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Goldauge

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Windstille. Missmutig stapfte Orh Jonoth an Deck der Lachmöwe auf und ab. Die Planken dröhnten dumpf unter dem Gewicht des bernländischen Riesen, der noch immer den schweren, dunklen Schuppenpanzer trug, als gelte es, in eine Schlacht zu ziehen. Schon seit zwei Tagen dümpelte der flachbordige Segler bereits auf der fast unbewegten See vor sich hin, und ein Ende der Flaute war nicht abzusehen. Die Segel hingen wie schlaffe Gespenster im unbewölkten Winterhimmel, und selbst als Kapitän Harrod den Befehl gegeben hatte, das Tuch zu befeuchten, damit nur ja kein noch so leichter Windzug durch die Poren des Leinengewebes entkommen konnte, selbst da hatte sich dort oben nichts geregt. Sicher, die Ruderer hatten sich anfangs noch tüchtig in die Riemen gelegt. Aber selbst der zähe Löwener hatte irgendwann nicht mehr weiter gekonnt, und Harrod hatte eine Pause geboten.

Zornig ballte Orh die Faust. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Riese hätte die schwere Doppelaxt aus dem Gürtel gezogen und vor lauter Ärger den Mast niedergehauen. Und nur das eine war an der ganzen Lage noch erfreulich zu nennen, dass nämlich der Säugling, der ihm die ganze Nacht über die Ohren vollgeplärrt hatte, endlich verstummt war. Sparrow, der Schiffsjunge, hatte für Varelian aus einem alten Wasserfass eine provisorische Wiege gebaut und am Großbaum aufgehängt, und da pendelte der junge Kronprinz nun zwischen Luft und Meer und war augenscheinlich eingeschlafen. Gut so. Wenn nun noch Wind käme ...

Einzig Sparrow schien gut gelaunt zu sein. Leise pfeifend schlenderte er auf Orh zu und grinste ihn an. „Hey, Großer, wenn du nichts zu tun hast, könntest du mir eigentlich helfen.“

Der Bernländer knurrte unwillig, zuckte dann jedoch die Achseln. „Warum nicht?“ Er folgte dem Jungen zum Bug der Lachmöwe, wo im Abstand von einer Armeslänge an der Reling einige Stricke verknotet waren, deren anderes Ende ins Wasser hing.

Orh hatte am Morgen beobachtet, wie der Schiffsjunge hier ein halbes Dutzend Krüge über Bord geworfen hatte. Warum, das hatte er nicht fragen wollen. Wortlos sah er zu, wie Sparrow die Leine einholte. Mit schnellen, gleichmäßigen Bewegungen schoss er das Tau auf, ohne den Blick von der Wasseroberfläche zu wenden. In langen, sauberen Buchten hing die Leine über seiner linken Hand, während die Rechte sie Windung um Windung herumführte. Ein letzter Ruck, und der bauchige Tonkrug durchbrach die Wasserfläche.

„Jetzt drück die Daumen, Großer“, rief Sparrow aus. Er hievte das Gefäß mit beiden Händen über die Reling. Wasser triefte heraus und klatschte aufs Deck, doch Sparrow ließ sich nicht abschrecken. Beherzt griff er in die dunkle Öffnung hinein, und sofort breitete sich ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. „Ja, da ist einer drin.“

Orh beugte sich neugierig über den Krug, fuhr jedoch zurück, als ein langer, dünner Tentakel aus der Öffnung herausglitschte. Sparrow zog die Hand zurück und hielt sie dem Riesen unter die Nase. Eine faustgroße, gummiartige Masse lag dort auf seiner Handfläche, acht Arme wanden sich schlangengleich in einem wild auf und ab zuckenden Knäuel. Doch was den Riesen am meisten entsetzte, war der Blick der starr auf ihn gerichteten Augen.

„Was – was ist das?“, fragte er mit schlecht gespielter Gleichmütigkeit und trat von einem Fuß auf den anderen. Die Augen des Tieres folgten jeder seiner Bewegungen, und fast hatte er das Gefühl, dass ihm aus den talergroßen, leicht hervorgewölbten Goldscheiben eine fremdartige Intelligenz entgegenblickte, die bis auf den Grund seiner Seele hinabschaute. Wie hypnotisiert starrte er in die schwarzen, spaltförmigen Pupillen, ein tiefer, senkrechter Graben, hinter dem irgendwo ...

„Großer, träumst du?“ Sparrow lachte. „Hast wohl noch nie einen Kraken gesehen, wie?“

Er schüttelte den rotbraunen Klumpen in seiner Hand, um den das Schlangennest der Tentakeln noch immer auf und ab wogte.

Orh fuhr zusammen. Entsetzt sog der Riese die Luft ein. Sparrow beugte sich mit dem Kopf über das Tier und biss zu, spuckte dann in hohem Bogen eines der Goldaugen über die Reling. Der Krake krümmte sich zusammen, dann erschlafften seine Arme, hingen wie nasse Stricke von Sparrows Hand herab. Die zuvor kräftige, rotbräunliche Färbung verblasste. Wo eben noch das rechte Auge den Riesen angestarrt hatte, trat Blut aus, eine wässrige, leicht bläulich schimmernde Flüssigkeit.

„So machen es die Fischer am Sharkenthökk-Riff“, lächelte der Schiffsjunge und fügte nach einer kurzen Pause beruhigend hinzu: „Du musst dir keine Sorgen machen. Er hat nicht lange leiden müssen. Und heute Abend kannst du dich auf ’ne echte Delikatesse freuen.“

Der Riese nickte stumm. Als Sparrow die nächste Leine einholte, wandte er den Kopf ab. Er sah aus dem Augenwinkel, wie ein Tonkrug die Wasseroberfläche durchbrach. Er betete zu allen seinen Göttern, dass ...

„Wäääääh!“

Wütendes, forderndes Babygebrüll ließ die Lachmöwe erzittern.

„Weor sei Dank“, glaubte Sparrow den Riesen sagen zu hören. Als er aufblickte, war Orh bereits vom Bug verschwunden und hatte sich über die Wiege gebeugt, um den Kleinen zu trösten.

Ein Prinz für Movenna

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