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Kapitel 1: Aufbruch
ОглавлениеPetra Kuenkel
Mona
Als Global Citizen hat Mona - eine erfolgreiche Top-Managerin in ihren Vierzigern in einem deutschen Automobilkonzern - alle ihre Karriereziele erreicht. Sie lebt ihre wilde Seite in Berlin, ihre strategische in Stuttgart und ist verliebt in Chris, einen charismatischen Kanadier auf Weltreise, der seinen hochdotierten Posten in einem pharmazeutischen Konzern aufgegeben hat. Aber an dem Tag, als Chris ihr eröffnet, dass er sie verlässt, um nach Afrika zu gehen, ändert sich alles. Warum erhält sie eine unerwartete Einladung nach Indien? Was hat es mit dem vergilbten Manuskript auf sich, das Chris bei ihr liegen lässt? Beim Versuch das Rätsel zu lösen, gerät sie tiefer und tiefer in einen Strudel von Ereignissen, die ihr Leben umkrempeln. Ihr Verdacht bestätigt sich: Chris hat bei dem, was ihr passiert, die Hände im Spiel, und dass sie ihn immer mehr vermisst, ist ihr gar nicht recht.
Cover design: Petra Künkel
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1
„Wann geht dein Flugzeug?” fragte ich, ohne Chris anzusehen.
Er zögerte mit der Antwort.
„Am Montag. Erst Brüssel. Dann Direktflug nach Kinshasa.“
Der Name dieser Stadt mitten in Afrika ließ mein Herz schneller schlagen. Hatte ich Angst oder ärgerte ich mich über die ruhige Gewissheit, mit der er sprach? Ich erschrak über seinen starren Blick.
„Wie lange wirst du bleiben?”
Seine Augen wurden wieder weich. So kannte ich ihn. Er lächelte sanft.
„Vielleicht für ein Jahr, vielleicht für immer. Ich weiß es nicht.“
„Was willst du damit sagen?“
Mein Puls beruhigte sich nicht.
„Es war ein Scherz“, wich er aus und warf den Kopf in den Nacken. „Ich will nicht planen. Es gibt keine Zeitbegrenzung.“
Unter dem Tisch schob ich die Finger ineinander, um wenigstens irgendetwas festzuhalten. Nervös ließ ich den Blick durch das Café streifen. Die Lautstärke beunruhigte mich wie ein störender Einfluss in einer Situation, in der ich mich konzentrieren musste. Warum hatte mich Chris ausgerechnet in dieses Café eingeladen, in das ich nie einen Fuß hineingesetzt hätte. Am Tresen blätterte eine junge Frau in einer beigefarbenen Pluderhose in einer Tageszeitung. Sie blickte nur gelegentlich auf, um sich mit der Bedienung unangenehm laut auf Französisch zu unterhalten. Ein älteres Pärchen umarmte sich auf einer Bank am Fenster, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt. Am Nebentisch unterhielten sich zwei Paare mit einem unüberhörbar amerikanischen Akzent über ihren letzten Urlaub in Afrika. Afrika! Der Kontinent, aus dem mein Vater stammte. Er hatte mir die milchbraune Haut und das wilde, dunkle Haar mitgegeben, das ich gerne zu einem Zopf nach hinten zähmte. „Lass es doch offen“, hatte Chris einmal gesagt, „das passt viel besser zu dir!“ Dann hatte er mich geküsst. Wie lange war das her?
Seit Tagen lag der Himmel schwer und grau über den Dächern von Berlin. Es regnete in Strömen. Ein letzter Herbststurm hatte die Äste der Bäume bloßgelegt und mich daran erinnert, dass nichts bleibt. Die Stadtreinigung mühte sich vergeblich ab, die fallenden Blätter von den Gehwegen zu fegen. Das Leben war von den Bürgersteigen in die vielen kleinen Cafés gewichen. Chris hatte mich gebeten, ins Café „Five Elephants“ in Kreuzberg zu kommen. Vergilbte Kolonialkarten hingen an den Wänden.
Es tat weh, ihn in diesem beiläufigen Tonfall von Abschied reden zu hören. Aber es war nicht meine Art mir anmerken zu lassen, dass es mich verletzte. Keine Tränen, hatte ich mir vorgenommen. Im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand des Cafés sah ich, wie er den Blick in einem Anflug von Unsicherheit senkte. Wie in Zeitlupe rührte er mit dem Löffel in seinem schwarzen Kaffee. Ein großer, gut aussehender Mann, der mich vor Monaten charmant auf einer Konferenz zu Zukunftstrends im Management angesprochen hatte. Strahlende Augen, graue Haare, die keinen Widerspruch zu seinen jungenhaften Gesichtszügen bildeten. Wie oft war ich ihm mit den Fingern zärtlich über den Kopf gestrichen, während er mit geschlossenen Augen träumte. Wenn er sie öffnete, hatte sein Blick etwas Schelmenhaftes, als wüsste er Dinge, die andere nicht wissen. Oder zumindest ich nicht. Ich hätte unbeschreibliche Augen, hatte er mir einmal gesagt. Voller Wärme, als könnten alle Fragen dieser Welt gestellt werden, als wäre alles möglich. Dazu die Souveränität einer Frau, die es gewohnt sei, Aufgaben zu verteilen, keine Fragen zu akzeptieren, sondern nur Lösungen zu verlangen. Diese Gleichzeitigkeit würde nicht zusammenpassen, gefiele ihm aber.
