
DREI
ОглавлениеMINA spürte die Wirkung des Alkohols schon.
Charlotte hatte zur Feier des Tages eine Flasche Sekt organisiert. «Damit du auf andere Gedanken kommst», hatte sie gesagt.
Aber das funktionierte nicht. Vielmehr löste das Prickelwasser Minas Zunge, und sie erzählte Charlotte von Anfang bis Ende, was geschehen war. «Heiraten wollte er mir. Det war ernst jemeint, det weeß ick. Deshalb hab ick ja ooch …». Mina nahm noch einen Schluck, um das Geständnis ein wenig hinauszuzögern. «Deshalb war ick ja ooch im Bett mit ihm.»
Mina hatte erwartet, dass ihre Freundin entsetzt wäre, doch die war komplett unbeeindruckt. «War’s denn wenigstens schön?»
Mina zögerte, bevor sie antwortete. «Wunderschön! Eigentlich det Schönste, wat ick je erlebt habe.» Sie starrte in ihr Sektglas, bis sie nichts mehr erkennen konnte, weil ihr wieder die Tränen in die Augen schossen. Als sich die erste Träne mit dem Sekt vermischte, blickte sie wieder auf und lachte unsicher. «Du wolltest mir doch ’nen Eimer hinstellen.» Während sie mit einem Taschentuch die Tränen trocknete und sich die Nase putzte, fühlte sie, wie ihre Trauer langsam in Wut umschlug. «Det kann doch nich sein, det der sich von seinem Vater vorschreiben lässt, mir nich mehr zu sehen! Ick dachte, der liebt mir!»
«Männer!» Charlotte nahm die Freundin in den Arm und drückte sie fest. «Uff die kannste dich doch nie verlassen. Nimm meinen Konrad! Der verschwindet öfter mal für ein paar Tage, so wie jetzt, und dann sagt er nicht, wohin er geht. Ich kann das schlucken oder so lange nachfragen, bis er irgendwann gar nich mehr wiederkommt. Also kannste dir ja denken, wofür ich mich entscheide.»
«Klar kann ick det! Aber wofür is det jut? Wieso machen wir uns zum Hampelmann, und die Mannsbilder können sich reineweg allet erlauben?»
«Das ist der Lauf der Welt, Minchen! Da wirst du nichts dran ändern und ich auch nicht. Wir können bloß zusehen, dass wir das Beste draus machen.» Charlotte goss den letzten Schluck Sekt in Minas Glas. «Apropos machen: Was willst du jetzt machen? Wie soll es weitergehen mit dir? Bleibst du in Berlin? Wovon willst du leben? Du kannst gerne ’ne Weile bei mir wohnen, aber viel Platz ist hier nicht, das siehst du ja selbst. Und wenn Konrad hier angebraust kommt…» Charlotte sprach nicht weiter, aber Mina wusste ohnehin, dass sie dann stören würde.
«Ick wollte mir ’ne Arbeitsstelle suchen und ’n möbliertes Zimmer. Oder ’ne Mädchenkammer. Vielleicht komm ick ja bei ’ner Familie unter.»
«Warte mal!» Charlotte holte eine Berliner Abendzeitung aus dem Korb neben dem Ofen. «Damit wollte ich zwar Feuer machen, aber vielleicht ist die ja noch zu was anderem nütze.» Sie reichte Mina die Zeitung. Zwei Studenten bei Autorennen auf Avus getötet stand auf der Titelseite. «Die ist schon ein Weilchen alt, aber Probieren geht über Studieren.»
Mina schlug die Seite mit den Stellenanzeigen auf und überflog die Angebote.
Hauptsächlich Männer wurden gesucht für Bauarbeiten und für die Fabrik. Hin und wieder mal eine Näherin, doch Nähen war nicht ihre Stärke.
Mina wollte der Mut schon sinken, als Charlotte plötzlich auf eine der Annoncen deutete. «Hier! Die Mudrack-Eiswerkesuchen eine Reinemachefrau.»
«Da steht keine Telefonnummer. Bloß: Am Schäfersee. Wo is det denn?»
«Das ist noch ein ganzes Stück von hier. Der Schäfersee liegt in Reinickendorf. Da hat mal eine Tante von mir gewohnt. Ich war da als Kind sogar baden. Ich habe neulich gehört, dass sie jetzt einen Park drum herum anlegen. Fahr doch einfach mal vorbei, und melde dich auf das Inserat! Vielleicht ist die Stelle ja noch nicht besetzt, oder sie haben eine andere Arbeit für dich.»
