Читать книгу Bildungsdokumentation in Kita und Grundschule stärkenorientiert gestalten - Petra Büker - Страница 7

1 Bildungsdokumentation in KiTa und Grundschule: Einleitende Betrachtungen

Оглавление

»Liebe Marie, heute habe ich beobachtet, wie du Ümit aus der Froschgruppe angesprochen hast und ihn gefragt hast, ob du ihm beim Tischdecken helfen könntest. Ümit fand das klasse und ihr habt zusammen für alle Kinder, die heute zum Mittagessen angemeldet sind, Teller, Gabeln, Löffel und Becher bereitgestellt. Ich habe gehört, wie du den Namen jedes Kindes leise vor dich hingesagt hast. Du hast auch daran gedacht, dass Gabriel neben Annemarie sitzen muss, die ihm beim Essen hilft. Toll! Hast du Lust, ab sofort in der Tischdienst-Gruppe mitzumachen? Darüber würden sich alle Kinder sehr freuen! Deine Barbara.«

»Nicos Sprachtestung erbrachte das Ergebnis, dass er über einen altersgemäß entwickelten Wortschatz sowie eine angemessene Artikulationsfähigkeit verfügt. Eine besondere Sprachförderung ist daher nicht notwendig.«

»James hat den Schulstart gut bewältigt. Er hat schnell gute Freunde gefunden und engagiert sich für die Belange der Klasse. James ist meistens motiviert und kann bereits sehr selbstständig arbeiten. Im mathematischen Bereich konnte er sein Vorwissen im Laufe des ersten Schuljahres gut ausbauen. Er kann sich sicher zählend und rechnend im Zahlenraum bis 20 bewegen. Das flüssige Lesen längerer Wörter und kurzer Sätze fällt ihm noch schwer. Er zeigt sich allerdings sehr anstrengungsbereit und nutzt das ihm angebotene Übungsmaterial sinnvoll.«

»Gestern habe ich im Sachunterricht mein Referat über Meerschweinchen gehalten. Jonas, Ayse, Michelle und Diego haben mir zurückgemeldet, dass sie es interessant fanden und neue Sachen über das Meerschweinchen gelernt haben, die sie noch nicht wussten. Diego hat mir gesagt, ich soll die Leute öfters angucken und nicht so viel ablesen. Das will ich bei meinem nächsten Referat verbessern«.

Vier Kinder – vier Textausschnitte – vier verschiedene Kontexte und Verfahren: Fast allen gemeinsam ist eine Rückmeldung an das Kind, die Eltern und/oder an Kolleg/innen über eine zuvor realisierte Beobachtung von Situationen oder Prozessen, in denen das Kind bildungs-, lern- oder entwicklungsrelevante Handlungsweisen zeigt. In einem der Beispiele betrachtet das Kind selbst rückblickend und resümierend seine vorangegangene Lernsituation und zieht Schlüsse für seinen weiteren Entwicklungsprozess.