Ich konnte es nicht leiden, wenn ich keinen Einfluss auf eine Situation hatte. Außerdem ertrug ich Ungewissheit schlecht. In meinem Drang nach Planbarkeit war ich sehr deutsch, obwohl man mir den Vater aus Ghana ansah. Chris hatte eine Stelle bei einer kanadischen Entwicklungsorganisation in der Demokratischen Republik Kongo angenommen, ohne mich in seine Pläne einzuweihen. Ich wollte das nicht begreifen.
„Warum hast du dir ausgerechnet das schwierigste Land in Afrika ausgesucht? Es gibt doch Einfachere!“
Er sah mich so unbeweglich an wie noch vor einigen Minuten.
„Weil das Stellenangebot nun mal dort ist.“
Seine Stimme klang hart, als müsste er sich rechtfertigen. Ich erinnerte ich mich an den Titel eines Buches über den Kongo, das meine Tochter mir vor Jahren geschenkt hatte. Pflichtbewusst hatte ich es gelesen.
„Herz der Finsternis“, sagte ich und sah ihn herausfordernd an.
„Was meinst du?“ Er zog eine Augenbraue hoch.
„Kennst Du nicht das Buch ‚Herz der Finsternis’ von Joseph Conrad? Es spielt im Kongo.“
„Nein, kenne ich nicht.“
Ich war gut darin, mir Zitate zu merken, wenn nötig sogar mit Seitenzahl.
„’Sie alle warteten auf etwas, das nie kommen würde’“, zitierte ich theatralisch und setzte nach einer Pause fort: „’Und ich bleibe, um den Albtraum zu Ende zu träumen’.“
Ich fand, das passte. Er rutschte zur Seite.
„Ich will mich nicht von europäischen Vorurteilen über den Kongo beeinflussen lassen.“
„Blödsinn“, konterte ich, „es ist ein Buch aus der Kolonialzeit. Es kommt darauf an, wie man es liest. Joseph Conrad wollte wahrscheinlich mehr über die europäische Angst vor Afrika aussagen als über den Kongo. Meine Tochter meint, die Entwicklungshilfe sei nur die Fortsetzung der Kolonialzeit mit anderen Mitteln. Bist du dir sicher, dass du es anders machen wirst?“
„Ich bin mir sicher, Mona.“
Jetzt ließ Chris seinen Blick durch das Café schweifen, als suchte er etwas. Ich fragte mich, ob ihm die Kolonialkarten an den Wänden auffielen, oder ob ich ihn nur zu hart getroffen hatte. Wer weiß, welche Gründe es für seine Entscheidung gab. Ich würde heute Abend keine Erklärungen aus ihm herausbekommen.
In dem Moment vibrierte mein iPhone. Ich griff in die Handtasche und suchte eine Weile. Mein Sohn Micha hatte eine Nachricht geschickt. Er war seit zwei Monaten im Schüleraustausch in Vancouver.
„Und?“, fragte Chris, obwohl ich nichts gesagt hatte, „was schreibt er?“
„Ich glaube, es soll heißen, dass er mit Freunden paddelt! Im November? Bei den vielen Abkürzungen kann man das kaum lesen. Eigentlich müsste bei ihm doch noch gestern sein.“
„Vancouver sind neun Stunden Zeitdifferenz“, warf Chris ein. Wieder diese Stimme voller Gewissheit. Als müsste er mir die Welt erklären. Ich hasste es, wenn Männer das taten. Und dennoch würde ich die Anteilnahme an den Alltäglichkeiten vermissen, genauso wie ich mich fast danach sehnte, mit meinem Sohn wieder über die nicht gemachten Schularbeiten zu streiten. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, dass Chris mir beim Kochen über die Schulter gesehen hatte, nachdem ich eine SMS an meinen Sohn geschickt hatte, um zu fragen, wie es in der Schule läuft. Leise, fast zärtlich hatte er mir ins Ohr geflüstert: „Lass ihn einfach mal. Er braucht Abstand.“ Als ich ihn verärgert ansah, hatte er hinzugefügt, Micha müsse sich selbst finden – alleine erwachsen werden. Brauchte auch Chris Abstand von mir? Musste er sich selbst finden?
„Ich muss los“, sagte ich jetzt, obwohl es nicht stimmte.
