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der diebstahl

Ich wartete an der Tramhaltestelle auf Julie. Nach dem Streit mit Ali war ich froh, dass wir heute die Recyclingfirma besuchten. So konnte ich ihm einen Tag aus dem Weg gehen. Als ein Taxi vor mir hielt und Julie vom Rücksitz winkte, erschrak ich. Julie hatte gesagt, dass ihr Vater uns hinfahren würde. Für ein Taxi reichte mein Geld nicht. Mams Reaktion auf die Globus-Einkäufe steckte mir immer noch in den Knochen. Statt wütend zu werden, war sie jammernd zusammengebrochen. Den ganzen Samstag hatte sie im Bett verbracht. Am Sonntagnachmittag verschwand sie, ohne zu sagen, wohin. Sie kehrte mit verquollenen Augen zurück und tat, als sei nichts geschehen.

«Steig ein!», rief Julie.

Zögernd streckte ich den Kopf ins Wageninnere. Der Taxichauffeur sah nach hinten und reichte mir die Hand.

«Das ist mein Vater», sagte Julie.

Erleichtert rutschte ich auf den Rücksitz. Julie begann sofort, über die bevorstehende Besichtigung zu reden. Es klang, als würden wir einen Freizeitausflug machen. Zusammen gingen wir unsere Fragen durch.

An einem Rotlicht drehte sich Julies Vater um. «Ich habe gelesen, dass Kupferkabeldiebstähle zunehmen. Habt ihr vor, danach zu fragen?»

Ich war überrascht. Nicht über die Frage, sondern weil Julies Vater mit starkem Akzent sprach. Waren sie doch Franzosen? Dafür war der Akzent aber zu hart.

«Gute Idee», sagte Julie. «Das zeigt, dass Abfall wertvoll sein kann.»

«Warum stiehlt jemand Kabel?», fragte ich.

«Um sie einzuschmelzen», erklärte Julies Vater. «Dann wird das Kupfer verkauft.»

Er erzählte, dass neulich Kupferkabel im Wert von 150 000 Franken gestohlen worden seien.

Julie holte einen Notizblock aus ihrer überfüllten Tasche und kritzelte etwas darauf.

Ich musterte das Chaos. Wie fand sich Julie in ihren Unterlagen zurecht? Plötzlich merkte ich, dass ich selber beobachtet wurde. Im Rückspiegel sah ich die Augen von Julies Vater.

«Gjyle hat erzählt, dass du das Gymnasium abgebrochen hast», sagte er.

«Wer?»

«Ich», sagte Julie, ohne aufzusehen.

Warum nannte er sie so komisch?

«Das ist schade», fuhr ihr Vater fort, bevor ich etwas sagen konnte. «Eine gute Ausbildung ist wichtig.»

Mir war das Gespräch unangenehm, doch Julies Vater widersprach man nicht, das war mir sofort klar. Um seine Augen entdeckte ich keine Lachfalten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mit Julie herumalberte. Wie anders war da Dad gewesen.

«Staub Recycling» war im Tösstal. In der sechsten Klasse hatten wir einen Schulausflug dorthin gemacht. Mir gefallen Flüsse, und die Töss mag ich ganz besonders.

Julies Vater fuhr zum Besucherparkplatz und stellte den Motor ab. Als er aussteigen wollte, sagte Julie etwas in einer fremden Sprache. Er zögerte, sie redete weiter auf ihn ein, und schliesslich stieg er wieder ins Taxi. Wir vereinbarten, dass er uns um 17 Uhr abhole.

«Er wollte mit uns hineingehen», erklärte Julie, als wir auf das Firmenareal zugingen.

Der Lärm lenkte mich von den Fragen ab, die ich ihr über ihre Familie stellen wollte. Wir standen vor einer grossen Halle, die mit Altmetall gefüllt war. Ich sah ganze Autokarrosserien auf dem Schrotthaufen. Ein Bagger griff mit einer Zange nach dem Metall und liess die Ladung in einen Container fallen, der alles zermalmte und dann schluckte.