National und international zählen die regelmäßige und systematisch durchgeführte Beobachtung, Dokumentation, Analyse und Interpretation kindlicher Lern- und Entwicklungsprozesse zu den wichtigsten Maßnahmen der Qualitätsentwicklung des Elementar- und Primarbereichs (vgl. Graf, 2008a). Darin eingeschlossen sind in der Regel der kollegiale Austausch im Team, die Aufbereitung in adressatengerechter medialer Form, die Rückmeldung an das Kind und seine Eltern im Rahmen von Entwicklungsgesprächen sowie die Planung sich anschließender, adaptiver Bildungsangebote. Dieser gesamte Prozess wird als Bildungsdokumentation oder international als »pedagogical documentation« bezeichnet. Als zentrale Zielsetzung werden von fachlicher und bildungspolitischer Seite eine erhöhte Transparenz über den Bildungsweg des Kindes genannt, daneben die möglichst lückenlose Erfassung von kindlichen Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen (was besondere Fähigkeiten und Interessen ebenso einschließt wie spezifische Unterstützungsbedarfe) als Basis für optimale individuelle Förderung. Schließlich wird die Bildungsdokumentation auch als sichtbarer Nachweis von Professionalität der pädagogischen Arbeit gegenüber Eltern, Trägern und weiteren Professionen gewertet (vgl. Jergus & Thompson, 2017). Die regelmäßige (d. h. nicht nur anlassbezogene) und systematische Beobachtung und Dokumentation von Entwicklungs- und Lernprozessen eines jeden Kindes ist deutschlandweit mittlerweile in allen Rahmen-, Orientierungs-, Lehr- und Bildungsplänen für den Elementar- und Primarbereich verankert. Insbesondere in den für die KiTas entwickelten Bildungsplänen sowie in den übergreifend für KiTa und Grundschule geltenden »Plänen zweiter Generation« (vgl. Fthenakis, 2008; Röhner, 2014) werden ein stärkenorientierter Blick auf die Kinder gefordert und eine ressourcenorientierte Beobachtung, Dokumentation und Förderung favorisiert. Letzterer werden große, entwicklungsförderliche Potenziale für die Kinder und zugleich Optimierungspotenziale für die pädagogisch-didaktische Arbeit zugeschrieben, gepaart mit der Formulierung hoher Erwartungshorizonte an Erzieher/innen, Lehrkräfte und Kinder ( Kap. 3). Der Begriff der Ressourcenorientierung entstammt der sozialpädagogischen Familienhilfe und umfasst sowohl personale als auch Umweltfaktoren, die sich günstig auf die Lebensbewältigung eines Menschen auswirken (können) und deshalb durch pädagogische Fachkräfte entdeckt, aktiviert und für die Persönlichkeits- und Resilienzentwicklung des Kindes genutzt werden sollten. Ressourcenorientierte Ansätze gehen von einer grundsätzlichen Fähigkeit des Menschen zur (Weiter-) Entwicklung und vom Bild eines aktiv handelnden Menschen aus (vgl. Kiso, Lotze & Behrensen, 2014, S. 6 und S. 16). Häufig wird der Ressourcenbegriff synonym mit Stärkenorientierung verwendet, wenngleich Ersterer noch stärker die systemische Sicht auf entwicklungsförderliche Umfeldfaktoren einbezieht.

