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dads brief

Als ich den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, merkte ich, dass die Wohnungstür nur angelehnt war. Vorsichtig tastete ich nach dem Lichtschalter. Was ich sah, raubte mir fast den Atem. Auf dem Boden lagen Schuhe, Jacken und Taschen. In der Küche stand jede Schublade offen. Am schlimmsten sah aber mein Zimmer aus. Nichts war mehr an seinem Platz. Meine Bücher waren auf dem Boden verstreut, meine Kleider ein einziges Durcheinander. Ich sah etwas zwischen meiner Wäsche aufblitzen, und meine Beine wurden weich wie Gummi. Behutsam hob ich einen Ohrring auf. Ich starrte auf die schimmernde Perle. Dann begann ich hektisch, nach dem zweiten zu suchen. Ich schob Hosen, Strümpfe und einen Bikini beiseite. Endlich entdeckte ich unter einem Top den anderen Ohrring. Den Schmuck hatte mir Dad zum Geburtstag geschenkt.

Ich sass auf dem Boden und musterte das Chaos. Als mein Blick auf meinen Laptop fiel, hielt ich die Luft an. Erst jetzt wurde mir klar: Dem Einbrecher war es nicht darum gegangen, Wertsachen zu stehlen. Was dann?

Oder hatte ich ihn gestört, bevor er seine Beute einpacken konnte? Vielleicht versteckte er sich sogar noch in der Wohnung! Im Nu war ich auf den Beinen. Mein Blick jagte durchs Zimmer. Die Bullen zu rufen, kam nicht in Frage. Dafür war mir meine letzte Begegnung mit ihnen noch zu präsent. Wie ein Schwarm Fliegen hatten sie sich in unserem Haus ausgebreitet. Jeden Zentimeter hatten sie untersucht, sogar mein Zimmer. Ein grässlicher Typ hatte in meinem Kleiderschrank gewühlt und meine Schubladen durchstöbert. «Ich würde schon einmal mit Packen beginnen», riet er. «Dein Leben an der Goldküste ist endgültig vorbei.» Da hatte ich begriffen, dass wir von den Bullen keine Hilfe erwarten konnten.

Doch an wen sollte ich mich sonst wenden? Ich fühlte mich total hilflos. Wenn ich Unterstützung gebraucht hatte, war Dad immer für mich da gewesen. Auf die Idee, meine Mutter anzurufen, kam ich gar nicht erst.

Ich würde die Wohnung alleine durchsuchen müssen. Zum ersten Mal war ich froh, dass sie so klein war. Die zwei Zimmer boten einem Einbrecher nicht viele Verstecke. Mit pochendem Herzen schlich ich in Mams Zimmer und knipste das Licht an. Ich atmete kaum, während ich Schranktüren öffnete, unter das Messingbett spähte und hinter die Tür schaute. Nichts. Auch in der Dusche versteckte sich niemand. Zitternd vor Erleichterung schloss ich die Wohnungstür ab. Zum Glück funktionierte das Schloss noch. Vermutlich war es so billig, dass ein Draht genügt hatte, es zu knacken. So machten sie es in den Filmen immer. In Erlenbach hatten wir eine Alarmanlage gehabt.

Völlig erledigt setzte ich mich in die Küche. Auf dem Herd stand eine Pfanne Risotto. Ich starrte mein im Chromstahl verzerrtes Spiegelbild an. Warum hatte der Einbrecher alle Wertsachen zurückgelassen? Wollte er mich nur erschrecken? Wer hatte etwas gegen mich? Mein erster Gedanke war Leo, aber er konnte es unmöglich gewesen sein. Dann kam mir Ali in den Sinn. War er wütend, weil ich ihn vor seinen Kollegen umgestossen hatte? Auch Zara, das Mädchen mit dem Piercing, konnte mich nicht leiden. Eigentlich mag mich gar niemand, dachte ich. Hier nicht, und zu Hause auch nicht mehr. Ich legte den Kopf auf den Tisch. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst.

Aber für Selbstmitleid hatte ich keine Zeit. Wenn Mam das Durcheinander sah, würde sie sofort die Bullen rufen. Ich musste aufräumen. Mit einem Seufzer stand ich auf.

Die Jacken und Schuhe waren schnell eingeräumt, in der Küche war der Schaden auch gering. Im Schlafzimmer meiner Mutter hatte der Einbrecher aber alle Kleidungsstücke herausgerissen. Ich faltete Hosen, rollte Strümpfe zusammen und hängte Abendkleider in den Schrank. Ob Mam sie je wieder tragen würde? Meine Finger strichen über ein Trägerkleid aus schwarzer Seide.