„Ich weiß“, sagte Chris mit fester Stimme.
Ich suchte in meiner Handtasche nach dem Portemonnaie. Im Hintergrund sang Ismael Lo seine Lieder aus Westafrika, die ich nur hörte, wenn ich mich nach etwas sehnte, das ich nicht benennen konnte. Ich war nie selbst in Afrika gewesen.
„Lass mal, ich mach das!“
Chris hatte seine Brieftasche schon hervorgezogen und winkte der Kellnerin.
„Okay, danke, das nächste Mal bin ich dran“, sagte ich mit bewusst zynischem Unterton. Ich hoffte, er würde in dem gedämpften Licht des Cafés nicht bemerken, dass meine Augen feucht waren.
„Kein Kuss, okay?“, flüsterte ich.
„Okay“, sagte Chris gedehnt und lächelte.
Als ich aufstehen wollte, hielt er mich am Arm fest.
„Mona! Bist Du glücklich mit deinem Leben? Bist du sicher, dass du das Richtige tust? Gibt es nicht noch etwas Größeres, das du machen musst? Etwas, das dich wirklich treibt, dein Herz berührt und dich furchtlos macht?“
Ich hörte seine Worte, als wäre er am Ende eines großen Raumes und ich auf der anderen Seite. Sie erreichten mich nicht, verhallten in der Leere. Was wollte er mit solchen Fragen zu diesem Zeitpunkt? Draußen regnete es noch immer und ich beschloss, nicht auf ihn einzugehen. Ich ahnte, dass der Berliner Winter sich ankündigte. Lang, kalt und dunkel.
„Also bleibt es dabei?“, fragte ich im Aufstehen, ohne ihn anzusehen. „Es ist alles offen?“
„Ja“, antwortete er fest, „es bleibt dabei. Es ist alles offen.“
2
Im Treppenhaus roch es scharf nach zu viel Putzmittel und es kam mir vor, als würde die braun gestrichene Holztreppe mehr als sonst knarren. Ich suchte in der Handtasche nach dem Wohnungsschlüssel, der sich wie immer versteckt hielt, und zog stattdessen überrascht eine DVD heraus. „Kinshasa Symphony“ stand auf dem Deckblatt. Also doch ein Abschiedsgeschenk! Ich hatte nicht bemerkt, dass Chris etwas in meine Handtasche getan hatte. Ohne Nachricht. Ohne Kommentar. Nicht eingepackt. Genau so war er. Kann man jemanden mögen, den man nicht versteht? Ich setzte mich auf die oberste Treppenstufe und überflog, was auf der Rückseite stand. Ein Dokumentarfilm über ein Amateurorchester in Kinshasa. Was wollte er mir damit sagen? Und was sollte die Frage, ob ich das Richtige tun würde? Jetzt fand ich den Schlüssel. Als ich die Tür zu meiner Wohnung öffnete, fiel mir ein Lieblingssatz meiner Großmutter ein: „Man kann alles ändern in der Welt, aber es ist Zeitverschwendung gegen die Realität anzukämpfen, wie sie gerade ist.“ Ich ließ die Tür ins Schloss fallen, als würde ich die letzten Wochen meines Lebens unwiderruflich hinter mir lassen müssen. Ohne Bedauern. Ohne Sehnsucht. Vor mir breitete sich dunkel die Geräumigkeit meiner vier Zimmer aus. Sie verliefen sich in zwei Dachterrassen, die den Blick auf die dunkle Spree und auf die selbst nachts zu hellen Dächer von Berlin freigaben. Entgegen aller Argumente von Freunden war ich alleine mit zwei Kindern in den fünften Stock gezogen. Das trainiert, hatte ich argumentiert. Wenn ich am Wochenende in Berlin war, ging ich morgens im Tiergarten joggen und lief langsam an der Spree entlang zurück. Danach waren die fünf Stockwerke eine Leichtigkeit. Außerdem konnte ich von hier aus alles zentral erreichen, vor allem den Flughafen, das Sprungbett zu meiner Arbeit in Stuttgart.
Das Schuhregal quoll über, deswegen stellte ich meine Stiefel zu den anderen Schuhen daneben. Ordnung war nie meine Stärke gewesen, Strategie dagegen sehr. Ich war für strukturiertes Denken, systematische Planung und Entscheidungskompetenz bekannt. Ob es mir gelingen würde, bis zum Montagmorgen diesen rätselhaften Mann aus meinem Leben zu verbannen? Dann würde ich im Flugzeug nach Stuttgart sitzen und hochkonzentriert die nächste Vorstandssitzung vorbereiten müssen. Gefühle sollten da keinen Raum einnehmen und für weiteren Abschiedsschmerz wäre ohnehin keine Zeit.