«Hoffentlich! Ick kann einfach nicht zurück nach Bückchen. Wenn ick Siegfried noch mal sehe, ick weeß nich, wat ick mit dem mache.» Mina ließ sich gegen die Sofalehne plumpsen. «Mir nimmt doch ooch keena mehr, nachdem det mit Siegfried und mir rausjekomm is.»
«Habt ihr das nicht ein bisschen diskreter hinbekommen?» «Du kennst doch meene Brüder! Friedrich hat uns mal jesehn.
Ausjerechnet, wo mir der Siegfried hinter ’ner Hecke jeküsst hat. Kannste dir wohl denken, dat der det rumerzählt hat.»
«Friedrich hatte es ja schon immer faustdick hinter den Ohren», pflichtete Charlotte ihr bei.
«Von Jefühle hat der noch nüscht jehört.»Mina dachte an den Tag zurück, als alle beim Essen saßen und der Jüngste plötzlich zu grinsen anfing.
«Der feine Schnösel hat unsere Mina jeküsst!»
Es war bei Familie Kowalewski streng untersagt, während der Mahlzeiten zu sprechen, weil einst eine Großtante sich deswegen am Essen verschluckt hatte und erstickt war. So hatte denn Klein Friedrichs Nachricht bei Tisch auch wie eine doppelte Bombe eingeschlagen. Einfach los reden – und dann noch so eine Botschaft! Mina hatte zwar krampfhaft auf ihren Suppenteller gestarrt, doch der Vater hatte darauf bestanden, dass sie ihn ansah.
Eigentlich war er ein gütiger Mann. Mina hatte ihm oft angesehen, wie er darunter litt, dass er nicht so streng zu seinen Kindern war, wie man es von einem Familienoberhaupt erwarten konnte. Doch er liebte seine Sprösslinge zu sehr, als dass er die entsprechende Härte an den Tag gelegt hätte.
An jenem Tage aber bedachte er Mina mit einem Blick, der ihr Angst einjagte. Die Mutter hatte ihr später zu verstehen gegeben, dass es einzig die Sorge um das Wohlergehen seiner Tochter war, die den Vater so hatte schauen lassen.
«Ist das wahr, Wilhelmina?», hatte er gefragt und war dabei ganz ruhig geblieben.
Sie nickte und versuchte, eine Erklärung anzubringen, die jedoch mit einer einzigen Handbewegung unterbunden wurde.
«Ich bin sehr enttäuscht», sagte Vater nur und löffelte seine Suppe weiter.
Mina hatte eine Strafe erwartet, Gebrüll, vielleicht Schläge. Irgendeine Art der Zurechtweisung. Die Stille war schlimmer. Ihre sieben anwesenden Geschwister – August war ja tot, und Lieselotte hatte nach Senftenberg geheiratet – starrten ebenfalls angestrengt in ihre Suppenteller, wagten es nach einem Weilchen jedoch, untereinander zu wispern.
«Still!» Vaters Hand donnerte auf den Tisch und ließ die Teller tanzen, so dass die Suppe schwappte.
«Wir sprechen uns noch!», zischte Mina Friedrich zu, als sie später die Teller abräumte.
Friedrich hatte die Warnung verstanden und ging Mina in der folgenden Zeit aus dem Weg.
Mutter hatte Mina hinterher beiseite genommen und ihr eine lange Standpauke gehalten, deren Inhalt sich auf einen Satz reduzieren ließ: Ehrbare Töchter poussieren nicht mit jungen Männern!
Währenddessen fuhrwerkte sie mit dem Geschirr im Spülstein herum und schrubbte es so fest, dass Mina glaubte, die Teller würden jeden Moment in Stücke brechen.
«Und dann noch so eener!», rief Mutter plötzlich aus, als hätte sich Mina einen Landstreicher zum Geliebten erkoren. «Wat gloobste denn, was passiert? Der vergnücht sich mit dir, und heiraten tut er ’ne andere. Die dürfen sich doch ja nich unter ihrem Stand vaehelichen. Biste denn völlich blind vor Liebe, Minchen?»
Da war die Härte der Liebe gewichen, und Mina hatte sich an Mutterns Busen wiedergefunden.
Mina seufzte. «Mir wär det ooch lieber jewesen, wenn det nich alle jemerkt hätten. Aber meene Jeschwister konnten ja den Mund nich halten und haben erzählt, wat an dem Abend bei uns zu Hause los jewesen is. Und ick fürchte, uff die Art haben es ooch Siegfrieds Eltern erfahren.»