In Gedanken versunken hob ich ein Buch auf, das halb unter dem Bett lag. Ein Umschlag fiel heraus. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben und erstarrte. Das war die Handschrift meines Vaters. Mir wurde schwindlig. Der Brief war an mich adressiert! Verwirrt öffnete ich den Umschlag. Das oberste Blatt war mit 14. August datiert. Dad wünschte mir alles Gute zum Schulanfang. Er drückte mir die Daumen und hoffte, dass ich bald Freunde fände. Dann erzählte er von einem Buch, das er soeben gelesen hatte. Es handelte von einem Aussteiger, der alleine um die Welt gesegelt und dabei zweimal fast ums Leben gekommen war. Er schloss mit den Worten «Wir halten mehr aus, als wir glauben.»

Erst als ich meine Zähne klappern hörte, merkte ich, wie stark ich zitterte. Warum hatte meine Mutter den Brief versteckt? Gab es womöglich mehrere? Fieberhaft begann ich zu suchen. Bald sah das Zimmer wieder aus wie nach dem Einbruch. Ich fand nichts. Frustriert gab ich auf. Den Brief vom 14. August legte ich zurück ins Buch, obwohl ich ihn am liebsten an mich genommen hätte. Bevor ich meine Mutter aber darauf ansprach, musste ich wissen, was hier gespielt wurde. Warum hatte sie ihn mir nicht gegeben? Mir gegenüber hatte sie behauptet, Kontakt zu Dad sei nicht möglich. Ich musste unbedingt zurückschreiben! Doch wie? Ich hatte keine Adresse!

Als Mam um zwei Uhr früh nach Hause kam, lag ich im Bett und stellte mich schlafend. Der Wohnung sah man nichts mehr vom Einbruch an. Ich hörte, wie Mam den Risotto in den Kühlschrank stellte und sich die Zähne putzte. Dann wurde es still. Schlafen konnte ich trotzdem nicht. In Gedanken ging ich jede Zeile des Briefes nochmals durch und nahm mir vor, mir das erwähnte Buch gleich am nächsten Tag zu besorgen. Bei der Vorstellung, die gleiche Geschichte zu lesen wie Dad, wurde mir ganz warm. Es war fast so, als wäre er wieder da.

Um sechs Uhr riss mich der Wecker aus einem unruhigen Schlaf. Benommen stolperte ich in die Dusche. Nicht einmal das lauwarme Wasser vertrieb den Schleier, der mich umgab. Auf dem Weg zur Schule steckte ich mir die Stöpsel meines Smartphones in die Ohren. Nicht nur wegen der Musik, sondern auch, damit ich mir die «Miss Ritz»-Rufe nicht anhören musste. Erst als Julie mir zuwinkte, schaltete ich die Musik aus. Zwei Mädchen aus unserer Klasse berichteten, was wir am Vortag verpasst hatten. Sheila, lang und dünn wie eine Birke, beäugte mich misstrauisch, als ich mich zu ihnen gesellte. Ihre Freundin Wanda fasste die Chemielektion zusammen.

«Du schaffst sowieso eine Sechs», brummte Wanda.

«Nicht ohne zu lernen», widersprach Julie.

«Das nenne ich nicht lernen», sagte Sheila. «Du wirfst einen Blick drauf, und schon hast du alles gespeichert. Während ich büffle und büffle.»

«Dafür hast du schon eine Lehrstelle gefunden», sagte Julie.

«Als Erste und Einzige», doppelte Wanda nach. «He, habt ihr Lust, nach der Schule shoppen zu gehen? Ich brauche dringend Klamotten, ich hab nichts mehr zum Anziehen.»

Sheila hörte nicht mehr zu. Sie schob eine Hüfte vor und warf ihr Haar zurück. Als ich mich umdrehte, sah ich, warum. Ali schlenderte mit einem Kollegen aus der Parallelklasse vorbei. Ich hatte schon gehofft, dass er die Szene am Freitag vergessen hatte, als er plötzlich einen Schritt auf mich zumachte.

«Miss Ritz sieht heute etwas müde aus», sagte er. «Eine lange Nacht gehabt? Bei uns in Marokko gibt es einen Namen für Mädchen wie dich.»

Grossartig. Jetzt war er total durchgeknallt.

Sheila kniff die Augen zusammen.