Diszipliniert warf ich den Wohnungsschlüssel in eine Holzschale, die ich für diesen Zweck auf einen Tisch neben der Tür platziert hatte. Das hatte ich mir angewöhnt, um zu verhindern, dass ich bei zu viel Stress den Schlüssel verlegte. Die Handtasche mit der DVD stellte ich auf den Holzfußboden ab, hängte meinen Mantel ohne Bügel an die Garderobe und ging ins Wohnzimmer, um endlich auf mein rotes Sofa zu fallen. Jenseits der Terrasse senkte sich eine Dunkelheit über Berlin, als würde sie die vielen Lichter der Stadt vertreiben wollen. Wie immer ohne Erfolg. Die Schattenrisse der umliegenden Häuser verschwammen, weil sich der Blick durch das ungeputzte Glas der Balkontür mit den Tränen vermischte, die ich Chris nicht hatte zeigen wollen. Wie als Ersatz für die Zärtlichkeit, die ich vermissen würde, zog ich eine Decke über meine Schultern und rollte mich zusammen. Auf meinem roten Lieblingssofa liefen die Fäden meines Lebens zusammen. Hier verwoben sich meine Erlebnisse zu sinnvollen Geschichten. Hier fand ich Antworten auf schwierige Fragen, brütete Ideen aus und passte meine Pläne an. Heute Abend war mir nur danach, Fragen zu verwerfen, weil es ohnehin keine Antworten gab. Auf längere Sicht war ich jetzt alleine in meiner zu großen Wohnung, mein Sohn Micha in Vancouver, meine Tochter Nina zum Studieren in Kapstadt – und Chris in Kinshasa.
Mein Blick fiel auf den mit Papieren überfüllten Wohnzimmertisch. Obenauf lag eine selbstgestaltete Postkarte aus Kapstadt – ein Foto von Nina neben einem Schild mit der Aufschrift „Kap der guten Hoffnung“. Dunkel und fotogen stand sie da. Meine Tochter war die Unbeirrbare in der Familie, die nie von einem einmal gefassten Plan abwich. Ganz die Mutter, sagten Freunde. Wie Chris, fand ich. Im letzten Jahr vor ihrem Auszug hatte sie mich häufig zu Diskussionen herausgefordert. Was ich tun würde, um das Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich in der Welt zu verändern? Was ich unternehmen würde, um die Veränderung des Klimas zu verhindern? Wie ich gedächte, Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem zu finden? Fragen, auf die ich keine passenden Antworten hatte, und über die ich nicht streiten wollte. Grummelnd verzog sie sich dann in ihr Zimmer und hörte unerträgliche Musik.
Nach ihrem Abitur arbeitete sie als Praktikantin einige Monate bei einer Organisation, die weltweit gegen Korruption kämpfte. Wenige Wochen später legte sie mir einen Zulassungsbescheid der Universität in Kapstadt auf den Esstisch. Sie hätte schließlich afrikanische Wurzeln und so sei es doch klar, wo es sie hinziehe. Dass mit dieser Studienplatzwahl hohe Studiengebühren anfielen, interessierte sie dagegen weniger.
Ninas Vater, ein Exilant aus Guinea, hatte ich kennengelernt, als er nach dem Ingenieurstudium in Moskau nach Berlin gezogen war. Er erinnerte mich an meinen Vater, der davon geträumt hatte, in sein Heimatland zurückzugehen, um den Aufbau eines demokratischen Staates zu unterstützen. Den Traum von einer glücklichen Familie hatten wir schnell ausgeträumt. Unsere Wege liefen auseinander, weil unsere Träume nicht zusammenpassten. Wo waren meine geblieben?
Nach der Trennung unterstützten mich meine Mutter und meine Großmutter, da ich mit wenig Einsatz des Vaters nahezu alleinerziehend war. Zu oft musste ich die unaufgeforderten Ratschläge meiner Großmutter ertragen. Trotzdem hätte ich nicht gedacht, wie sehr ich sie vermissen würde. Erst als ich vor vielen Jahren auf ihrem Sterbebett ihre knochigen Hände hielt, die sie wie ein Gemälde still und unbeweglich auf den weißen Bezug ihres Bettes im Krankenhaus gelegt hatte, wusste ich, dass die Zeit kommen würde, in der ich mich nach ihren Geschichten sehnen würde. Geschichten, die immer eine Moral hatten, in denen ihre Weisheiten aus den Meinungen und Handlungen ihrer Protagonistinnen sprachen. Was mir von davon blieb, war eine ihrer Jugendstilkommoden, die wie ein Mahnmal einer anderen Zeit in meiner ansonsten karg und in Grautönen eingerichteten Wohnung stand. Meine Großmutter hatte mich gebeten, sie bis zu ihrem nächsten Leben zu verwahren. Ich hatte nie die Zeit, alle Briefe, Zettel mit Notizen und Geschichten zu lesen, von denen sie überquoll. Wie gut sich meine Tochter mit meiner Großmutter verstanden hätte! Aber sie starb, als Nina noch im Kindergarten war.
