Читать книгу Tod eines Clowns - Petra Gabriel - Страница 12
ОглавлениеKAPITEL VIER
Dienstag, 13. Dezember 1960
AM NÄCHSTEN TAG brachte Blumen-Erika die Ermittlungen tatsächlich weiter. Lange und ausgiebig betrachtete sie auf dem Revier in der Oldenburger Straße das Photo des Toten. Die blauen, etwas engstehenden Augen, die niedrige Stirn, die Nase, die auch ohne die rote Clownsknolle wie eine Kartoffel aussah. Die typische Nase eines Gewohnheitstrinkers. Nach einer Weile nickte sie. «Hab auch daheeme noch mal nachgedacht. Der kam mir irjendwie bekannt vor. Ja, den kenn ick. Der hat früher immer mal wieder als Bote in der Arminiushalle ausgeholfen. Hab ihn aber schon länger nich mehr gesehen. Der war etwas seltsam, und als dann bei einigen Händlern Geld wegkam … Na ja, wir konnten es ihm nie beweisen. Jedenfalls hieß der Ernst … ne, Erich … ne, irgendwas mit K. Genau, Karl Jarusch! Hat gesagt, er sei Alleinunterhalter in so einem Varieté, den Namen weiß ick nich mehr, und verdiene sich in der Halle nur was dazu. Na, Unterhaltung hatten wir jedenfalls mit dem, und das nicht zu knapp. Hat immer geprahlt, dass er ein berühmter Hochseilartist gewesen sei. Wird wohl vom Seil gefallen sein, womöglich auf ’n Kopp, bei den Mengen, die der gesoffen hat. Jedenfalls hat er gehinkt. Und neulich hat mir Wurst-Fritz, also der Fritz Fechner, gesagt, der Jarusch sei wiederaufgetaucht. Ganz plötzlich. Habe händeringend um Arbeit gebeten. Da ham se ihn bei der Stadt wieder als Boten genommen. Also, wenn Se mich fragen, ick hätte das nich getan.» Blumen-Erika biss sich auf die Lippen. «Aber über Tote soll man ja nicht schlecht reden, wa.»
Otto Kappe schaute nachdenklich. So so, Fechner hatte also erst unlängst mit Blumen-Erika über den Clown geredet – und wollte ihn als Toten trotzdem nicht erkannt haben? Hatte Wurst-Fritz vielleicht ein Motiv, den Kerl zu erstechen? Allerdings konnte er es kaum gewesen sein, er hatte ein Alibi: Zusammen mit Eugen Schreiber hatte er vor der Halle eine Zigarette geraucht, als jemand den Mann umgebracht hatte. Zumindest hatten die beiden das ausgesagt. Der Lage der Dinge nach, oder besser, der des Toten und der Anordnung und Konsistenz der Blutflecke nach, schied ein anderer Tatort als Fechners Fleisch- und Wursttheke aus.
Jarusch hieß der Mann also. War angeblich ein suspektes Subjekt gewesen. Schulz und seine Leute würden das Photo auf jeden Fall auch den anderen Standbetreibern vorlegen und diese eingehend befragen müssen. Die waren nicht aus dem Schneider. Von denen konnte sehr wohl einer zur Tatzeit in der Halle gewesen sein und sich dann verdünnisiert haben. Die Händler kannten sich in der Halle und deren Eingeweiden aus verschlungenen Gängen gut aus. Der Täter war nach dem Mord vielleicht sogar frech vor der Halle aufgetaucht und hatte Einlass begehrt. So hätte Kappe es jedenfalls gemacht. Und trotzdem – dass Fechner den Toten nicht kennen wollte, war schon seltsam. Nun ja, immerhin hatten der Tod und die Schminke dessen Gesicht verändert.
Es gab jedenfalls jede Menge Arbeit. Galgenberg und er würden sich mit dem Umfeld des Erstochenen beschäftigen. Jarusch war angeblich ein hinkender Bote und ein ehemaliger Artist gewesen, eventuell aus dem Varieté. Diesbezüglich tat sich in einer Stadt wie Berlin eine ganze Welt von Möglichkeiten auf.
Zurück im eigenen Büro in der Gothaer Straße, beraumte Kappe erst einmal eine Lagebesprechung an. «Wie viele Varietés mag es in Berlin wohl geben?», fragte er. Die Zahl der Angesprochenen war höchst überschaubar: Günter Kynast, Gerhard Piossek und Jürgen Rückert waren bis über die Halskrause mit anderen Fällen beschäftigt, es blieb also von der üblichen Truppe nur Hans-Gert Galgenberg. Dazu kam Fräulein Lilli Lenné von der Weiblichen Kriminalpolizei. Vorerst allerdings nur, um zu erläutern, was sie bisher herausgefunden hatte. Es war offiziell noch nicht vorgesehen, dass die Kollegin die Ermittlungen unterstützen sollte. Eigentlich. «Also, eine Idee?»
Kopfschütteln.
«Weiß einer von euch, wie viele Zirkusse es derzeit in Berlin gibt?»
Kopfschütteln.
