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KAPITEL DREI

Montagnachmittag, 12. Dezember 1960

AN DEN SONNABENDEN reichten die Parkplätze rund um die Arminiushalle kaum aus, um den Ansturm von Kaufwilligen zu bewältigen. Jetzt, in der Vorweihnachtszeit, war das auch an diesem Montagnachmittag der Fall. Der Fund des Toten und die daraus resultierende Sperrung der Halle hatten sich trotz der Meldungen im Radio noch nicht überall herumgesprochen.

Normalerweise luden die Menschen im Wirtschaftswunderland nach oft kilometerlangen Anfahrten die Kofferräume ihrer Autos voll mit Porree und Apfelsinen, Broten und Heringen oder einem saftigen Eisbein. So, als gäbe es bald die nächste Hungersnot. Die Berlin-Krise verunsicherte viele. Karpfen und Gänse hatten Hochkonjunktur, und nach dem Vorbild der Amerikaner musste auch der eine oder andere Truthahn sein Leben lassen. Wer konnte schon sagen, wie die Welt nächstes Jahr zu Weihnachten aussah.

In der Arminiushalle blieben selten Kundenwünsche offen. Neben makellosen Importtomaten für 2 Mark das Pfund gab es in der nächsten Gasse welche für 80 Pfennige, wenn auch nicht ganz so ansehnliche. Bei der Schinkenwurst ging das Viertel für 1,65 Mark über die Theke, bei der Thüringer Speckwurst hingegen schon für 35 Pfennige. Auch aparte Sachen gab es im Angebot, zum Beispiel Parfum aus dem Ballon, 50 Milliliter «Chypre» für 1 Mark. Ein beliebtes Weihnachtsgeschenk waren Handtaschen oder allerlei asiatischer Schnickschnack wie lange Kratzehändchen, mit denen man angeblich jede Stelle auf dem Rücken erreichen konnte.

Doch an diesem Tag war einkaufen nicht möglich. Entsprechend groß war die Empörung der ausgesperrten Kunden. Manche hatten schließlich lange Fahrten hinter sich. Die Männer der Schutzpolizei blieben jedoch stoisch. Niemand durfte durch, auch diejenigen nicht, die sich in der Halle in die medizinischen Bäder oder in die Reinigungsbäder begeben wollten. Ein Ehepaar mit Kindern ließ sich partout nicht abweisen. Der Vater protestierte lauthals, war kurz davor zu randalieren. Die Familie hatte ein Nachtquartier gebucht. Für 10 Mark konnte man in den Büroräumen unterkommen, die in der städtisch verwalteten Halle nicht mehr benötigt wurden, fließend heißes und kaltes Wasser inklusive. Beinahe hätte es eine Schlägerei gegeben.

Das Schimpfen und Fluchen der Menschen, die vergeblich nach Moabit gefahren waren, drang nicht bis zu Kriminaloberkommissar Otto Kappe vor. Er konzentrierte sich auf die Befragung der Hallenbeschicker. Polizeihauptwachtmeister Schulz und seine Leute hatten es tatsächlich geschafft, fast alle aufzutreiben. Die anderen, die sich nicht hatten blicken lassen, würden von ihnen zu Hause aufgesucht werden.

In Anbetracht des Aufwands ließ die Informationsausbeute sehr zu wünschen übrig. Den Aussagen nach war die Halle das reinste Paradies, ein Hort der Harmonie. Es hatte angeblich keinerlei Streit gegeben, auch nicht zwischen einem Händler und einem Clown oder zumindest einem Menschen, der mit dem Zirkusmilieu zu tun hatte. Alles Friede, Freude, Eierkuchen. Weit und breit kein Mordmotiv. Nach und nach führte man die Händler zu dem Toten, aber keiner erkannte ihn. Angeblich. In solchen Fällen konnte man sich nie sicher sein, ob nicht doch jemand log – oder sich unter den Befragten sogar der Täter befand. Auch wenn sein in vielen Jahren entwickelter kriminalistischer Instinkt ihm sagte, dass dem nicht so war, konnte Otto Kappe derzeit nichts ausschließen. Soviel er auch fragte, nachhakte, bohrte – das Ergebnis blieb gleich null. Ein ums andere Mal hörte er sich Namen, Wohnort und Familienstand an. Ansonsten hatte Protokollführerin Lilli Lenné wenig zu notieren.