Charlotte zog die Hausschuhe aus und legte die Füße auf das Sofa. «Hat er denen denn vorher nüscht von seinen Absichten erzählt?»
Mina stieß ein resigniertes Schnaufen aus. «Er wollte ’nen jeeigneten Zeitpunkt abwarten. Sein Vater wollte ihn mit ’ner Cousine verkuppeln, und er wollte sagen: ‹Vater, ich liebe eine andere, und das kannst du mir im Leben nicht ausreden!›» Mina verstellte dabei ihre Stimme. «Er hat mir sojaa vorjespielt, wie er ihm det sagen wollte. Wenn et nich so traurich wäre, könnte ick heute drüber lachen.»
«Und am Ende hat er gar nichts gesagt, stimmt’s?»
«Ick war ja nich dabei. Aber viel kannet nich jewesen sein. Er hat danach drei Tage jebraucht, bis er uffjetaucht is, um mir zu sagen, det wer uns nich mehr sehn dürfen. Nich ma jeküsst zum Abschied hatter mir und is anschließend wegjehoppelt wie ’n anjeschossner Hase.»
«Vielleicht ging es ihm nahe», gab Charlotte zu bedenken. «Ick denke, du hast die Männer durchschaut? Die sind nich wie wir, die sind sehr einfach jestrickt. Denen jeht janüscht nahe. Vermutlich isser jetzt schon glücklich verlobt mit seiner Cousine.»
Charlotte versuchte offenbar, ein Gähnen zu unterdrücken, was ihr jedoch misslang. «Sei mir nicht böse, ich muss früh raus. Eine Kollegin hat mich gebeten, für sie einzuspringen.»
«Mensch, Lotte, ick hab die ganze Zeit nur von mir jesprochen.» Mina hatte schlagartig ein schlechtes Gewissen. «Ick hab nich ma jefragt, mit wat du eijentlich dein Geld verdienst.»
Charlotte lachte. «Ich bin das Fräulein vom Amt. Ich stöpsle die Telefonverbindungen zusammen. Und wenn es bei einem Gespräch mal ganz heiß hergeht, dann zieh ich den Stöpsel auch wieder.»
Die beiden lachten, bis ihnen die Tränen kamen.
«Aber glaub mal nicht, dass das nur schön ist. Ich darf nämlich nicht heiraten.»
Mina sah die Freundin ungläubig an.
«Ehrlich! Ich musste vor der Ausbildung unterschreiben, dass ich ledig bin und es auch bleibe. Und wenn mir einer am Telefon einen Antrag macht, muss ich sagen: ‹Besetzt! Werde melden, wenn frei!›»
Sie sahen sich an und begannen von neuem mit der Lacherei. «Danke, Charlotte! Mir geht et jetzt wieder viel besser. Du bist ’ne jute Freundin. Ick hoffe, ick kann dir det mal zurückjeben.»
Hermann Kappe hatte sich auf dem harten Holzstuhl niedergelassen, der neben dem Besucherstuhl die einzige Sitzgelegenheit in seinem Bureau darstellte. Er verfluchte wohl zum hundertsten Mal, dass er immer wieder vergaß, Klara um ein Sitzkissen zu bitten. Sie könnte ihm sicher eines aus ihrem Fundus an Stoffresten fertigen. Es musste ja nicht ausgerechnet der Blümchenstoff sein, der beim Nähen von Klein-Margaretes Sonntagskleid übrig geblieben war. Doch Blümchen hin oder her, sein Hinterteil und nicht zuletzt sein Rücken würden es ihr ewig danken. Er war gerade einmal 38 Jahre alt, aber wenn er Stunden auf dem harten Stuhl verbracht hatte, fühlte er sich mitunter wie 70.