«Die können sonst wo sein, viele ziehen ja rum», merkte Hans-Gert Galgenberg an. «Und det mit den Varietés is in Berlin och ein weites Feld.»
«Auf die Zirkusse trifft das eher nicht zu», meinte Kriminalmeisterin Lilli Lenné. «Die meisten sind momentan in ihrem Winterquartier, auch diejenigen, die in Berlin-West residieren. Und das können nicht viele sein, denn das Reisen ist von hier aus schwierig. Wagen und Tiere müssten durch die Zone, um in den Westen zu kommen. Mit Sonderzügen oder so. Mir fällt spontan jedenfalls nur einer ein: Zirkus Reiz. Ist ein Familienunternehmen, ’ne kleine Klitsche. Ich glaube, die haben ihr Quartier in Kladow, auf einem alten Bauernhof. Und soweit ich weiß, reisen die auch nicht aus, sondern tingeln durch die West-Berliner Stadtteile. Davon können die ganz gut leben, sie haben ja nicht allzu viel Konkurrenz. Sind übrigens alle weitläufig verwandt mit der berühmten Seiltänzerfamilie Ernst Jacob Reiz.»
Die Augen von Hans-Gert Galgenberg begannen zu funkeln. «Ist det der, der kurz vor der Jahrhundertwende als Multimillionär gestorben ist? Mein Großvater, der olle Gustav Galgenberg, hat mir viel von ihm erzählt, der mochte Zirkus bekanntlich in jeder Form. Reiz muss ’n beeindruckender Mann gewesen sein, er soll sogar ein Ehrengrab des Landes Berlin auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof gekriecht ham.»
«Ach, der olle Galgenberg», sagte Otto Kappe mehr zu sich selbst und dachte an seinen Onkel Hermann Kappe, Kriminaloberkommissar a. D., der nun schon seit fast sechs Jahren im Ruhestand war und die Füße noch immer nicht stillhalten konnte, trotz Rheuma und allerlei anderen Gebrechen, die das Alter mit sich brachte. Galgenberg eins und Kappe eins waren ein legendäres Gespann bei der Berliner Kriminalpolizei gewesen. Jetzt hatten Gustavs Enkel Hans-Gert, also Galgenberg zwei, und er selbst, Hermanns Neffe Otto, also Kappe zwei, übernommen.
«Genau den Reiz meine ich», bestätigte Kriminalmeisterin Lenné. «Übrigens gibt es sicher ein Verzeichnis der in Berlin-West ansässigen Zirkusse und Varietés. Falls wir da nicht fündig werden, müssten wir in der Zone weitersuchen. Und dann wird’s kompliziert.»
«Hm», sagte Otto Kappe. «Aber auch dafür werden wir eine Lösung finden. Galgenberg, du klapperst erst mal die Varietés ab!»
Der schaute bedröppelt. «Alle? Ick meine, ick mag ja hübsche Damen und so, aber det könnte dauern.»
«Zunächst brauchst du nur anzurufen, den Namen des Toten haben wir ja. Der könnte natürlich falsch sein, muss aber nicht. Wenn wir damit nicht weiterkommen, müssen wir doch mit dem Photo die Etablissements aufsuchen.»
«Dann brauchen Sie aber Verstärkung», meinte Lilli Lenné.
Otto Kappe zog die Stirn in Sorgenfalten. «Sie sagen es, Sie sagen es. Da fangen die Probleme schon an. Ich hätte Sie bei diesem Fall gerne dabei. Meinen Sie, es gibt eine Möglichkeit, Sie für diese Ermittlungen von der Weiblichen Kriminalpolizei loszueisen? Sie kennen sich mit Zirkussen ja offenbar aus. Ich finde, sie sollten sich um diesen Zirkus Reiz kümmern.»
«Lassen Sie mich nur machen, ich krieg das schon hin.» Kriminalmeisterin Lenné sagte dies mit einer solchen Entschlossenheit, dass Kappe ihr sofort glaubte.
«Und du, wat machst du?», fragte Hans-Gert Galgenberg.
«Ich werde herausfinden, ob es über diesen Jarusch eine Akte gibt.»
Es gab keine Akte. Jarusch hatte keinerlei Vorstrafen. Und selbst nachdem Galgenberg alle Varietés in West-Berlin abtelefoniert hatten, waren sie kein Stück weiter. Kappe sah sich bereits mit schmerzenden Füßen und durchgelaufenen Sohlen durch die Stadt tigern und das Photo des Toten herumzeigen.
Die Einzige, die eine gute Nachricht mitbrachte, war Lilli Lenné. «Ich habe mich loseisen können und war auch gleich beim Zirkus Reiz. Dort habe ich einfach nach einem Karl Jarusch gefragt, natürlich ohne zu sagen, dass der tot ist. Eigentlich sind das ganz nette Leute. Der Herr Direktor gibt sich vielleicht ’n bisschen bombastisch. Die kennen tatsächlich einen Karl Jarusch. Der habe bei ihnen ausgeholfen, sei aber eines Tages ganz plötzlich unter Mitnahme der gesamten Wocheneinnahmen verschwunden, hieß es. Sie vermuten, dass er aus der Zone kam und dahin auch wieder verschwunden ist. Oder dass er sich einem reisenden Zirkus angeschlossen hat. Sie sagen, es passiere nicht selten, dass Leute, die etwas ausgefressen haben, sich bei einem Zirkus verstecken. Zirkusse ziehen weiter, Menschen mit ihnen, und auf diese Weise verschwinden sie. Natürlich lassen sich die Direktoren die Ausweise zeigen, und es finden Polizeikontrollen statt, trotzdem passiert es immer wieder.»