In den letzten fünfzehn Jahren haben sich in KiTa und Grundschule vielfältige und vielerorts etablierte Praxen der Beobachtung, Dokumentation und Rückmeldung herausgebildet. Dabei verliefen die Entwicklungen im Elementar- und Primarbereich durchaus disparat: In vielen KiTas erfolgten Implementierungsbemühungen von Verfahren, die individuelle Ressourcen, Themen und Aktivitäten der Kinder in den Mittelpunkt stellen. Hierzu zählen ganzheitlich und ressourcenorientierte Konzepte wie beispielsweise die Themen der Kinder (vgl. Andres & Laewen, 2011) sowie insbesondere die aus Neuseeland (vgl. Carr & Lee, 2012) adaptierten Bildungs- und Lerngeschichten (vgl. Leu, 2007). Letztere fokussieren das aktive, sich selbst in ko-konstruktiven Settings bildende Kind und seine Lerndispositionen. Beobachtungen von Engagement, Interessen, sozialer Eingebundenheit usw. werden dem Kind in wertschätzender, dialogischer Weise zurückgemeldet – der eingangs zitierte Ausschnitt aus einer Lerngeschichte für Marie ist ein Beispiel dafür. Einem Partizipationsansatz folgend, werden die Kinder in die Planung nächster Schritte, d. h. neuer zu nutzender Bildungsangebote, aktiv mit einbezogen. Parallel zu qualitativen Verfahren dieser Art, bei denen das hermeneutische Verstehen kindlicher Aktivitäten im Zentrum steht, nutzen KiTas Instrumentarien, die aus diagnostischer Perspektive dazu dienen, allgemeine Entwicklungsstände und bereichsspezifische Kompetenzen möglichst präzise und orientiert an vorab festgelegten Kategorien zu erfassen, um etwaige Auffälligkeiten frühzeitig zu erkennen. Diese Instrumente sind entweder als Screenings (z. B. das Bielefelder Screening, vgl. Jansen, Mannhaupt, Marx & Skowronek, 2002) oder als gestufte Kompetenz- und Entwicklungsraster (wie z. B. Kuno Bellers Entwicklungstabelle (2004) oder auch das Verfahren KOMPIK (vgl. Mayr, 2012)) konzipiert und unter testtheoretischen Gesichtspunkten validiert. Trotz des grundsätzlichen Anspruchs an Stärkenorientierung richtet sich bei diesen Beobachtungsverfahren der Blick durchaus auch darauf, was das Kind – gemessen an altersgemäßen Normwerten – (noch) nicht kann, bzw. darauf, ob Risikolagen vorliegen ( Kap. 3.3). Um die Ziele dieser Verfahren erreichen zu können, wird bewusst die reale Komplexität zu Gunsten einer Fokussierung auf bestimmte Entwicklungsbereiche reduziert. So werden die Beobachtungen in einheitlichen, standardisierten Situationen vorgenommen, in denen das zu beobachtende Verhalten bzw. die zu lösende Aufgabe genau vorgegeben sind (vgl. Leu, 2011, S. 25): Dokumentierte Analyseergebnisse und Rückmeldungen im Zusammenhang solcher Verfahren lesen sich dann wie im oben aufgeführten Beispiel von Nico.

In der Grundschule kommt neben der Entwicklungsnorm ein weiteres Referenzfeld hinzu, auf das sich die Beobachtungen und die daraus erwachsenden Einschätzungen beziehen: Dies sind die curricular vorgegebenen Lernziele, die fachspezifisch für bestimmte Klassenstufen festgelegt sind. In traditioneller Systemlogik bezogen sich Beobachtungs-, Dokumentations- und Rückmeldepraxen vor diesem Hintergrund vorwiegend auf die Lernleistungen des Kindes. In der modernen Grundschulpädagogik werden Beobachtung und Dokumentation in der Schule der pädagogischen Diagnostik zugeordnet und in weitergefasstem, ganzheitlichem Sinne auch auf überfachliche Entwicklungsprozesse bezogen. Pädagogische Diagnostik »[…] geht immer von der Absicht aus, Schülerleistungen zu verbessern sowohl durch die Bereitstellung von Unterstützungsmaßnahmen bei Lernschwierigkeiten als auch bei der Förderung von besonderen Begabungen. Pädagogische Diagnostik geht in ihrem Anspruch ebenfalls davon aus, die gesamte Persönlichkeit des Kindes in den Blick zu nehmen und sie nicht nur auf einzelne Lernprozesse zu reduzieren« – so lautet beispielsweise eine entsprechende Begriffsbestimmung in den nordrhein-westfälischen Bildungsgrundsätzen für Kinder von null bis zehn Jahren (Bildungsgrundsätze MSW/MFKJ NRW, 2016, S. 38). Tests und Klassenarbeiten sind keinesfalls abgeschafft; im Kontext von Outputorientierung und Standardisierung des Bildungssystems gelten sie als Indikatoren für Lernstände (vgl. kritisch dazu Büker, 2015, in Band 1 dieser Reihe sowie Arbeitsgruppe Primarstufe Siegen, 2014). Auch werden nach wie vor Ziffernnoten zur Beurteilung und Rückmeldung von Leistungen eingesetzt. Diese werden ergänzt um eine vielerorts in der Schuleingangsstufe etablierte Verbalbeurteilung – das eingangs aufgeführte dritte Textbeispiel zeigt einen Ausschnitt aus dem Berichtszeugnis für James, welches seine soziale und fachliche Kompetenzentwicklung im ersten Schulbesuchsjahr bilanziert.