Mein Blick fiel auf einen Stapel Papiere auf dem Holzfußboden neben der Kommode. Es kam vor, dass ich etwas auf den Boden legte und wochenlang nicht anrührte. Dennoch war es mir unangenehm zuzugeben, dass diese Papiere seit mehreren Monaten dort lagen. Es waren die Unterlagen von der Konferenz zu Zukunftstrends im Management, auf der ich Chris kennengelernt hatte. In einer der Kaffeepausen stand ich an einem der weiß verhüllten Stehtische, als er sich neben mich stellte und mich mit seinen klaren grünen Augen anlächelte. In fließendem Deutsch hatte er gefragt, was ich von der Konferenz halten würde und ob ich der Meinung sei, es gäbe so etwas wie Zukunftstrends, die man bestimmen könne. Ich war irritiert, dass er mich nicht auf meinen eigenen Vortrag zu ‚Innnovation im Management’ angesprochen hatte. Stattdessen verwickelte er mich in ein Gespräch, an das ich mich nicht genau erinnern konnte. Nur dass er Kanadier war, blieb bei mir haften. Ich achtete zu sehr auf seine Augen und vergaß zu fragen, wo er sein akzentfreies Deutsch gelernt hatte, weil ich blitzschnell mein Gegenüber erfasste. Ehering am Ringfinger der linken Hand. Sympathisches Äußeres, ein gewinnendes Lächeln, charmant, groß, etwa Mitte vierzig. Ich ärgerte mich über mich. Das Einschätzen von Männern war eine schreckliche Angewohnheit. Sozusagen eine Berufskrankheit. Im professionellen Alltag war das sinnvoll. Als Leiterin der Personalabteilung eines Automobilkonzerns musste ich Stellenbewerber innerhalb von kurzer Zeit intuitiv erfassen. Meistens wusste ich sehr schnell, ob sie sich für eine Aufgabe eigneten oder nicht. Ich lernte allerdings nie Männer auf Konferenzen kennen, die sich fürs Private eigneten. Trotzdem konnte ich das Taxieren nicht lassen.
„Und woher aus Kanada kommen Sie?“, hatte ich höflich interessiert gefragt.
„Aus Vancouver!“
„Ach, mein Sohn ist letzte Woche für ein Jahr nach Vancouver gegangen“, bemerkte ich.
„Da hat er sich eine wunderbare Stadt ausgesucht. Sie sollten rechtzeitig dafür sorgen, dass er nicht dort bleibt. Die Stadt hat eine besondere Energie.“
An den Moment konnte ich mich genau erinnern. War es das schelmische Augenzwinkern, das mir das Gefühl gab, ich würde nicht zum ersten Mal mit diesem Mann sprechen? Oder war es das sachte Spiel seiner Finger auf der weißen Tischdecke, das mich unvermittelt anzog, als hätte ich gewusst, wie sich seine Hände anfühlten? Ich war vor dem Anflug einer unerklärlichen Vertrautheit geflüchtet, hatte schnell einen vorbeigehenden Kollegen angesprochen und mich von Chris verabschiedet. Hätte ich es dabei bewenden lassen sollen?
Ich hob die Papiere auf, um sie in den Behälter für Altpapier zu werfen. Es war Prinzip für mich, nichts Unwichtiges aufzubewahren. Chris war nun Vergangenheit. Und diese Konferenz auch.
Als ich in die Küche ging, fiel ein Papier aus dem Stapel heraus. Ich griff danach und las die Ankündigung des Vortrags von der Leiterin der Personalabteilung eines indischen Automobilkonzerns, Deepali Puri. ‚Wie Frauen Unternehmen verändern’ war der Titel. Ich hatte ihn verpasst, weil ich einen Anruf von einem Kollegen bekam mit der Bitte, ich möge dringend mein iPhone checken und seine Email beantworten. Wir standen im Konzern unter Druck, uns dem Thema ‚Frauen im Management’ anzunehmen. Aber bisher hatte ich verhindern können, dass es klare Vorgaben gab, die ich hätte umsetzen müssen.
Zögernd schob ich die Papiere zusammen und entsorgte sie in den Behälter für Altpapier. Männer, die sagen‚ ‚alles ist offen’, meinen Abschied. Sie sind nur zu feige, das klar auszudrücken. Als müsste ich das Ende energisch besiegeln, holte ich die DVD von Chris aus meiner Handtasche. Ich stellte sie neben die anderen DVDs ins Regal, so dass sie in der Menge nicht auffallen würde.