Neiderfüllt dachte Kappe an die Möbel, die im Amtszimmer von Kriminalpolizeirat Ernst Gennat im ersten Stock des Polizeipräsidiums standen: ein grünes Plüschsofa und ein Sessel im selben Farbton. Man munkelte, dass der füllige Gennat gerne einen Teil seines Arbeitstages auf dem Sofa liegend verbrachte, doch niemand nahm ihm das übel. Seine Ermittlungsergebnisse sprachen für sich. Gennat war eine lebende Legende. Er hatte am Fall des Serienmörders Fritz Haarmann mitgewirkt und insgesamt eine sehr hohe Rate an aufgeklärten Mordfällen vorzuweisen. Hartnäckigkeit war eine seiner Tugenden, und so war es auch Gennats Bemühungen zu verdanken gewesen, dass die Zeit des ständig unterbesetzten Mordbereitschaftsdienstes, wie er bisher bestanden hatte, ihr Ende gefunden hatte. Seit dem 1. Januar 1926 gab es eine Zentrale Mordinspektion, deren Leitung Ernst Gennat übertragen worden war. Diesem unterstanden drei Mordkommissionen, die im Wechsel vierwöchigen Bereitschaftsdienst hatten, so dass jeweils eine aktive Mordkommission von zwei Reserve-Mordkommissionen unterstützt wurde. Gennat koordinierte die Kommissionen und hatte die Kontrolle über alle Morduntersuchungen inne. Außerdem suchte er selbst die fähigsten Kriminalisten aus, was Kappe mit einem gewissen Stolz erfüllte, da er schließlich selbst einer der Auserwählten war. Wenn er Gennat nur noch davon überzeugen könnte, dass auch die fähigen Kriminalbeamten für ihre Ermittlungsarbeit ein weiches Ruhekissen brauchten! Doch dazu müsste Kappe ihn überhaupt darauf ansprechen, und das kam ihm dann doch vermessen vor. Er würde lieber endlich Klara um ein Stuhlkissen bitten. Wenn er es nur nicht wieder vergaß! Denn seltsamerweise verschwendete er jeweils nach Verlassen des Dienstgebäudes keinen Gedanken mehr an den fehlenden Sitzkomfort.
Ich muss mir das bei Gelegenheit endlich notieren, als Gedächtnisstütze, dachte Kappe und konzentrierte sich wieder auf die Papiere, die vor ihm auf der Schreibtischplatte lagen.
Keiner der befragten Nachbarn in der Chausseestraße, wo der bestialische Mord an der jungen Frau geschehen war, wollte etwas gehört oder gesehen haben. Dabei mussten die Qualen des Mädchens doch fürchterlich gewesen sein. Kappe hoffte inständig, dass sie schon an den ersten Verletzungen gestorben war, obwohl Kniehase ihm diesbezüglich wenig Hoffnungen hatte machen können.
«Die Wunden haben zu stark geblutet», meinte dieser. «Das Herz muss noch lange gepumpt haben. Aber Näheres kann ich erst bei der Obduktion sagen.»
Irgendwo da draußen müssen doch Menschen sein, die die Tote vermissen, dachte Kappe. Menschen, die sie geliebt hatten oder die sich zumindest nach einiger Zeit fragen würden, weshalb sie sich nicht meldete. Wer würde mich eigentlich vermissen, wenn ich ermordet würde? Kappe ließ den Bleistift zwischen Zeige- und Mittelfinger wippen. Klara natürlich. Hartmut und Gretchen würden sicher auch fragen, wo ihr Vater war. Die Kollegen würden es bemerken, wenn auch erst am nächsten Tag. Es konnte schließlich durchaus vorkommen, dass er zu Ermittlungszwecken länger unterwegs war. Obwohl Klara sicher schon nachts im Präsidium anrufen würde. Oder nicht? Und was war mit der schönen Chinesin Lienhwa Li und mit Clärenora Stinnes? Verschwendeten sie überhaupt noch einen Gedanken an ihn? Immerhin hatte jede der beiden Frauen für sich eine Zeitlang in seinem Leben eine ziemlich bedeutende Rolle gespielt.
Kappe nahm die Vernehmungsprotokolle nicht mehr wahr, sondern sah die beiden Frauen so plastisch vor seinem geistigen Auge, als könne er sie berühren. Er gab sich einen Ruck, fokussierte die Protokolle mit einiger Willenskraft und legte sie anschließend in die Akte zurück.
So ein Unsinn! Lienhwa und Clärenora waren Geschichte, und das sollten sie auch bleiben. Kappe wäre mit keiner von beiden wirklich glücklich geworden, das wusste er inzwischen. Er lebte ein völlig anderes Leben. Ihm reichte die Aufregung, die sein Beruf mit sich brachte.
Unglaublich, auf was für Gedanken er manchmal kam! Gut, dass diese nicht zu hören waren. Er würde sich ja pausenlos blamieren.
So summte er leise Die Gedanken sind frei vor sich hin, als seine Bureautür aufgerissen wurde und Galgenberg hereinplatzte. «Bei mir is ’ne Vermisstenmeldung einjetroffen! Ein jewisset Fräulein Anna Ebeling is jestern nich nach Hause jekommen.»