Im Anschluss an die sogenannte »Neue Lernkultur« (vgl. Winter, 2012) und insbesondere durch die seitens des Grundschulverbands angeregte und konzeptualisierte »Pädagogische Leistungskultur« (vgl. Bartnitzky, 2006) ist die Beobachtungs-, Dokumentations- und Rückmeldepraxis im Primarbereich in den letzten Jahren in Bewegung gekommen. So nehmen viele aktuelle Grundschulrichtlinien Bezug auf die Empfehlung des Grundschulverbandes und sehen den Einsatz von Instrumenten zur Erfassung der individuellen Kompetenzen der Kinder über einen längeren Zeitraum vor, welche sowohl den Prozess als auch das Ergebnis der Lernentwicklungen dokumentieren. Dies sei für die Planung individueller Fördermaßnahmen sowie für die Unterrichtsreflexion und -optimierung grundlegend (vgl. beispielsweise das Grundschulcurriculum NRW, Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW, 2008). Insbesondere seien die Kinder daran zu beteiligen. Sie werden als selbstständige Lerner neu positioniert, indem sie ihre Lernstrategien, -prozesse und -ergebnisse anhand von innovativen Dokumentationsformen wie Portfolios, Selbsteinschätzungsbögen und Lerntagebüchern eigenverantwortlich beobachten, fixieren und in Feedbackgesprächen mit der Lehrkraft sowohl retrospektiv bewerten, als auch zukunftsgerichtet planen sollen. Der letzte obige Textauszug ist Teil einer persönlichen Wochenbilanz aus dem Lerntagebuch eines Drittklässlers, der bereits über elaborierte metakognitive Kompetenzen verfügt, mit deren Hilfe er seine Entwicklungsfortschritte (hier im Bereich des mündlichen Präsentierens) bewusst steuert.

Im Rahmen der Qualitätsoffensive im Anschluss an die ersten PISA-Ergebnisse haben sich KiTa und Grundschule einander angenähert: In vielfältigen, innovativen Formen des Austausches und der Kooperation bildet die Zielsetzung der Verbesserung von Bildungschancen durch Anschlussfähigkeit von Bildungsprozessen im Übergang die zentrale gemeinsame Orientierung. In diesem Zusammenhang spielt der Gedanke der Anschlussfähigkeit von Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren sowie praktizierter Förder- und Fordermaßnahmen eine bedeutende Rolle – bis hin zu ambitionierten Vorhaben der Entwicklung gemeinsamer und folglich konsistenter Verfahren, welche beispielsweise zur Dokumentation gemeinsamer Lernaktivitäten von Kindergarten- und Grundschulkindern genutzt werden können. Wissenschaftliche Begleitforschungen aus verschiedenen Modellvorhaben belegen allerdings eindrücklich, dass hier Traditionen und Logiken zweier bislang getrennter Systeme aufeinanderprallen (vgl. Bührmann & Büker, 2015; Höke et al., 2017; Urban et al., 2015). Hier entzünden sich ganz grundlegende Fragen nach institutionellen Selbstverständnissen und Professionsaufgaben, nach pädagogischen Grundverständnissen, Orientierungen und Relationierungen (etwa von Beobachtung und Diagnostik, Lernberichten und Berichtszeugnissen, Bildungsangeboten und curricularen Vorgaben, Defizit- und Ressourcenorientierung usw.). Hinzu kommen kontroverse Diskussionen um datenschutzrechtliche Aspekte: Welche Informationen dürfen einrichtungsübergreifend weitergegeben werden, welche nicht? Ist ein unvoreingenommenes Kennenlernen des Kindes durch den/die Grundschullehrer/in dem erfolgreichen Schulstart zuträglicher als die portfoliogestützte Detailkenntnis vorangegangener Ereignisse und Entwicklungsprozesse?