Julie zeigte auf ein niedriges Gebäude, das mit «Büro» beschriftet war. Dort wurden wir schon erwartet. Ein Mann um die fünfzig mit schütterem Haar und fliehendem Kinn stellte sich als Felix Staub vor. Er erklärte, dass sein Bruder Kaspar, der Geschäftsführer von «Staub Recycling», in wenigen Minuten bei uns sei. Er führte uns zu einem Tisch, der mit Papieren übersät war, und drückte uns Firmenbroschüren in die Hand. In diesem Moment ging die Tür auf. Der Mann, der eintrat, sah Felix Staub so ähnlich, dass es nur sein Bruder Kaspar sein konnte. Sein Kinn war allerdings markanter, und statt Anzug und Krawatte trug er Arbeitshosen. Als er hereinkam, merkte ich, dass er hinkte. Unauffällig suchte ich nach dem Grund. Mein Blick glitt seinem Bein entlang, und ich sah, dass es kürzer war als das andere.

«Entschuldigt meine Verspätung», sagte er. «Wir hatten … einen Zwischenfall.»

«Wie sind sie rein gekommen?», fragte Felix Staub.

Kaspar Staub seufzte. «Sie haben den Maschendrahtzaun hinter der Pneudeponie aufgeschnitten.» Er sah uns an. «Gestern Nacht wurde eingebrochen. Zum dritten Mal innerhalb von neun Monaten.»

«Und die Überwachungskameras?», fragte Felix Staub.

«Verdeckt von den Pneus.»

«Wurde etwas gestohlen?», fragte Julie mit grossen Augen.

«Eine halbe Tonne Kabel», antwortete Kaspar Staub.

«Kupferkabel?», wollte Julie wissen.

Kaspar Staub hob die Augenbrauen. «Ich sehe, ihr habt recherchiert.» Er erzählte, dass die Diebe mit einem Kleintransporter bis zum Zaun gefahren waren und dort die Kabel aufgeladen hatten. «Ich zeige euch die Stelle auf dem Rundgang. Seid ihr bereit?»

Wir bejahten und packten die Unterlagen ein. Dann folgten wir Kaspar Staub in die Halle, vor der wir soeben noch gestanden waren. Er reichte uns zwei Helme.

«Das ist das Metalllager», schrie er, damit wir ihn über den Lärm des Baggers hinweg hörten. «Hier wird das Metall getrennt. Das Eisen kommt in die Schrottschere.» Er zeigte auf den Container, der das Metall zerkleinerte und presste.

In der Halle roch es wie in einer Parfümerie. Kaspar Staub sah mein erstauntes Gesicht und lächelte. Er erklärte, dass gerade Parfümfässer entsorgt würden. Dann zeigte er auf eine steile Metalltreppe. Julie zögerte. Unsicher sah sie zum Zwischenboden fünf Meter über uns. Als ich hochstieg, spürte ich ihre Hand an meinem Hosenbund. Dass Julie nicht schwindelfrei war, passte irgendwie nicht zu meinem Bild von ihr.

Auf dem Zwischenboden schnitt ein Arbeiter Starkstromkabel auf und entfernte den Kunststoff.

«Früher hat man die Kabel einfach auf den Feldern verbrannt. Dadurch geht aber Kupfer verloren», erklärte Kaspar Staub, «und der Boden wird kontaminiert. Verseucht», erläuterte er, als er sah, dass wir das Wort nicht kannten. «An diesen Stellen wächst nie wieder etwas.» Besorgt runzelte er die Stirn. «Leider ist das in vielen Ländern heute noch üblich.»

Der Kabelberg erinnerte mich an einen Teller Spaghetti.

«Die kleineren Kabel werden geschreddert», fuhr Kaspar Staub fort, «dann trennt der Granulator Kupfer und Kunststoff. So macht man aus Abfall Gold!»

Ich nahm etwas Kupfer in die Hand und liess die Stücke durch meine Finger rieseln. Der Rundgang war interessanter, als ich erwartet hatte. Draussen zeigte uns Kaspar Staub einen Schredder, den er Terminator nannte. Dieser schluckte ganze Möbelstücke und spuckte sie als Holzschnitzel aus. Ich stellte mir schaudernd vor, was passieren würde, wenn ein Arbeiter das Gleichgewicht verlöre.

Bis zum Mittag hatten wir die PET-Sammelstelle, das Scherenhäuschen, von wo die Schrottschere bedient wurde, und das Giftlager besichtigt. Letzteres befand sich in einem verschlossenen Raum mit speziellem Boden, der verhinderte, dass bei einem Unfall Gift ins Grundwasser sickerte. Kaspar Staub erklärte, dass jeder Tropfen Gift, der entsorgt wurde, den Behörden gemeldet werden müsse. Zum Schluss führte er uns zum Loch, das die Diebe in der vergangenen Nacht in den Zaun geschnitten hatten. Zurück im Büro nahm er seinen Helm ab und holte eine Flasche Wasser.