Rasch sagte Julie: «Nicole war gestern Abend bei mir!»

Plötzlich verstand ich, was Ali andeutete: dass ich die Nacht bei ihm verbracht hätte! Wie eklig!

Sheila wusste offensichtlich nicht, wem sie glauben sollte, entschied sich dann aber, Ali zu ignorieren.

Ich schaute ihm nach. War das lediglich ein Versuch gewesen, meinen Ruf zu ruinieren, oder wusste er tatsächlich, dass ich wenig geschlafen hatte? Vor allem: wusste er, warum? Weil er der Einbrecher war? Ich hatte keine Gelegenheit mehr, mir darüber Gedanken zu machen. Die Schulglocke klingelte, und bis zum Mittag war ich damit beschäftigt, Friedlichs Fragen über Staatsformen zu beantworten. Meine Schonfrist war zu Ende, jetzt wollte der Lehrer wissen, was ich auf dem Gymnasium gelernt hatte.

Nach der Schule schlenderte Julie mit Wanda und Sheila davon, ohne mich zu fragen, ob ich auch mit wollte. Unter anderen Umständen hätte ich mich ausgeschlossen gefühlt, heute war ich jedoch froh. Ich konnte an nichts anderes denken als an den Brief meines Vaters. Dass meine Mutter ihn absichtlich versteckt hatte, trieb mich fast in den Wahnsinn. Ich wollte aber Gewissheit, bevor ich sie ansprach. Wenn sie das wirklich getan hatte, würde sie eh nur Lügen auftischen. Besser, sie wusste nicht, dass ich im Bild war. So konnte ich Nachforschungen anstellen, ohne ihr Misstrauen zu wecken.

Vielleicht durfte mir Dad nicht schreiben, und Mam versteckte den Brief, um ihm Ärger zu ersparen. Ich musste ihn fragen. Wie sollte ich seine Adresse herausfinden, ohne mich an die Behörden oder die Bullen zu wenden? Ich grübelte während des ganzen Nachhausewegs, kam aber nicht weiter.

Zu Hause stellte ich meine Schulsachen ins Zimmer und spähte in den Kühlschrank. Gähnende Leere. Mam schlief. Offenbar hatte sie nichts vom Einbruch bemerkt.

Auf einmal kam mir eine Idee. Ich könnte die Nachbarn fragen, ob sie etwas gehört hatten. Ganz unauffällig natürlich. Ich würde unter dem Vorwand klingeln, dass ich mich vorstellen wollte.

Ich begann im obersten Stock. Der einzige, der zur Tür kam, war ein alter Mann, der mich verständnislos anstarrte. Aus seinen Ohren sprossen Haarbüschel. Ich rannte die Treppe hinunter, zurück in den ersten Stock. Auf dem Türschild neben unserer Wohnung stand D. Drakovic, doch auch dort öffnete niemand. Es blieb nur noch die Wohnung mit der schrecklichen Akkordeon-Musik.

Eine alte Frau kam zur Tür. Ihr schneeweisses Haar war zu einem Knoten zusammengebunden. Aus dem faltigen Gesicht blickten mich zwei wache Augen an. Sie bat mich mit einer eleganten Handbewegung herein und stellte sich mit Marta Kryslowa vor.

«Darf ich dir eine Tasse Tee anbieten?», fragte sie.

Ich hasste Tee, ausser wenn er kalt und stark gesüsst war, sagte aber ja. Marta Kryslowa führte mich in ein schäbiges Zimmer mit Biedermeier-Möbeln. Ich erkannte den Stil sofort, bei Carol zu Hause sah es genau gleich aus. Ihre Mutter hatte uns immer eingeschärft, keine Kratzer zu machen oder Flecken zu hinterlassen. Manchmal dachte ich, dass sie sich mehr um die antiken Möbel sorgte als um Carol.

Doch jetzt waren es weder der gediegene Sekretär noch das unpassende Bettsofa in der Ecke, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Mein Blick blieb an den Fotos hängen, die das Zimmer schmückten. Darauf war eine junge Tänzerin in verschiedenen Positionen zu sehen. Das grösste Foto zeigte sie in den Armen des weltberühmten Tänzers Rudolf Nurejew.

«Das war ‹Giselle› am königlichen Ballett in London. Ich war damals erst 22», flüsterte Marta Kryslowa neben mir.

Ich sah Marta Kryslowa ungläubig an. «Das sind … Sie?»

Die alte Frau lächelte. «Ballett war mein Leben.»