Diese Fragen verschärfen sich aktuell im Zusammenhang des gesellschaftlichen Auftrags der Realisierung eines inklusiven Bildungssystems. Im Zusammenhang der multiprofessionellen Begleitung von Kindern mit besonderem Unterstützungsbedarf in inklusiv arbeitenden Regeleinrichtungen kommen nun Beobachtungs-, Dokumentations- und Rückmeldepraxen und -traditionen der Sonderpädagogik als eine weitere Disziplin hinzu: Verschiedene Diagnoseinstrumente und verbindliche Förderpläne (vgl. Popp, Melzer & Methner, 2013) halten Einzug in Regeleinrichtungen ( Kap. 3.3). Für Erzieher/innen, Lehrkräfte und Eltern ist es nicht einfach, sich in dem Dschungel verschiedener Kontexte, Ansprüche, Möglichkeiten und Verfahren der Bildungsdokumentation zurechtzufinden. Insgesamt eröffnet sich im Bereich der Beobachtung und Dokumentation kindlicher Entwicklungs-, Lern und Bildungsprozesse ein weites, überaus facettenreiches, in Forschung und Praxis noch weitgehend undurchsichtiges Feld mit hohem Klärungs-, Entwicklungs- und Gestaltungsbedarf.

Die Beweggründe, warum eine Einrichtung bestimmte Verfahren einsetzt und andere ablehnt, sind vielschichtig und nicht immer allen Beteiligten transparent. Auch wird die Fülle der auf dem Markt befindlichen Beobachtungs- und Dokumentationsinstrumente immer unüberschaubarer. Mittlerweile liegen Forschungsergebnisse zu verschiedenen Facetten von Beobachtung und Dokumentation vor, wenngleich der in den Bildungsplänen angenommene »Mehrwert« bei Weitem noch nicht in der erforderlichen Breite empirisch erfasst ist. So existieren qualitative, quantitative sowie Mixed-method-Studien zur Verbreitung und Nutzung von Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren insgesamt (vgl. Cloos & Schulz, 2011; Viernickel et al., 2013; Viernickel & Völkel, 2015; Weltzien & Viernickel, 2012) und zur Entwicklung und Evaluation einzelner Beobachtungsverfahren, beispielsweise zu ILEA T (vgl. Geiling & Liebers, 2013; Prengel, 2005) und zu BiDoS (vgl. Kammermeyer, Roux & Darting, 2014). Darüber hinaus wurde die Bildungsdokumentation im Kontext inklusiver Settings (vgl. Urban et al., 2015) untersucht. Weitere Studien sind im Zusammenhang der wissenschaftlichen Begleitung von Modellprojekten zur optimierten Kooperation von KiTa und Grundschule entstanden (vgl. Büker, Bührmann, Kordulla & Böhmer, 2013; Höke & Schneider, 2013). Schließlich gibt es grundsätzliche Überlegungen aus wissenschaftlicher Perspektive, die ungeklärte Grundsatzfragen über unbeabsichtigte »Nebenwirkungen« thematisieren. Neben »Kindbildern«, die als Deutungsfolie den Beobachtungen zugrunde liegen, werden im Prozess der Beobachtung z. B. wiederum Bilder vom Kind (einem bestimmten Kind wie auch von Kindern als Statusgruppe) produziert (vgl. Berdelmann, 2016, S. 9). Qua Beobachtung werden zudem Bilder wie das »förderbedürftige Kind« oder die »gute Kindheit« erzeugt und über den wissenschaftlichen Diskurs verstetigt und festgeschrieben (vgl. Eckermann, Heinzel & Kreher, 2016, S. 89). Hinzu kommen Etikettierungs- und Hierarchisierungspraktiken, Probleme fehlender intra- und interinstitutioneller Anschlussmöglichkeiten, Transformations- und Kommunikationsprobleme, die sich aus beobachtungs-, bildungs- und professionstheoretischer Perspektive beleuchten lassen (vgl. Cloos & Schulz, 2011).