«Und? Wie hat es euch gefallen?» Er rieb sich erwartungsvoll die Hände.

Julie legte sofort los. Sie wollte alles über die Firma, Kupferdiebstähle und Umweltschäden wissen. Irgendwann schweiften meine Gedanken ab. Die Ruhe im Raum war nach dem lauten Morgen wohltuend. Mein Blick glitt zum Fenster, und ich beobachtete ein Tankfahrzeug, das rückwärts aufs Gelände fuhr.

Kaspar Staub folgte meinem Blick. «Die Tankreinigungen haben nichts mit dem Recyclinggeschäft zu tun», erklärte er. «Mein Bruder ist dafür zuständig. Er besass früher eine Firma, die nun als eigenständiger Bereich in ‹Staub Recycling› integriert ist.»

«Warum?», fragte Julie.

Kaspar Staub zögerte. «Es ‚ lief nicht gut. So können wir Synergien nutzen.»

Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte, doch es interessierte mich auch nicht. Dass Tanks gereinigt wurden, wusste ich, da vor einem Jahr die Heizung bei uns zu Hause erneuert worden war. War das wirklich erst ein Jahr her? Mir kam es vor wie in einem anderen Leben. Damals hätte ich mir nie träumen lassen, dass bald jemand anderes in meinem Zimmer schlafen würde. Ich dachte an den weichen Angorateppich und an das kühle Leder meines Sofas. Mein Schreibtisch hatte am Fenster gestanden. Von dort aus sah ich auf den Zürichsee und, viel wichtiger, auf den Pool im Garten der Nachbarn. An heissen Tagen sonnten sich Jerôme und seine Studienkollegen auf Luftmatratzen. Ihre durchtrainierten Körper waren braungebrannt. Carol hatte erzählt, dass sie sich die Brust enthaarten. Das wusste sie von ihrem älteren Bruder.

«… deshalb lernt ihr am meisten, wenn ihr mitanpackt», hörte ich Kaspar Staub von ferne. «Ich hoffe, das ist euch recht.»

«Klar», erwiderte Julie.

Ich nickte abwesend. Nachdem wir unsere mitgebrachten Sandwiches gegessen hatten, führte uns Kaspar Staub zum Metalllager. Er wechselte einige Worte mit einem Arbeiter, der mich skeptisch beäugte. Kaspar Staub reichte mir Handschuhe und humpelte mit Julie davon. Erst jetzt wurde mir bewusst, was von mir erwartet wurde. Ich musste mitarbeiten! Der Arbeiter verzog das Gesicht. Ich wusste genau, was er dachte: dass ich eine verwöhnte Tussi sei, zu schwach, um zuzupacken. Nur weil ich blonde Haare hatte und mir die Augenbrauen zupfte, war ich aber noch lange kein Weichei. Elf Jahre lang hatte ich Ballett trainiert, sechs Stunden die Woche. Das geht nicht spurlos an einem vorüber. Mit sechzehn hatte ich mehr Muskeln als die meisten Jungs in meinem Alter. Ich streifte mir die Handschuhe über und griff nach einem Metallstück.

«Und, wohin damit?», fragte ich kühl.

Er erklärte, dass er Eisen und Aluminium trenne und zeigte mir, wie. Mit einem Magnet konnte ich jedes Metallstück überprüfen. Zwei Stunden arbeiteten wir konzentriert, er schien darauf zu warten, dass ich aufgab. Mein Stolz liess das nicht zu. Mam sagte, ich sei stur. Das stimmte nicht. Ich hasste es einfach, wenn andere meine Schwächen sahen. Sie gingen niemanden etwas an.

Endlich schlug der Arbeiter eine Pause vor. Ich zuckte mit den Schultern, die vor Anstrengung brannten. Er holte eine Flasche Cola, mit der wir uns in den Schatten setzten, und stellte sich als Tom vor. Anschliessend führte er mich zum Scherenhäuschen, wo ich bis Feierabend unter Anleitung die Schrottschere bedienen durfte.