Erika Richter aus Pankow, Inhaberin des «Blumenhauses Erika», setzte sich als Letzte auf den wackligen Stuhl gegenüber Kappe, ihren kleinen Sohn Bernd an der Seite. Sie gab bereitwillig Auskunft. « Nee, da war niemand, hab niemanden kommen sehen. Is jeden Morgen das Gleiche: Erst kommt Wurst-Fritz, dann der alte Muffelkopp Schreiber und dann eben icke, die Blumen-Erika. Sie müssen wissen, den ersten Stand mit Blumen hat schon meine Großmutter Louise Auguste Friederike Lewerenz aus Wedding anno 1891 in der damals gerade erst gebauten Markthalle X eröffnet. Nach ihr war meine Mutter Helene Berg, verwitwete Runkwitz, geborene Lewerenz, aus Wandlitz an der Reihe. Hat ihr nüscht ausgemacht, dass sie jeden Tag so weit fahren musste. Na, und nun steht eben meine Wenigkeit bei den Blumen, Erika Berg. Und später, wenn ick mal alt bin, wird mein Berndchen hier übernehmen, wa, Bernd?»

Der Junge nickte. Er wirkte verstört. Kein Wunder, dachte Kappe.

«Muss der Bengel denn nich in die Schule?», erkundigte sich Kollege Hans-Gert Galgenberg.

Erika Berg schaute ihn anklagend an. «Klugscheißern, wa? Wenn Ihnen Schule so wichtich is, hätten Se uns auch früher drannehmen können. Aber nein, sie lassn ’ne alte Frau und ’nen kleinen Jungen warten bis zuletzt. Ick bin doch die Letzte, oder? Aba mal im Ernst, so einfach, wie Sie det sehen, is det nich. Jetze, vor Weihnachten, brauch ick jede Hilfe, die ich kriegen kann. Außerdem ist er krank. Nich wahr, Berndchen? Huste mal!»

Der Junge tat ihr den Gefallen.

«Und ab dem 22. sind sowieso Schulferien. Nach Weihnachten hat Berndchen dann noch bis 7. Januar Zeit sich zu erholen.»

Die Erfolglosigkeit der zurückliegenden Befragungen machte Kappe ungeduldig. Immer wieder die gleiche Prozedur: «Können Sie mir etwas zu dem Toten sagen? Kannten Sie ihn?»

«Na, Sie sind mir einer, Herr Kommissar! Wie sollte ick den überhaupt erkannt habn? Ick hab ja nur den Rücken gesehen und nicht das Gesicht.»

«Dann kommen Sie mit!», sagte Kappe ein weiteres Mal und marschierte los, um Blumen-Erika den Toten zu zeigen.

«Der Junge bleibt hier», meinte Lilli Lenné. «Ich pass so lange auf, bis Sie zurück sind. Das ist nichts für ein Kind. Schlimm genug, dass Ihr Sohn den Toten überhaupt gesehen hat.»

Blumen-Erika warf dem Kommissar einen zweifelnden Blick zu, auch sie schien nicht begeistert von der Aussicht, sich den erstochenen Clown noch einmal ansehen zu müssen. Als Kappe dann das Leinentuch von dessen Gesicht zog, schaute sie jedoch beherzt hin. Anschließend wiegte sie nachdenklich den Kopf.

«Wenn Sie ihn kennen, müssen Sie mir das sagen. Rücksichtnahme, auf wen auch immer, ist hier nicht angebracht.» Kappe hatte plötzlich das Gefühl, dass die Blumenfrau ihn einen Schritt weiterbringen könnte.

«Also, ick weiß nich. Könnten Sie nich mal die Schminke wegwischen, Herr Kommissar? Dann tät ick mehr sehen.»

Die aufgeflammte Glut der Hoffnung erkaltete. «Das geht nicht, er muss erst ins gerichtsmedizinische Institut.» Kappe machte eine Pause und dachte nach. «Was halten Sie von folgendem Vorschlag: Wenn der Tote untersucht worden ist, wischen wir die Schminke ab und machen ein Photo. Damit kommen wir bei Ihnen vorbei. Mein Kollege Galgenberg wird Ihre Adresse notieren.»