«Haben bei Reiz Polizeikontrollen stattgefunden, als sich dieser Jarusch dort aufhielt? Hat der Mann Familie, Freunde, hat er von sich erzählt? Weiß man mehr über ihn?»
«Nein», antwortete Kriminalmeisterin Lenné. «Nur, dass er sich offenbar gerne am Eigentum anderer Menschen vergreift.»
«Hat die Familie Reiz denn nicht Anzeige erstattet?»
«Hat sie nicht. Wie es aussieht, halten die bei Reiz nicht besonders viel von den Fähigkeiten der Polizei. Das scheint aber nicht auf schlechten Erfahrungen zu beruhen. Ich habe mal nachgeforscht, ob wir was über Reiz haben. Es gibt nichts. Der hat eine saubere Weste, weiß wie frisch gefallener Schnee, ich konnte das anfangs kaum glauben. Die Leute von Reiz blieben mir gegenüber übrigens ziemlich bedeckt. Bis auf den Herrn Direktor. Der hat mir angeboten, bei ihm anzufangen, wenn es mir bei der Polizei nicht mehr gefallen sollte.» Kriminalmeisterin Lenné hatte eine Art zu kichern, bei der einem nichts anderes übrigblieb, als unwillkürlich einzustimmen. Wenn andere das taten, missbilligte Kappe das allerdings entschieden. Er schalt sich einen Idioten, beschloss aber, künftig bei allem mitzumischen, was diesen Zirkus und dessen Direktor betraf.
«Können die sich vorstellen, warum jemand Jarusch abmurksen wollte? Andererseits, könnte det nich sein, dass die Leute vom Zirkus sich für den Diebstahl des Geldes gerächt und Selbstjustiz geübt ham?», sinnierte Galgenberg. «Vielleicht haben sie Jarusch in der Arminiushalle aufgetrieben, es kam zum Streit, und denn tauchte plötzlich ’n Messer auf. Falls hier jemand an meiner unmaßgeblichen Meinung interessiert is.»
Otto Kappe nickte. «Eine mögliche Theorie.»
Kriminalmeisterin Lenné schaute plötzlich sehr nachdenklich. «Zirkusdirektor Reiz ist ein ziemlich kräftiger Mann. Und er betätigt sich auch als Messerwerfer. Seine Frau steht dabei an der großen Scheibe. Ein bemerkenswertes Ziel.»
«Wieso bemerkenswert?», erkundigte sich Galgenberg.
Fräulein Lenné kicherte erneut. «Na, sie ist nicht die Schönste, ziemlich dürr dazu. So wie ich das sehe, ist der werte Gatte kein Kostverächter, was Frauen angeht. Der platzt bald vor lauter Eigenliebe und Selbstbewusstsein. Also, mit Messern kennt er sich jedenfalls aus. Ganz von der Hand weisen würde ich die Theorie des Kollegen Galgenberg nicht.»
«Nur, wie sollte einer von denen unbemerkt in die Halle rein- und wieder rausgekommen sein?», hakte der Gelobte selbst nach.
«Tja, das ist eine gute Frage. Das ist überhaupt die Schlüsselfrage. Mal abgesehen von der Frage, wer ein Motiv gehabt haben könnte, den Mann umzubringen. Unter Umständen gibt es noch mehr Leute, die er beklaut hat.»
«Aber wegen ein paar Mark bringste doch niemanden um», wandte Galgenberg ein.
«Wir hatten schon Fälle, da ging es um 50 Pfennige», meinte Kriminaloberkommissar Kappe. «Am besten bestellen wir einen nach dem anderen von diesem Zirkus zu uns. Vielleicht sind die Herrschaften hier auf dem Revier etwas zugänglicher. Haben wir eigentlich schon was von der Spurensicherung gehört? Haben die irgendeinen Anhaltspunkt in der Halle gefunden? Was sagt König? Gab es Besonderheiten an der Leiche, die uns weiterbringen?»
«Gibt noch nüscht wirklich Neues», antwortete Galgenberg. «König hat nur bestätigt – ziemlich widerwillig, soweit ick det beurteilen kann, den Kerl und seinen komischen Dialekt versteht ja keiner –, was wir schon in der Halle besprochen hatten: Der Clown kann erst wenige Minuten tot gewesen sein, als Fechner und Schreiber ihn fanden. Die Tat hat also maximal eine Zigarettenlänge gedauert, fünf Minuten oder so. Wenn man langsam pafft, vielleicht sieben. Mehr haben König und seine Leute noch nich zu bieten. So wat dauert eben.»
Das Gefühl hatte Otto Kappe auch.