Julie wartete im Büro bereits auf mich. Sie war verschwitzt und schmutzig, doch ihre Augen leuchteten. Nachdem wir uns von Kaspar Staub verabschiedet hatten, spazierten wir gemeinsam zum Parkplatz. Nirgends stand ein Taxi. Stattdessen fiel mir ein Typ auf, der locker gegen einen Baum lehnte. Er war schmal, aber drahtig, seine Augen um einiges heller als sein braunes Haar. Irgendwie kam er mir bekannt vor, aber ich war sicher, dass ich ihn noch nie gesehen hatte.

«Leo!», rief Julie. «Was machst du hier? Ich dachte …»

«Vater musste nach Aarau», erklärte er.

«Nicole, das ist Leo, mein …», sagte Julie.

«Leotrim», korrigierte er, leicht verärgert.

Julie seufzte theatralisch. «Leotrim», wiederholte sie, wobei sie die letzte Silbe betonte. «Mein Bruder.»

Jetzt wurde mir klar, warum er mir bekannt vorkam. Er glich Julie. Doch zu ihm passte die kräftige Nase, sie liess ihn irgendwie männlicher erscheinen. Auf einmal war es mir peinlich, dass ich so schmutzig war. Meine Schminke war verschmiert, ich stank nach Schweiss. Leo liess sich nichts anmerken. Er sah mich nicht einmal richtig an. Die Uhrzeit interessierte ihn viel mehr.

«Der Bus fährt in fünf Minuten!» Leos Handy rappte, und er wandte sich von uns ab.

«Warum holt er uns ab?», flüsterte ich.

«Weil mein Vater einen Kunden nach Aarau fahren musste», erklärte Julie.

«Aber Leo hat gar kein Auto.»

«Logo, er ist erst siebzehn.»

«Wir hätten auch ohne ihn den Bus nehmen können.»

«Meine Eltern mögen es nicht, wenn ich alleine unterwegs bin.»

Und ich hatte mich über meine Eltern geärgert! Wenn ich früher mit Freundinnen ausgegangen war, musste ich immer ein Taxi nehmen und genau zur vereinbarten Zeit zu Hause sein. Tagsüber hatten sich Mam und Dad jedoch zum Glück nie Sorgen gemacht. Und jetzt kümmerte sich meine Mutter sowieso nicht mehr darum, wo ich mich herumtrieb.

Im Bus erzählte Julie ihrem Bruder alles über «Staub Recycling». Leo liess den Redeschwall über sich ergehen. Offenbar war er es gewohnt, seiner Schwester zuzuhören.

«Ich sass sogar am Steuer des Baggers», sagte Julie.

Mit einem Ruck setzte sich Leo auf. «Das ist viel zu gefährlich!»

Julie rollte die Augen.

«Das würde ich an deiner Stelle zu Hause nicht so hinausposaunen», riet Leo.

Ich musterte ihn unauffällig. Er trommelte mit den Fingern auf die Rücklehne des Vordersitzes. Es ging eine Energie von ihm aus, die mich nervös machte. Die Jungs, die ich kannte, waren zurückhaltender. Jerôme sah immer leicht gelangweilt aus, so, als gehe ihn alles nichts an. Leo war wie ein gespannter Bogen. Ich fragte mich, was für ein Name Leotrim war, erinnerte mich, dass Julies Vater sie am Morgen nicht Julie genannt hatte. Endlich stiegen wir in die S-Bahn um. Kurz darauf kamen wir in Zürich an.

«Ich treffe Chris noch, er hat eine CD, die ich fürs Midnight Basketball brauche», sagte Leo, während wir durch die Einkaufspassage im Bahnhof gingen.

Sein Kollege wartete bereits. Was die Ausstrahlung betraf, war Chris das genaue Gegenteil von Leo. Er bewegte sich wie ein Schlafwandler, öffnete kaum den Mund beim Reden und machte keine Anstalten, die Kopfhörer abzunehmen. Seine schulterlangen Haare waren schwarz wie Kohle, seine Augen fast genau so dunkel. Ich war so in meine Beobachtungen versunken, dass ich kaum wahrnahm, was hinter mir geschah.

Plötzlich ging alles ganz schnell. Julie schrie auf, ich drehte mich um und sah gerade noch, wie sie hinfiel. Einige Meter vor uns rannte jemand davon.

«Meine Tasche!», rief Julie.

Bevor ich begriff, was los war, jagte Leo hinter dem Flüchtigen her. Instinktiv nahm ich die Verfolgung auf. Ich konzentrierte mich auf Leos weisses T-Shirt, das immer wieder aufblitzte. Er verschwand um eine Hausecke. Als ich die Stelle erreichte, sah ich, wie er Richtung Fluss rannte. Obwohl ich jeden Muskel nach dem anstrengenden Tag spürte, hatte ich keine Mühe, ihm zu folgen.