Was wusste ich über diesen Mann? Geboren in Vancouver. Studium der Betriebswirtschaft in Montreal und in Hamburg. Für sieben Jahre Manager bei einem pharmazeutischen Unternehmen in den USA, anschließend Angestellter einer Entwicklungshilfeorganisation in Kanada. Er hatte sich ein Jahr Auszeit genommen, um durch die Welt zu reisen und seine letzte Station war Berlin. Er war kaum älter als ich. Getrennt lebend, Scheidung geplant, wie er mir nebenbei sagte, eine Tochter in Kanada. Ich hatte beobachtet, wie sich bei einer SMS sein Gesichtsausdruck veränderte – ein weiches Lächeln, das lange anhielt. Obwohl ich nicht nachfragte, flüsterte er: „Von meiner Tochter Ann, sie wollte fragen, wo ich stecke.“
Ich griff jetzt nach einem Teebeutel mit dem wunderbaren Namen ‚Energie für die Seele’, die man neuerdings in jedem Bioladen kaufen konnte, und goss mir einen Tee auf. Die heiße Tasse balancierte ich in mein Arbeitszimmer. Ich setzte mich an den Schreibtisch, ohne das Licht anzuschalten, und lehnte mich bequem und leicht schaukelnd zurück.
Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Die feuchte Dunkelheit lag drohend über der Stadt und versprach den Beginn eines noch dunkleren Winters, in dem man vergessen konnte, dass Jahreszeiten wechselten. Vor mir breitete sich hämisch ein Alleinsein aus, das ich sonst immer genossen hatte. Nun kroch es in meine Gedanken wie eine heimliche Rache für die vielen Momente, in denen ich es mir herbeigesehnt hatte. Wie war ich hier hingeraten?
Einige Tage nach der Konferenz hatte Chris auf meinem Handy angerufen. Er würde mich gerne als Mensch treffen, nicht als Managerin. Ich war so irritiert, dass ich einen Moment am Telefon nichts hatte sagen können. Seine Direktheit erklärte ich mir als Kulturunterschied.
Noch im gleichen Gespräch fragte er, ob ich Zeit für einen Spaziergang am Wochenende hätte. Spontan stimmte ich zu und schlug den Tiergarten vor. An einem wunderbaren Spätsommertag schlenderten wir zwischen turtelnden Pärchen und grillenden türkischen Familien durch den Park. Ich lief schneller als er, das war mir sofort aufgefallen, weil ich es ungewöhnlich für einen Mann seiner Größe fand. Ob er versuchte, sich auf den Schritt einer Frau einzustellen?
Im Zusammensein mit Chris überraschte ich mich selbst, weil ich von meinen Grundsätzen abwich: kein Sex, bevor nicht eine freundschaftliche Beziehung etabliert war. Schon das Wochenende nach unserem ersten gemeinsamen Spaziergang verbrachten wir im Bett. Ich konnte seinen Lippen nicht widerstehen und mich nicht satt trinken an seinem Körper. Ich wollte seine Hände auf meiner Haut spüren. Ich fühlte mich zeitlos, wenn wir zusammen waren. Als hätte es nie etwas anderes gegeben als Chris und mich. Und jetzt hatte ich noch nicht einmal ein Foto von ihm.
Mit einer Handbewegung schaltete ich die Schreibtischlampe an, überflog den unaufgeräumten Schreibtisch und zog einen in unleserlicher Schrift beschriebenen Zettel aus den Papieren vor mir. Ich hatte ihn schon hundert Mal gelesen. An einem Sonntagmorgen war Chris morgens schon gegangen, bevor ich aufgewacht war. Auf dem Nachttisch hatte eine Nachricht von ihm gelegen: „Liebe Mona, ich muss meinen Raum finden und tun, was die Welt wirklich braucht. Ich muss mich daran erinnern, dass man die Wüste verändern kann, wenn man ein Sandkorn aufhebt und an einen anderen Platz tut. Das Leben in Europa hat eine Schnelligkeit, die uns immer weiter von der Magie der Liebe und von der Magie des Lebens entfernt. Dann verstehen wir die vielen kleinen Botschaften des Lebens nicht mehr und versinken in dem Irrglauben des Egos, das sich selbst zu wichtig nimmt und die großen Zusammenhänge vergisst. Ich werde an einen Ort gehen, wo Menschen noch verstehen, was Leben ausmacht, in jedem Moment, in jeder Begegnung, an jedem Tag.“
Früher hatte ich gedacht, je älter man wird, desto mehr gelänge es einem, die Dinge zu nehmen wie sie sind. In diesem Moment dachte ich nur, je älter ich werde, desto weniger gelingt es mir, mir nicht anmerken zu lassen, dass mir eine Sache wirklich etwas ausmacht. Das Ganze machte keinen Sinn. Ich hasste es, wenn ich keine Erklärungen für Verhaltensweisen von anderen hatte. Es verunsicherte mich.
