Читать книгу 5-Minuten-Vorlesegeschichten für Menschen mit Demenz: Humoristische Anekdoten - Petra Bartoli y Eckert - Страница 9
ОглавлениеDas Grammophon
Anna sah mürrisch auf die Uhr. Gleich halb zwei. Sie klapperte mit den Tellern lauter als nötig, während sie den Abwasch machte.
„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, hatte ihre Mutter noch gemahnt. Dann hatte sie sich das Kopftuch übergestreift und festgeknotet.
„Ich bin hinter dem Haus beim Unkrautjäten. Vergiss die Gänse nicht.“
„Ja, ja“, hatte Anna trotzig gemurmelt.
Annas Mutter hatte ständig zu tun. Aber weil es nach dem Krieg nicht viel zu kaufen gab, war das auch notwendig. Denn so hatten sie trotzdem immer genug zu essen. Der Gemüsegarten brachte unter den Händen der Mutter üppige Ernte ein.
„Ein bisschen Vergnügen könnte sie mir schon lassen“, ärgerte sich Anna und warf das Geschirrtuch nachlässig über die Stuhllehne zum Trocknen. Sie war nämlich verabredet. Mit Katharina, ihrer besten Freundin, die zwei Straßen weiter wohnte. Anna konnte es kaum erwarten.
„Du wirst staunen“, hatte Katharina Mönkeberg sie neugierig gemacht.
„Wir haben jetzt ein Grammophon. Von der Musik, die man damit abspielen kann, kommt jeder ins Träumen.“
Aber aus der Verabredung wurde wohl erst einmal nichts. Denn nun stand das Sammeln von Brennnesseln für die Gänse an. Das gehörte auch zu Annas Aufgaben. Seufzend band sie sich die Schürze ab und ging nach draußen.
„Na, mein Kind“, lächelte Großmutter, die vor dem Haus auf der Bank saß und Bohnen verlas. Sie legte gerade die letzte Bohne in die Schüssel auf ihrem Schoß.
„Was guckst du denn so missmutig?“, fragte Großmutter, die natürlich sofort erkannte, dass etwas nicht stimmte. Anna überlegte.
„Du, Oma …“, begann sie zögernd.
Ihre Großmutter war gutmütig und konnte ihr eigentlich keine Bitte abschlagen. Aber wenn Mutter davon erfuhr, dass Anna ihre Großmutter einspannte, würde es Ärger geben. Anna horchte in sich hinein. Doch alles, was sie hörte, war Katharinas Stimme, die lockte:
„Komm um halb zwei vorbei. Dann lassen wir das Grammophon spielen.“
Anna hatte sich entschieden.
„Oma, kannst du nicht für mich Brennnesseln sammeln?“, fragte sie. Dabei sah sie ihre Großmutter mit einem flehenden Blick an.
Großmutter lachte und stellte die Schüssel mit Bohnen auf die Bank neben sich.
„Hast wohl was anderes vor, du freche Göre?“
Anna nickte und grinste ihre Großmutter an.
„Na, dann lauf. Ich füttere die Gänse. Aber lass dich von Mutter nicht beim Streunen erwischen“, gab sie ihr noch mit auf den Weg. Das hörte Anna schon nicht mehr. Schnell wie der Blitz hetzte sie die Straßen entlang, um atemlos vor Katharinas Haus zum Stehen zu kommen.
Das Grammophon war wirklich ein echtes Wunderwerk. Staunend sah Anna zu, wie Katharina vorsichtig eine Platte auflegte. Dann drehte sie die Kurbel. Schon fing die schwarze Scheibe an, sich zu drehen.
„Jetzt kommt es“, zwinkerte Katharina verschwörerisch. Sie setzte die Nadel des Grammophons auf die Schellackplatte. Es knisterte und rauschte. Dann erklangen die ersten Töne. Anna klatschte begeistert in die Hände.
Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt.
Er setzt seine Felder und Wiesen in Stand.
Er pflüget den Boden, er egget und sät und rührt seine Hände früh morgens und spät.
Die Bäuerin, die Mägde, sie dürfen nicht ruhn.
Sie haben im Haus und im Garten zu tun.
Sie graben und rechen und singen ein Lied und freun sich, wenn alles schön grünet und blüht.
Immer wieder und wieder ließ Katharina die Musik von Neuem anlaufen. Nach dem dritten Mal sangen die beiden Mädchen lauthals mit. Obwohl es schon Spätsommer war, bekamen die beiden beim Trällern wahre Frühlingsgefühle. Beim fünften Mal fingen Katharina und Anna an, zu dem Lied zu tanzen. Hin und her, rechts herum und links herum. Ihnen wurde ganz schwindelig dabei. Annas Wangen glühten. Der Nachmittag verging wie im Flug. Als die Wanduhr in der guten Stube von Katharinas Familie schlug, erschrak Anna. Vier Uhr! Höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Anna verabschiedete sich hastig von ihrer Freundin und machte sich auf den Weg.
Vor ihrem Haus angekommen, erwartete sie die Mutter schon an der Haustür. Sie stand mit verschränkten Armen an den Türstock gelehnt.
Annas Herz schlug ihr bis zum Hals. Jetzt würde es also doch ein Donnerwetter geben. Bestimmt hatte Mutter gemerkt, dass sie sich vor der Arbeit gedrückt hatte.
„Ich war vorhin bei Mönkebergs, um etwas abzuholen“, sagte sie nur. Aber Anna war klar, dass Mutter über alles Bescheid wusste. Sie zog den Kopf ein und wollte die Schimpftirade über sich ergehen lassen. Doch ihre Mutter sagte nichts weiter. Sie schüttelte nur den Kopf und ging dann ins Haus. Der restliche Nachmittag und Abend verlief wie immer. Das war Anna schon beinahe unheimlich. Sie hatte wirklich mehr Ärger erwartet.
Aber Mutter tat so, als sei alles in Ordnung.
Gegen neun ging Anna dann schlafen. Sie legte sich auf ihre Matratze und rückte sich das Kissen zurecht.
Gerade als sie sich umdrehte und die Augen schloss, hörte sie Mutters Stimme von nebenan aus der Küche. Anna glaubte erst, sich verhört zu haben. Aber nein, ihre Ohren hörten schon ganz richtig. Mutter sang. Leise und zaghaft. Doch Anna verstand jedes Wort, das Mutter melodisch von sich gab:
Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt.
Er setzt seine Felder und Wiesen in Stand …