Nun sah ich den Mann, der Julie die Tasche entrissen hatte. Er war rund hundert Meter vor uns. Als er beim Fluss ankam, drehte er abrupt ab und spurtete wieder zum Bahnhof zurück. Vor ihm lag eine stark befahrene Strasse, die Fussgängerampel leuchtete rot. Er beachtete sie nicht, sondern rannte darauf zu. Ich stolperte beinahe, als ich sah, wie ein Fahrzeug so heftig bremste, dass es ins Schlingern geriet. Leo zögerte keinen Moment. Er folgte dem Dieb, der zwischen den Autos wesentlich langsamer vorankam. Am Strassenrand erstarrten die Fussgänger. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich eine Frau entsetzt die Hand vor den Mund hielt. Und dann hörte ich das Tram. Mit schrillem Geläute näherte es sich. Ich nahm gerade noch wahr, wie Julies Tasche gegen das blaue Metall klatschte, bevor der Fremde dahinter verschwand. Leo prallte gegen die Seite des Trams.

Ich eilte auf die Strasse.

Leo sprang auf und rieb sich die Schulter. «Nichts passiert.»

Aus dem offenen Fenster der Führerkabine ertönte lautes Fluchen. Ich legte meine Hand auf Leos Arm und wollte ihn zum Trottoir führen, doch er riss sich los, als hätte er sich an mir verbrannt. Ich wusste nicht, ob er sich ärgerte, weil der Dieb entkommen oder weil ihm sein Sturz peinlich war.

«Du hättest dich um Gjyle kümmern sollen!», warf er mir vor und stapfte davon.

Ich marschierte eingeschnappt zurück. Chris versuchte hilflos, Julie zu trösten.

«Er ist weg», sagte ich. «Er war zu schnell. War etwas Wichtiges in der Tasche?»

«A-alle Unterlagen», jammerte Julie.

«Ist das alles?», fragte ich. «Kein Geld?»

Julie schüttelte den Kopf und zeigte auf ihre Hosentasche.

«Handy?»

Julie nickte. Sie wirkte so verletzlich, dass ich meinen Arm um sie legte.

«Der Freundin meines Vaters ist das auch passiert», nuschelte Chris.

Ich war überrascht, dass er in ganzen Sätzen sprechen konnte. Julies Interesse war geweckt. Sie wollte wissen, ob man den Dieb je erwischt hatte.

Chris zuckte mit den Schultern. «Einige Monate später.»

«Immerhin», sagte Julie.

«Aber nur, weil sie Heroin in der Tasche hatte.»

«Die Freundin deines Vaters?», fragte ich. Das war spannend.

«Sie wusste es nicht.» Er verstummte, als Leo zurückkam.

Kopfschüttelnd erklärte Leo, dass er die Bahnhofshalle durchkämmt, den Dieb aber nirgends gefunden habe. Er untersuchte Julies Ellenbogen, den sie sich beim Sturz aufgeschürft hatte. Es war nur eine oberflächliche Verletzung. Trotzdem wollte Leo die Polizei einschalten.

Mich durchzuckte es wie ein Blitz. «Polizei?»

«Wir müssen Anzeige erstatten», sagte Leo.

«Das bringt sowieso nichts!», rief ich.

Alle starrten mich an.

«Die Bullen werden uns nie im Leben glauben! Eher geben sie uns die Schuld an allem», stiess ich hervor.

«Da ist was dran», murmelte Chris.

«Christophers Vater ist Polizist», erklärte Julie.

Leo schüttelte verständnislos den Kopf.

Ich merkte, wie ich zitterte. Ich musste weg. Vielleicht hatte jemand schon die Bullen gerufen. Von Weitem sah ich einen Bus. Wenn ich mich beeilte, könnte ich ihn erwischen. Ohne mich zu verabschieden, spurtete ich zur Treppe und bahnte mir einen Weg durch die Menschen. Ich erreichte den Bus, als der letzte Passagier einstieg. Sechs Haltestellen später stieg ich aus und setzte mich ins Wartehäuschen. Meine Mutter war bestimmt noch zu Hause, es war erst halb sieben. Auf ihr gequältes Gesicht hatte ich überhaupt keine Lust.

«Schlechter Tag?», fragte eine freundliche Stimme.