«Sie haben mit Nurejew getanzt?» Ich war so hingerissen, dass ich vergass, weshalb ich gekommen war.

«Willst du dich nicht setzen?»

Wie in Trance liess ich mich aufs Sofa sinken, ohne den Blick vom Foto abzuwenden. Ich hörte, wie Marta Kryslowa Tee einschenkte. Langsam begann die alte Frau zu erzählen. Von der Ballettschule, die sie in Prag besucht hatte, bis zum Tag, als sie Rudolf Nurejew am internationalen Jugendfestival in Wien kennengelernt hatte. Ich hörte gebannt zu, zum ersten Mal seit Monaten vergass ich alles um mich herum. Mehr noch, mein eigenes Leben erschien mir plötzlich unwichtig.

«Und jetzt zeig mir, was du kannst», sagte Marta Kryslowa.

«Was ich … Sie meinen …»

«Ich sehe doch, dass du tanzt. Los, komm mit.»

Sie stand auf und verliess das Wohnzimmer. Als sie die Tür zum Nebenraum aufstiess, glaubte ich, sie wolle mir ihr Schlafzimmer zeigen. Doch das Zimmer war leer bis auf einen riesigen Spiegel und eine Stange an der Wand. Ein Tanzsaal! Der vertraute Anblick verursachte mir Gänsehaut.

Sie bemerkte mein Erstaunen. «Wozu brauche ich ein separates Zimmer, um zu schlafen?»

Das erklärte das Bettsofa im Wohnzimmer.

Marta Kryslowa klatschte in die Hände, um den Takt vorzugeben.

Ich schüttelte den Kopf. «Ich tanze nicht me…»

«Keine Ausreden!» Die nette alte Frau war verschwunden. «Erste Position!»

Folgsam stellte ich mich Ferse an Ferse mitten in den Raum. Ich fühlte mich ungelenk und schwer. So ausser Form war ich seit meiner Bänderzerrung vor vier Jahren nicht mehr gewesen.

«Und Plié!», befahl Marta Kryslowa. «Atmen, öffnen, Plié. Eins, zwei, drei, vier, Achse behalten. Atmen, fünf, sechs.» Sie schnippte mit den Fingern. «Gewicht vorne behalten, und drei, vier, Attitude, hoch! Steh! Penché, sechs, sieben, schliessen! Nochmals, Tendu und hoch! Wenn du im Tendu bist, gehst du schön ins Attitude sur pied. Allonger und Plié in die vierte Position. Pirouette, Pirouette! Steh! Beim neuen eins bist du schon dort! Kopf! Kopf!»

Mir lief der Schweiss schon nach zehn Minuten hinunter. Wie hatte ich es bloss so weit kommen lassen können? Früher hatte ich mühelos zwei Stunden trainiert. Irgendwann verstummte Marta Kryslowa und schaute nur noch schweigend zu, wie ich mich durch die Positionen quälte.

Nach einer halben Stunde klatschte sie in die Hände. «Genug!»

Ich senkte den Kopf.

Wortlos ging sie ins Wohnzimmer. «Du kannst dich setzen.» Sie wartete, bis ich meinen Tee ausgetrunken hatte. «Lass es nie wieder so weit kommen.»

«Ich musste aufhö‚»

«Es gibt nicht einen einzigen Grund, deine Begabung so mit Füssen zu treten! Sie ist ein Geschenk, und dafür hast du dankbar zu sein.»

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum.

«Um zu üben, brauchst du keine Ballettschule. Wenn du dafür nicht die nötige Disziplin aufbringst, ist es alleine deine Schuld.»

Ich nickte.

«Ich kann dich zweimal die Woche unterrichten. Mehr liegt nicht drin. Ich bin nicht mehr die Jüngste.»

«Ich habe … kein Geld», flüsterte ich.

«Ich brauche jemanden, der bei mir putzt und mir mit den Einkäufen hilft. Meine Gelenke», sagte sie und deutete auf ihre Ellenbogen und Knie.

Ich zögerte keine Sekunde. Zwar wusste ich kaum, wie ein Staubsauger funktionierte, aber ich schwor mir, dass ich es lernen würde. Ich hätte den Boden mit der Zahnbürste gefegt, um bei Marta Kryslowa Unterricht zu nehmen. Ich hatte geglaubt, das Tanzen gehöre der Vergangenheit an, wie alles andere auch. Und jetzt bot sich mir diese unglaubliche Möglichkeit.