«Seit wann kriegst du denn die Vermisstenmeldungen?», fragte Kappe.
«Keene Ahnung. Vielleicht hat die Zentrale falsch durchjestellt. Aber hör doch mal zu! Die Beschreibung passt exaktemente auf die durchlöcherte Tote: zwanzich Jahre, schlank, braune Oogen, braune Locken.» Galgenberg legte die Notizen vor Kappe hin.
Der warf einen kurzen Blick darauf. «Die Beschreibung passt auf die Hälfte aller jungen Frauen.»
«Aber die sind nich alle jestern nich nach Hause jekomm», konstatierte Galgenberg und ließ sich in den Besuchersessel fallen, der ein bedrohliches Quietschen von sich gab. «Brauchta Öl, oder fällta bald auseinander?»
«Beides! Der ist nur für schlanke Besucherinnen konstruiert, Kollege.»
Galgenberg grinste schief, sagte aber nichts. «Wat is nu? Soll ick jemanden hinschicken, damit wir mehr erfahren und vielleicht sojar een Photo kriejen?»
Kappe suchte auf dem Blatt die Anschrift von Frau Martha Ebeling, die die Meldung gemacht hatte. «Ich übernehme das selbst! Es liegt praktisch direkt auf meinem Heimweg.»
«Heimweech klingt jut. Ick mach ooch Feierahmt für heute. Frau und Kinder rufen.» Galgenberg seufzte, erhob sich und blieb dabei beinahe in Kappes Besuchersessel stecken.
«Vielleicht solltest du nach Hause laufen, Gustav. Bisschen Bewegung! Sonst musst du dir beim nächsten Mal einen eigenen Sessel mitbringen, falls du hier noch mal sitzen willst.»
«Kann ja nicht jeder so ’n halbes Hemde sein wie du, lieber Hermann. Obwohl du ooch zujeleecht hast, wenn ick mir die Bemerkung ma erlauben darf.»
Kappe blickte an sich herunter und musste zugeben, dass sein Kollege recht hatte. Das Hemd spannte ein wenig, und über den Hosenbund hatte sich ein kleines Speckröllchen gewölbt. Das muss der Zufriedenheitsspeck sein, dachte er. Während der Zeit seiner außerehelichen Liebesabenteuer hatte er oftmals keinen Bissen herunterbringen können. Aber nachdem Klara und er sich versöhnt hatten, schmeckte ihm die Blutwurst wieder. «Nun ja, die schlechten Zeiten sind vorbei», sagte Kappe und ließ offen, was er damit gemeint hatte.
Mai 1909
Unter der Küchenbank ist er unsichtbar. Wenn Vater in dieser Stimmung war, begegnete er ihm besser nicht. Mutter schlug auch zu, wenn er sich einen Fleck auf das Hemd gemacht oder nicht aufgegessen hatte. Dann flog er einmal durch den Raum, aber das war es dann auch schon. Vater aber steigerte sich stets in blinde Wut hinein, schlug und schlug und schlug, egal, wo er traf, egal, mit was. Oft konnte er dann tagelang nicht in die Schule gehen wegen der vielen blauen Flecke. Mal war auch die Lippe aufgeplatzt, und einmal hatte er tagelang Kopfschmerzen, nachdem der Vater ihn mit dem Kopf gegen die Wand geschleudert hatte. Manchmal wunderte er sich, dass noch keiner der Nachbarn die Polizei verständigt hatte. Die Leute im Haus wussten, was bei ihnen passierte. Er hatte sie darüber reden hören, und sie sahen ihn immer so mitleidig an. Mutter musste heute das falsche Essen gekocht haben, denn Vater ging sofort auf sie los, kaum dass er hungrig aus der Kneipe gekommen war. Jetzt liegt sie am Boden. Vater schlägt und tritt sie. Er würgt sie mit ihrem rosafarbenen Schal, den sie immer trägt, weil ihr so leicht kalt am Hals wird, und der zu ihr gehört wie ihre blauen Augen. Der Blick, den sie ihm stumm unter die Küchenbank schickt, fleht, dass er Hilfe holen möge. Doch er rührt sich nicht. Die Mutter schreit nun. Er kann nicht sehen, was der Vater oben tut, doch dann saust ein Stuhl auf ihren Schädel hinunter. Wieder und wieder. Als sie sich nicht mehr rührt, holt sich der Vater ein Bier und setzt sich auf die Küchenbank. Er wagt kaum zu atmen, bis Vater Stunden später zu Bett geht.