Ich hatte die Prostituierte gar nicht bemerkt. Mein erster Impuls war, den Kopf zu senken und so zu tun, als hätte ich nichts gehört.

«Haben wir alle ab und zu», sagte sie.

«Ich in letzter Zeit ziemlich oft», platzte es aus mir heraus. Unglaublich, jetzt sprach ich schon mit einer Prostituierten. Wenn mir das jemand vor einem Jahr gesagt hätte, hätte ich laut gelacht. Aber vor einem Jahr hätte ich auch nicht geglaubt, dass ich in diesem heruntergekommenen Stadtteil leben würde. Ich musterte die Prostituierte verstohlen.

Sie nickte langsam. «Sieht fast so aus.»

Ein BMW hielt neben uns, und das Fenster wurde heruntergelassen.

Die Prostituierte gab mir einen sanften Klaps.

Ich zuckte zusammen. Wen hatten ihre schmutzigen Hände sonst noch berührt?

«Verschwinde», sagte sie, «du bringst meine Kunden auf dumme Gedanken.»

Tatsächlich starrte der Mann im BMW mich an. Ich sprang auf, stolperte über meinen offenen Schnürsenkel und musste mich an der Prostituierten festhalten, um nicht hinzufallen.

«Ganz ruhig, Schätzchen», sagte sie.

Hastig suchte ich meinen Hausschlüssel. Ohne aufzusehen, schloss ich die Tür auf und huschte ins Treppenhaus. Zum ersten Mal störte mich der Uringeruch nicht. Oben erwartete mich meine Mutter bereits. Kaum war ich in Hörweite, begann sie, auf mich einzureden.

«Ich möchte nicht, dass du mit dieser Frau sprichst!»

Kein «Hallo Schatz, wie war dein Tag?»

«Hast du mich verstanden? Überhaupt, wie siehst du denn aus? Nur weil wir … Das alles», sie deutete auf den Raum, «ist kein Grund, so herumzulaufen!»

Ihre Stimme schmerzte mich in den Ohren. Vermutlich hatte ich genau so geklungen, als ich vorhin über die Bullen gewettert hatte. Was dachte Julie nun von mir? Sie war die Einzige in meiner Klasse, die keine dummen Sprüche über mich machte. Mich nicht «Miss Ritz» nannte. Ich wusste nicht, ob ihr der Vortrag so wichtig war oder ob der Diebstahl sie so aus der Fassung gebracht hatte, aber ich bereute es, nicht mehr Mitgefühl gezeigt zu haben. Da ich nichts zum Vortrag beigetragen hatte, konnte ich auch nicht einschätzen, wie viel Arbeit sie investiert hatte. Sogar die Notizen des heutigen Tages waren weg, denn ich hatte natürlich nichts aufgeschrieben.

«Hörst du mir überhaupt zu?», schrie meine Mutter.

Ich erschrak. Klagen war ich gewohnt, doch so schreien hatte ich meine Mutter noch nie gehört. «Ich stell mich unter die Dusche», sagte ich und war froh, als das Rauschen des kühlen Wassers alle anderen Geräusche über-tönte. Ich blieb so lange im Bad, bis ich sicher war, dass Mam zur Arbeit gefahren war. Dann startete ich meinen Laptop und schrieb alles auf, was mir zu «Staub Recycling» einfiel. Je mehr ich schrieb, desto mehr kam mir wieder in den Sinn. Sogar Julies Fragen vom Vormittag und Kaspar Staubs Antworten listete ich vollständig auf. Zum Schluss holte ich die wenigen Unterlagen hervor, die ich selbst eingepackt hatte. Zwischen den Firmenbroschüren lagen einige lose Blätter, die mir nicht bekannt vorkamen. Es waren Rechnungen. Hatte Julie die verlangt? Als Muster? Ich faltete sie und steckte sie in die Kundenbroschüre. Anschliessend suchte ich die Adressliste hervor, die ich am ersten Schultag erhalten hatte. Julies Name stand nicht darauf. Ich ging die Liste ein zweites Mal durch. Ich wusste nicht, wie Julie zum Nachnamen hiess. In Gedanken strich ich die Namen durch, denen ich ein Gesicht zuordnen konnte. Es blieb nur einer übrig: Gjyle Ramadani. Ich gab die Adresse im Internet ein und sah, dass sie ganz in der Nähe lag. Es war einen Versuch wert. Ich schlüpfte in meine Turnschuhe und machte mich auf den Weg.