Festzustellen ist: Die Bildungsdokumentation soll Garant für die Qualität in KiTa und Schule sein, wird jedoch insbesondere von Erzieher/innen und Lehrkräften in der Praxis als problematisch angesehen. Zwar halten sie das Kernanliegen, die Erfassung und Sichtbarmachung von Entwicklungs- und Lernständen sowie -prozessen von Kindern zum Zwecke passgenauer Förderung für relevant, befinden sich jedoch sowohl in einem »Umsetzungsdilemma« (Viernickel et al., 2013, S. 146) als auch – was mindestens ebenso schwerwiegend sein dürfte – in einem »Orientierungsdilemma« (Viernickel et al., 2013, S. 146). Bezogen auf die Umsetzung werden die benötigten (bzw. als nötig erachteten) und nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehenden Zeit- und Personalressourcen ins Feld geführt. Gleichzeitig werden konzeptimmanente Widersprüche beklagt, die den Mehrwert einer qualitativen Bildungsdokumentation für die Kinder verhinderten, weil über die eingesetzten Zeitressourcen die eigentliche Beschäftigung mit den Kindern zu kurz käme. Die Sichtweise, dass durch die Aufwendungen für Beobachtung, Besprechungen und Diskussionen »wertvolle Zeit für die Arbeit am Kind verloren« ginge, wurde neben der genannten Studie von Viernickel et al. auch in der Untersuchung zur Praxis der Bildungsdokumentation in deutschen KiTas von Knauf (2015) sowie in einer eigenen Studie im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts Kinderbildungshaus Paderborn (vgl. Büker, 2014) vertreten. Befürchtet werden seitens der Fachkräfte negative Auswirkungen auf die pädagogischen Beziehungen, wenn Beobachtung zur Kernaufgabe avanciert. So wird aus einer Gruppendiskussion mit Erzieherinnen in der Studie von Viernickel et al., 2013, S. 203, zitiert: »Wir beobachten zu viel. Wir haben einen Wust an Beobachtungsbögen und tun die Kinder tot-beobachten.« Unsicherheiten bestehen hinsichtlich des Umgangs mit beobachteten Einschränkungen, als Schwächen oder Defizit zu wertenden Beobachtungen in stärkenorientierten Verfahren (vgl. Büker, 2014; Viernickel et al., 2013). Grundschullehrkräfte sind verunsichert in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Bildungsdokumentation und Zeugnis (vgl. Büker, 2014). Dies wiederum verstärkt die Skepsis von Eltern hinsichtlich der Zustimmung zur Weitergabe von Informationen von der KiTa an die Grundschule (vgl. Backhaus-Knocke, 2020) sowie hinsichtlich der Frage, wie denn nicht-standardisierte Aussagen in Berichtszeugnissen wie beispielsweise die in Bezug auf die Lesekompetenz im obigen Beispiel von James zu interpretieren seien.