Ich gab einem inneren Drang nach Ordnung nach und begann, die Papiere auf dem Schreibtisch zu sortieren, vor allem unnütze Ausdrucke und Notizen in den Papierkorb zu werfen. Als ich einen ganzen Stapel Papiere entsorgt hatte, stieß ich auf eine dicke blaue Mappe, die unten in einem Stapel lag. Ich benutzte Mappen nicht. Bestimmt hatte mein Sohn sie dort liegen lassen. Ich öffnete sie. Darin befand sich ein Textausdruck, und obenauf ein handschriftlicher Zettel auf Englisch, eindeutig die Schrift von Chris. Dazu eine Visitenkarte: Deepali Puri, Senior Vice President HR, Mita Motors. Ich stutzte. Das war die Frau aus der Personalabteilung des indischen Automobilkonzerns, die den Vortrag über Frauen im Management gehalten hatte. Ich hatte ja gerade das Programm der Konferenz ins Altpapier getan. Ich versuchte zu entziffern, was auf dem Zettel geschrieben war. Chris hatte offensichtlich den Vortrag der Inderin angehört und sich Notizen auf Englisch gemacht. Ich konnte seine Schrift nicht lesen. Daher legte ich das Stück Papier beiseite und nahm den Textausdruck aus der Mappe. Ich las: „Und deswegen ist das einzige, wofür es sich zu kämpfen lohnt, die Liebe. Man muss sie beschützen, damit sie ihren Raum in dieser Welt nicht verliert. Aber vermehren kann man sie nur, indem man selbst liebt.“ Ich las das Zitat ein zweites Mal, bevor ich den Zettel langsam zurück in die Mappe schob. Gab es einen Zusammenhang zwischen dem Zitat und der Visitenkarte? Ein Grundsatz von mir war: keine Eifersucht. Das hielt ich für Zeitverschwendung. Warum hatte Chris die Mappe in meinem Arbeitszimmer liegen gelassen? Zufall oder Absicht? Da war noch etwas. Die Mappe war so dick wegen eines Umschlages. In mädchenhafter Handschrift stand darauf geschrieben ‚Vogel meines Herzens’. Mit Herzklopfen trug ich den braunen Umschlag ins Wohnzimmer hinüber und setzte mich auf mein rotes Sofa. Ohne ihn aus der Hand zu legen, betrachtete ich die Kommode meiner Großmutter. Sollte ich ihn öffnen? Was würde sie mir raten zu tun?
3
Am Montagmorgen um Punkt sechs Uhr schloss ich die Wohnungstür hinter mir ab und trug eilig den silbernen Rollkoffer die vier Stockwerke hinunter. Meine hochhackigen Schuhe klapperten auf der Holztreppe und ich fragte mich, wen ich damit wecken würde. Als ich die schwere Haustür zur Straße öffnete, wartete das Taxi bereits mit laufendem Motor im nasskalten Novemberdunkel. Mit einem kurzen Gruß nahm der Taxifahrer mir meinen Koffer ab und verstaute ihn. Er ließ den Kofferraum zuklappen, als würde er damit seinen Ärger über die zu frühe Arbeitszeit loswerden wollen. Ich setzte mich vorsichtshalber auf den Rücksitz, um jedes Gespräch zu vermeiden.
„Wohin?“, fragte er.
„Flughafen Tegel“, antwortete ich kurz angebunden. An einem Montagmorgen brauchte ich meine Ruhe. An diesem Montag besonders. Berlin war noch im Halbschlaf. Wer nicht hinaus musste, vermied das nasskalte Dunkel, das feindlich an jeder Ecke lauerte und von den sich gleichmäßig bewegenden Scheibenwischern nicht vertrieben wurde. Die Lichter der Stadt zogen vorbei wie in einem Film, bei dem man eine Gefahr ahnte. Ein anderes Fahrzeug hupte und mein Taxifahrer fluchte. Waren alle so schlechter Laune wie ich? Widerwillig hatte ich am Abend zuvor angefangen zu arbeiten, um die Entscheidungsvorlagen für die Vorstandssitzung durchzugehen und sie mit Änderungswünschen an meine Sekretärin zu verschicken. Ich wollte sie heute Morgen korrigiert in Empfang nehmen können.
Ich lehnte den Kopf zurück auf die Lehne des Rücksitzes und atmete tief, wie ich es beim Yoga auf Youtube gelernt hatte. Mit dem Blick auf die verschwommenen Regentropfen an der Scheibe sagte ich mir leise das Gedicht auf, das ich am Tag zuvor auf meinem roten Sofa liegend in dem Manuskript gelesen hatte. Ich fand es, passte zu meiner Situation.