Der laue Sommerabend lockte die Menschen hinaus. Ich hörte den Aufprall eines Fussballs, der Duft von gebratenen Würsten stieg mir in die Nase.

Bläuliches Licht flackerte im Fenster der Ramadanis. Plötzlich hatte ich Hemmungen zu klingeln. Was, wenn Gjyle gar nicht Julie war? Oder schlimmer: wenn Julie tatsächlich hier wohnte, mir aber die Tür vor der Nase zuknallte? Vielleicht sollte ich die Blätter einfach in den Briefkasten legen.

«Suchst du Gjyle?», fragte jemand hinter mir.

Ich drehte mich um und sah, wie Julies Vater aus seinem Taxi stieg. Er schloss die Haustür auf und bat mich herein.

«Eigentlich wollte ich Julie nur etwas geben», sagte ich und kramte die Blätter aus meiner Tasche.

Herr Ramadani bedeutete mir, ihm zu folgen. Als er eine Tür im zweiten Stock öffnete, drückte ich mich gegen die Wand. Eine Frau, die Julies Mutter sein musste, begrüsste ihn. Anhand der Gesten verstand ich, dass sie über mich sprachen.

Frau Ramadani lächelte zurückhaltend. Ich hatte plötzlich das Gefühl zu stören. Ein würziger Duft kam aus der Küche, bestimmt wollten Ramadanis gerade essen. Ein zweites Mal erklärte ich, dass ich nur etwas abgeben wollte.

«Kommen Sie, kommen Sie», sagte Frau Ramadani.

Gleichzeitig kam Julie aus der Küche. «Nicole?»

Ich streckte ihr die Blätter entgegen. «Ich muss gleich wieder gehen.»

«Was ist das?», fragte Julie.

Ich erzählte es ihr.

Julie weitete die Augen. «Du hast alles noch einmal aufgeschrieben?»

«Es war nicht viel.»

«Kommen Sie», unterbrach Frau Ramadani. Sie zeigte aufs Wohnzimmer.

Ich protestierte, aber es nützte nichts. Julie verschwand in der Küche, während Frau Ramadani mich ins Wohnzimmer führte. Ich blieb neben einer Wohnwand aus dunklem Holz stehen, mein Blick auf den abgewetzten Spannteppich gerichtet. Er sah noch schlimmer aus als der fleckige Linoleumboden bei uns in der Wohnung. Zu Hause hatten wir Parkettböden gehabt, die unsere Putzfrau jeden Monat geölt hatte.

Auf einem durchgesessenen Sofa sass Leo und schaute fern. Als er mich sah, drehte er die Lautstärke zurück.

Julie stellte mir ein Glas hin. «Was möchtest du trinken?»

«Ich gehe gleich wied‚»

Julie verschwand und kam mit Cola, Fanta und Mineralwasser zurück. Ich spürte Leos Blick auf mir und starrte interessiert auf den Fernseher. Es lief eine fremdsprachige Sendung. Meine Neugier war stärker als mein Unbehagen.

«Was schaust du?»

«Wahlen.»

«Wo?»

Leo zog die Augenbrauen hoch, als könnte er sich keine dümmere Frage vorstellen. Erwartete er etwa, dass ich Gedanken las?

«In Kosova», sagte er endlich.

«Seid ihr … Shipis?», entfuhr es mir. Julie, eine Albanerin? Darauf wäre ich nie im Leben gekommen. Zu Hause in Erlenbach gab es keine Albaner. Im Ausgang waren wir aber immer wieder welchen begegnet. Carol erkannte sie auf den ersten Blick. Meistens machten sie dumme Sprüche und spielten sich auf. Wenn man Pech hatte, zückten sie ein Messer. Carol kannte jemanden, der wegen eines Hunderters niedergestochen worden war.

Auf Leos Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck. Doch bevor er antworten konnte, rief uns Julie in die Küche. Dort war der Tisch für fünf Personen gedeckt. Julie wies mir einen Platz zu, obwohl ich versicherte, dass ich keinen Hunger hatte. Zusammen mit ihrer Mutter tischte sie das Essen auf. Gemüse, Reis und Fleisch wurden mir auf den Teller geladen.

«Wie war die Führung?», fragte Herr Ramadani auf Deutsch.

Leo erzählte, was am Abend geschehen war. Herr Ramadani legte seine Gabel hin. Seine Augen funkelten. Ich wusste nicht, ob er Leo Vorwürfe machte, oder ob es die Sorge um Julie war, die ihn wütend machte.