Insgesamt kann in Bezug auf die Bildungsdokumentation eine Schieflage zwischen Anspruch und Wirklichkeit konstatiert werden, gepaart mit einer Fülle irritierender, verunsichernder und somit klärungsbedürftiger Aspekte. Das Thema ist ausgesprochen spannungsgeladen. So verwundert es nicht, dass die Bildungsdokumentation zum Politikum wird: Beispielsweise wurde im Rahmen der NRW-Landtagswahl 2017 von einigen Parteien versucht, mit der Abschaffung bzw. Reduzierung der Bildungsdokumentation in KiTa und Schule Wählerstimmen zu gewinnen. Vor dem Hintergrund der hier umrissenen Ausgangslage setzt sich der vorliegende Band zum Ziel, unter Berücksichtigung ausgewählter Forschungsergebnisse sowie von Praxiserfahrungen einen perspektivreichen Blick auf die Bildungsdokumentation in KiTa und Grundschule zu eröffnen: Insbesondere sollen Hintergründe im Zusammenhang der Bildungsdokumentation aufgezeigt und kritisch beleuchtet werden, die aus unserer Sicht ursächlich zu der beschriebenen Schieflage bzw. zu den skizzierten Verunsicherungen beitragen. So sollen die vielzähligen Erwartungen an die Bildungsdokumentation als »Diskurs der Ansprüche« präsentiert werden, der selbst zur Verschärfung der mit Beobachtung und Dokumentation verbundenen Problemlagen beiträgt. Im Anschluss an eine überblicksartige Darstellung gängiger Verfahren und deren Verbreitung in der Praxis werden typische Probleme identifiziert, welche den professionellen Umgang mit der Bildungsdokumentation erschweren bzw. beeinträchtigen können. Dazu zählen Beobachtungsfallen ebenso wie der fehlende Umgang mit Gütekriterien bei der Auswahl und Anwendung von Verfahren wie auch die fehlende Einbettung in ein pädagogisches Gesamtkonzept. KiTa und Grundschule werden dabei, wo dies möglich ist, übergreifend betrachtet. Dort, wo institutionenspezifische Entwicklungen, Logiken und Praxen eine Rolle spielen, werden diese entsprechend getrennt aufgegriffen. Die Bildungsdokumentation im Übergang vom Elementar- zum Primarbereich wird dabei jeweils gesondert betrachtet. Dabei wird auffallen, dass die Potenziale, welche eine Bildungsdokumentation für die Qualitätsentwicklung pädagogischer Praxis und damit letztlich sowohl für die Optimierung kindlicher Entwicklungschancen wie auch für die Professionalisierung der pädagogischen Fach- und Lehrkräfte beinhaltet, bislang nur unzureichend genutzt werden.

Dieser Band beschränkt sich allerdings nicht auf eine Problemanzeige und Risikoanalyse im Bereich der Bildungsdokumentation. Basierend auf der dieser Buchreihe zugrunde liegenden Idee einer kinderstärkenden Pädagogik soll vielmehr ein konzeptioneller Beitrag zur Qualitätsentwicklung von Beobachtung und Dokumentation erarbeitet werden. Dazu wird eine verfahrensübergreifende Grundstruktur, die typische Kernelemente bzw. Phasen der Bildungsdokumentation kohärent verbindet, mit einer Reflexionsfolie verknüpft, welche an entscheidenden Stellen im Beobachtungs-, Dokumentations- und Rückmeldeprozess kritische Anfragen auf verschiedenen Ebenen ermöglicht. Gewissermaßen aus der Vogelperspektive sollen auf der Ebene der individuellen Fach- bzw. Lehrkraft, auf der Ebene des Teams bzw. Kollegiums, auf der Ebene der Leitung sowie der Träger/Administration Reflexionsfragen angeboten werden, die eine sogenannte »Beobachtung der Beobachtung« ermöglichen. Diese können nicht allein in der Praxis, sondern auch in wissenschaftlichen Beobachtungskontexten als Wahrnehmungs- und Analysefokusse wie auch für die selbstkritische Methodenreflexion genutzt werden. Ziel einer solchen problemsensiblen Reflexion ist die Professionalisierung der Begleitung kindlicher Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse, gemäß der Idee, Kinder zu stärken, Fachkräfte zu professionalisieren und Einrichtungen weiterzuentwickeln.

Im nachfolgenden Kapitel werden Beobachtung und Dokumentation als pädagogische Kerntätigkeiten in den Blick genommen, um eine differenzierte Grundlage für die sich anschließenden Problemanzeigen zu schaffen.

Bildungsdokumentation in Kita und Grundschule stärkenorientiert gestalten

Подняться наверх