«Braucht er nich, ick bin sowieso jeden Tag hier. Oder glauben Sie, ick kann meine Blumen einfach so allein lassen? Die müssen gegossen werden.» Blumen-Erika stockte. «Na, hoffen wir mal, dass von den Schnittblumen wenigstens einige halten, bis die Halle wieder geöffnet wird. Wer zahlt mir eigentlich den Verdienstausfall?»

Das konnte ihr Otto Kappe auch nicht sagen, versprach aber sich zu erkundigen – obwohl er sich fast sicher war, dass eventuelle Verluste an den Händlern hängenbleiben würden. Er wollte sich jedochdas Wohlwollen von Blumen-Erika vorerst nicht verscherzen. Zumindest so lange, bis er ihr das Photo gezeigt hatte. «Ihre Adresse brauchen wir trotzdem», beharrte er. «Und außerdem müssten Sie zur Ansicht des Photos ins Revier 24, Oldenburger Straße 1, kommen.» Er blickte zu Hauptkommissar Schulz, der sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte. «Ist das in Ordnung, Herr Kollege?»

Schulz nickte. «Geht klar. Ich habe zwar keinen Dienst, aber ich werde meinen Stellvertreter informieren, Polizeikommissar Ernst Gehler. Sie kennen ihn.»

«Kenn ich, kenn ich. Frau Richter, kommen Sie morgen, sagen wir, gegen halb zehn, aufs Revier. Mein Kollege Galgenberg und ich stoßen am besten gleich dazu. Bis dahin sollten wir Abzüge des Porträtphotos haben. Und falls Sie uns nicht weiterhelfen können, müssen wir in den sauren Apfel beißen und auch die anderen Marktbeschicker einbestellen.»

Schulz sah nicht begeistert aus, nickte aber.

«O heiliger Bürokratius!», stöhnte Blumen-Erika, während sie gemeinsam mit Kappe zum provisorischen Vernehmungszimmer zurückmarschierte. «Als ob ick nüscht anderes zu tun hätte!»

«Haben Sie doch auch nicht», meinte Kappe nicht allzu freundlich. «Die Halle ist gesperrt, bis die Kollegen von der Spurensicherung fertig sind. Auch für Sie. Blumen hin oder her.» Dann fiel ihm auf, dass etwas mehr Verbindlichkeit angebracht wäre. Sie waren inzwischen wieder im Vernehmungszimmer angelangt. Kappe wandte sich Berndchen zu und meinte augenzwinkernd: «Du, mein Junge, kannst morgen also ruhig in die Schule.»

«Och, kann ich bei der Spurensicherung nicht zugucken?», fragte Bernd hoffnungsvoll.

«Nee, leider nicht», mischte sich Galgenberg ein. «Alle müssen raus aus der Halle, sonst werden noch mögliche Spuren verwischt. Aber ick denk mal …», er schaute in Richtung Otto Kappe, «… bis übermorgen müsste allet erledigt sein. Dann kannste zu uns kommen, und Fräulein Lilli Lenné wird dir allet haarklein erzählen. Bis dahin gehst du aber schön brav in die Schule.»

«Ehrlich?»

«Ehrlich.»

Lilli Lenné lächelte den Jungen an und nickte. «Klar.»

Bernd strahlte sie an, und Kappe dachte, dass Lilli anscheinend auf kleine Männer dieselbe Wirkung hatte wie auf große.

Am Abend, als Rechtsmediziner König mitsamt dem Toten längst abgezogen war, als sich die Abenddämmerung über die Halle senkte, in den umliegenden Häusern die Lichter angingen, die Stimmen der Menschen, die hektischen Rufe nach und nach verstummten und die Mäuse darauf warteten, dass auch die letzten Menschen endlich verschwanden, sagte Otto Kappe zum Kollegen Galgenberg: «O je! Viel Aufwand – und keinen Schritt weiter.»

«Lass man, Kappe, ick hab im Urin, det uns diese Blumen-Erika weiterbringen wird. Die hatte so was im Blick. Als würde sie den Toten kennen, aber nichts Falsches sagen wollen.»

«Meinst du?»

«Mein ick.»

Tod eines Clowns

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