«Wir haben Anzeige erstattet», sagte Leo. In Gegenwart seines Vaters wirkte er plötzlich unsicher.

«Bei der Polizei?», fragte Herr Ramadani.

«Ja.»

Die Spannung war spürbar. Erst als Herr Ramadani langsam nickte, setzte das Klappern des Bestecks wieder ein. Das Gespräch wandte sich dem Recyclingbetrieb zu. Langsam löste sich meine Anspannung, und mein Appetit wuchs. Das Essen schmeckte wunderbar. Lächelnd füllte Frau Ramadani meinen Teller zum zweiten Mal.

Nach dem Essen nahm Julie mich mit in ihr Zimmer. In einer Ecke stand ein kleiner Tisch mit einer Nähmaschine, überall lagen Stoffe und Klamotten herum. Die Wände waren mit Bildern von Models in Abendgarderobe geschmückt. Fasziniert betrachtete ich eine halbfertige Bluse. Die Ärmel waren aus knallgrünem Tricot, der Rest aus weisser Baumwolle. Spitzen verzierten den steifen Kragen. Unverkennbar Julies Stil.

«Die nähe ich für eine Cousine», sagte Julie.

«Du?» Begeistert untersuchte ich die aussergewöhnlichen Knöpfe. «Wo hast du die her?»

Innert Kürze waren wir in ein Gespräch über Mode vertieft. Erst als es dämmerte, merkte ich, wie spät es war.

Julie stöhnte. «Ich muss noch für die Französischprüfung büffeln.»

«Brauchst du Hilfe?»

Julie schüttelte den Kopf. «Ich kann die Wörter noch nicht. Da hilft nur auswendig lernen.» Sie seufzte theatralisch. «Ich brauche gute Vornoten für die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium im Frühjahr.»

«Warum machst du die Prüfung in der Neunten? Bist du letztes Jahr durchgefallen?»

«Nein. Mir war einfach nicht danach.»

Sie öffnete die Zimmertür. Herr Ramadani sah von seiner Zeitung auf und sagte etwas zu Leo, der neben ihm sass und Matheaufgaben löste. Augenblicklich legte Leo seinen Stift hin und stand auf. Er begleitete mich zur Tür. Nachdem ich mich verabschiedet hatte, folgte er mir die Treppe hinunter nach draussen. Als er den gleichen Weg einschlug wie ich, blieb ich stehen.

«Folgst du mir?», wollte ich wissen.

«Ich bringe dich nach Hause.»

«Was? Ich finde den Weg alleine.»

Leo vergrub die Hände in seinen Hosentaschen und starrte an mir vorbei.

«Ich brauche keine Begleitung!»

Leo sagte nichts.

«Leo!»

«Leotrim», korrigierte er.

«Leotrim», sagte ich und betonte wie Julie die letzte Silbe, «ich will nicht, dass du mich nach Hause bringst.»

«Du solltest nicht alleine unterwegs sein.»

«Wie bitte?» Empört hob ich mein Kinn.

Leo tat, als höre er die Aufgebrachtheit in meiner Stimme nicht.

«Ich brauche niemanden, der mich beschützt! Ich komme ganz gut alleine zurecht.»

«Mann, du hast gesehen, was Gjyle heute passiert ist!»

«Du warst ihr keine grosse Hilfe.»

Leo kniff die Augen zusammen.

«Du wärst fast vom Tram überfahren worden», spottete ich.

Leo ballte die Hände zu Fäusten, sagte aber nichts. Mir wurde klar, dass ich ihn so nicht los würde. Das wollte ich aber. Wenn er mich bis nach Hause begleitete, würde er sehen, wo ich wohnte. Auf keinen Fall durfte er die Bruchbude zu Gesicht bekommen. Fieberhaft überlegte ich, wie ich das verhindern konnte.

«Wir sind hier in der Schweiz, nicht im Balkan», sagte ich verächtlich. «Bei uns haben Frauen Rechte. Wenn dir das nicht passt, geh dorthin zurück, wo du hingehörst.»

Er blieb wie geohrfeigt stehen. Ich nutzte die Gelegenheit und rannte davon. Ich schaute nicht über die Schulter, um zu sehen, ob er mir folgte. Als ich aber kurz darauf zu Hause ankam, war er nicht hinter mir. Rasch schlüpfte ich ins Haus.

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