Sie reichte mir einen Einkaufszettel und Bargeld. Dann befahl sie mir, ihr am nächsten Tag die Lebensmittel mitzubringen, wenn ich zum Unterricht erschien.

«Um 17 Uhr. Am Nachmittag lege ich mich hin.»

Wieder nickte ich. Erst als ich in der Tür stand, fand ich meine Stimme wieder. Ich fragte Marta Kryslowa, ob sie am vergangenen Abend etwas gehört habe.

«Ausnahmsweise nicht», sagte sie mit zusammengekniffenen Lippen.

Das war eine Anspielung auf meine laute Musik. «Ich meine … als ob jemand etwas fallengelassen hätte.»

Marta Kryslowa dachte nach. «Kurz nach der Tagesschau fiel mir auf, dass es bei dir wild zu und her ging. Ich nahm an, dass du Besuch hattest.»

Das musste gegen zwanzig Uhr gewesen sein. Gleich nachdem ich gegangen war. Ich bedankte mich und kehrte in unsere Wohnung zurück. Mam war zum Glück bereits weg. Ich konnte ihr nicht in die Augen schauen. Das Gefühl, verraten worden zu sein, quälte mich zu sehr. Gleichzeitig durchströmte mich aber nach dem Tanzen eine unerklärliche Zuversicht.

In meinem Zimmer öffnete ich das Fenster und lehnte mich hinaus. Die Prostituierte war wieder da. Ich schlug mir an die Stirn. Wenn jemand etwas gesehen hatte, dann sie! Ich überwand mein Unbehagen und trabte nach unten.

«Heute scheint es besser zu laufen», sagte sie zur Begrüssung.

«Das kann man wohl sagen. Übrigens, ich bin Nicole.»

«Carla.» Beim Lachen entblösste sie eine Reihe strahlend weisser Zähne.

Ich fragte sie nach dem Vorabend.

«Ja, da war tatsächlich jemand», sagte Carla. «Ein junger Mann schlich ums Haus. Er versuchte, möglichst unauffällig zu sein, doch mir konnte er nichts vormachen. Ich weiss, wie Männer aussehen, wenn sie etwas im Schilde führen.»

«Wie sah er aus?»

Carla schnitt eine Grimasse. «Du fragst Sachen, Schätzchen. Wenn er mich angesprochen hätte, hätte ich mir sein Gesicht gemerkt. In meinem Job weiss man schliesslich nie … aber er hatte kein Interesse.»

Ich dachte an Ali. «Hatte er dunkle, krause Haare?»

«Nein, seine Haare waren glatt, da bin ich mir sicher. Und braun.»

«Trug er tief sitzende Jeans?»

Wieder schüttelte Carla den Kopf. «Dafür war er zu alt.»

«Wie alt?»

«Schwer zu sagen. Um die dreissig vielleicht? Etwas älter?»

An mehr konnte sich Carla nicht erinnern. Ein Audifahrer liess die Scheibe hinunter, und sie verscheuchte mich. Kurz darauf fuhr sie davon. Ich schlenderte zur Haustür und steckte den Schlüssel ins Schloss. Mitten in der Drehung hielt ich inne. Ein absurder Gedanke schoss mir durch den Kopf. «Nein», murmelte ich wie eine Verwirrte vor mich hin, «das ist nicht möglich.» Und wenn doch? Ich schüttelte den Kopf. Doch der Gedanke liess mich nicht los. Ich musste mit Julie reden.

Ich schlug den gleichen Weg ein wie am Vorabend. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich überrascht aufsah, als ich mich vor Julies Wohnhaus wiederfand. Diesmal drückte ich, ohne zu zögern, auf die Klingel. Frau Ramadani öffnete. Wieder lächelte sie zurückhaltend, doch sie bat mich sofort hinein. Sie erklärte, dass Julie jeden Moment da sein würde, und deutete aufs Wohnzimmer, aus dem Musik erklang. Leo! Mir wurde gleichzeitig warm und kalt. Ihn hatte ich ganz vergessen. Vor allem, dass ich ihn gestern beleidigt hatte.

Er lümmelte auf dem Sofa herum, vor sich einen Laptop. Als er mich sah, bebten seine Nasenflügel. Er servierte mir kommentarlos ein Glas Cola, nachdem seine Mutter ihn dazu aufgefordert hatte. Ich spürte Frau Ramadanis unsicheren Blick und räusperte mich. «Schöne Musik», sagte ich.

Leo tat, als hörte er mich nicht.

«Wie heisst der Sänger?», fuhr ich unbeirrt fort.

«Sinan Hoxha.» Er schien nur seiner Mutter zuliebe zu reden.

«CD?»

«YouTube.»

Wir verfielen in Schweigen, bis Frau Ramadani etwas auf Albanisch sagte. Aus ihrem Tonfall schloss ich, dass sie Leo schalt. Daraufhin drehte er den Laptop so, dass ich einen Sänger mit Sonnenbrille erkennen konnte, der mit einer dunkelhaarigen Schönheit tanzte.

«Ich stelle eine CD für Chris zusammen», presste Leo hervor. Plötzlich schien er auf eine Idee zu kommen. «Irgendetwas klappt mit dieser Datei nicht. Verstehst du etwas von Computern?»

Ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich war ich ein hoffnungsloser Fall, wenn es um Computer ging. Aber vielleicht wusste Leo noch weniger als ich. Arbeiteten Albaner nicht meistens auf dem Bau?

Er schob mir die Maus hin. Er war so nah, dass ich die Rundungen seiner Muskeln unter dem weissen T-Shirt erkannte. Ich fragte mich, ob er sich die Brusthaare rasierte. Vielleicht hatte er noch gar keine. Jerôme war immerhin schon 21.

In Leos olivefarbenen Augen lag ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Fast, als würde er mich herausfordern.

«In welchem Laufwerk befindet sich die CD?», fragte ich.

Leo fläzte sich ins Kissen. «Keine Ahnung.»

Ich begann, die Laufwerke abzusuchen.

«Nicole! Was machst du denn hier?», rief Julie von der Tür aus.

Erleichterung durchströmte mich. «Julie!» Ich stand auf. «Ich muss dich unbedingt etwas fragen.»

«Ich hoffe, es hat nichts mit Französisch zu tun. Da bin ich eindeutig die Falsche! Aber wenn du etwas über Mathe wissen möchtest … Komm mit!» Sie machte eine Handbewegung zu ihrem Zimmer.

«Und was ist mit der CD?», rief Leo.

«Welche CD?», fragte Julie.

«Nicole wollte mir helfen, eine CD zu brennen.»

Julie verdrehte die Augen und führte mich in ihr Zimmer. «Manchmal hat er einen Knall.»

«Ich verstehe nicht viel von Computern.»

Julie sah mich an, als hätte ich etwas Komisches gesagt.

«Was ist?»

«Leo ist Informatiker. Zwar erst im ersten Lehrjahr, aber es gibt nichts, das er nicht schafft an einem Computer.»

Mein Mund klappte auf, doch ich blieb stumm. Bevor ich die Zimmertür hinter mir zuzog, blickte ich über die Schulter. Leo grinste hämisch. Idiot, dachte ich. Ist das seine Vorstellung von Spass, oder zahlt er mir meinen Spruch über Albaner heim?

Julie liess sich aufs Bett fallen. «Was wolltest du mich fragen?»

Ich erzählte ihr vom Einbruch und von meinem Verdacht, er könnte etwas mit dem Diebstahl ihrer Tasche zu tun haben. «Das kann nicht Zufall sein! Beides geschah am gleichen Tag. Und mitgenommen hat der Einbrecher nichts. Er muss etwas gesucht haben.»

«Was denn?», fragte Julie verdattert.

«Keine Ahnung. Offenbar hat er es nicht in deiner Tasche gefunden, sonst wäre er nicht bei mir eingebrochen.»

«Aber es fehlte nichts bei dir.»

Ich breitete die Arme aus, genauso ratlos wie Julie.

«Warst du bei der Polizei?», fragte Julie.

«Nein! Und da geh ich auch nicht hin.»

Julie neigte den Kopf zur Seite. «Was hast du gegen …»

«Versprich mir, dass du niemandem vom Einbruch erzählst!»

Julie wand sich.

«Julie! Versprich es mir!»

«Na gut. Aber ich sehe nicht ein, war…»

«Die Bullen werden nichts unternehmen. Glaub mir, ich kenne mich aus. Wir kriegen nur Ärger.»

Julie schwieg. Vor dem Haus wurde eine Autotür zugeschlagen, kurz darauf hörte ich, wie Frau Ramadani ihren Mann begrüsste.

Ich fragte Julie, ob sie am Mittwochnachmittag schon etwas vorhatte. Als sie verneinte, beschlossen wir, mit dem Vortrag zu beginnen. Wenn der Diebstahl und der Einbruch etwas mit «Staub Recycling» zu tun hatte, kämen wir so vielleicht weiter.

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