Vogel meines Herzens
Wann hast du vergessen
Die Lieder von Sonne und Mond
Die Lieder des Abschieds
Und die des Erkennens
Die Lieder
Die uns begleiten
Auf den Pfaden
Der Finsternis
Einen Tag hatte ich den filigran beschrifteten Umschlag aus der Mappe von Chris auf der Kommode liegen lassen, bis ich es nicht mehr aushielt. Als würden darin die Antworten auf alle nicht gestellten Fragen lauern, zog das blassgraue Papierbündel meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Am Sonntagnachmittag beschloss ich, dass meine Großmutter mir geraten hätte, den Umschlag zu öffnen. Sie war notorisch neugierig, anderenfalls hätte sie zu ihrer Zeit als Stewardess auf einem Ozeandampfer und zugleich alleinerziehende Mutter nie die ganze Welt bereist. Außerdem sah ich mich nicht als Kindermädchen von Chris an. Wenn die Mappe wichtig für ihn gewesen wäre, hätte er sich gemeldet. Ich zog über hundert Seiten eines Manuskripts heraus, geschrieben mit einer uralten Schreibmaschine, die nicht alle Buchstaben in der gleichen Stärke angeschlagen hatte. Das Papier war von den Jahren vergilbt, fast dünn geworden. Selten waren Wörter, manchmal ganze Sätze durchgestrichen und mit kaum lesbaren handschriftlichen Notizen überschrieben. Ohne zu verstehen, worum es ging, las ich testweise in den Text hinein. Dabei kam ich mir vor wie ein Eindringling in eine Angelegenheit, die mich nichts anging. Zugleich faszinierten mich die vor so langer Zeit beschriebenen Blätter, als hätte ich einen bahnbrechenden archäologischen Fund gemacht. Mich verwirrte, dass ich einen deutschen Text las. Wie war Chris an dieses Manuskript gekommen? Gedankenverloren blätterte ich weiter, bis ich am Ende auf das Gedicht stieß, von dem ich mir die Zeilen gemerkt hatte. Ich sagte es mir noch einmal lautlos auf, während der Fahrer einen Halteplatz vor dem Abflugsteig von Lufthansa suchte.
Ich zahlte das Taxi bar, weil es am schnellsten ging, und eilte zum Check-in. Meine Abneigung gegen das morgendliche Treiben an Flughäfen hatte sich nie geändert. Auf Partys bemerkte ich ironisch, am Montagmorgen seien die Flugsteige wie eine Messe für Arbeitsmigranten mit gehobenem Status in Einheitskleidung. Graue Anzüge für die Männer, ebensolche Kostüme für die wenigen Frauen, garniert mit Laptoptaschen und Rollkoffern, die darauf hinwiesen, dass man es nicht nötig hatte Gepäck aufzugeben. Meine kaffeebraune Haut machte mich zur doppelten Ausnahme. Ich hatte ich mich schon während der Schulzeit daran gewöhnen müssen, darauf angesprochen zu werden, wie fließend mein Deutsch wäre. ‚Ich bin Deutsche’, erwiderte ich als Standantwort und wechselte das Thema. Offensichtlich war ich nicht die Einzige, die in Berlin wohnte und in einer anderen Stadt arbeitete. Als ich mit der Sicherheitskontrolle fertig war, checkte ich Emails auf dem iPhone. Es gab nichts Dringendes. Erst als das Flugzeug gestartet war, entspannte ich mich. Über dem Rollfeld dämmerte es, ein zartes Rot hatte den Regen verdrängt. Es würde ein sonniger Tag werden. Ein Novembertag, der vorgab, zu einem goldenen Oktober zu gehören. Als wir starteten, konnte ich von meinem Platz in der ersten Reihe am Fenster auf die langsam wach werdende Stadt hinunter sehen. Ich liebte Berlin. Merkwürdig, dass das Herz sich nicht nur an Menschen band, sondern auch an Orte. Sie waren wie geographische Antworten auf die Seele.
Da ich meine Ankunftszeit in Stuttgart beim Valet Park Service angegeben hatte, stand der Dienstwagen zum Einsteigen bereit. Meine Tochter verabscheute diesen Luxus, ich jedoch genoss ihn. Perfekte Planung. Um 9.15 Uhr würde die erste Sitzung zur letzten Abstimmung einer Präsentation für den Personalvorstand beginnen. Es ging um meinen Ansatz für die zukünftige Personalstrategie des Konzerns. Ich hatte in den Jahren auf meiner jetzigen Position gelernt, wie man Entscheidungsvorlagen so geschickt vorbereitete, dass Vorstandsmitglieder in der entscheidenden Sitzung nur zustimmen konnten. Wer strategisches und wohlüberlegtes Handeln nicht beherrschte, der hatte keine Chance und war auf die Dauer nur frustriert. Und davon gab es einige. ‚Kalt gestellt’ hieß das in meiner Terminologie, wenn man keine Gelegenheit mehr hatte, das Unternehmen und seine Richtung zu beeinflussen. Es war schockierend sehen, dass es für viele Menschen kein Leben außerhalb des Konzerns zu geben schien, als würde die Welt nur aus der Firma bestehen. Ein ehemaliger Kollege, der den Aufbau China geleitet hatte, bemerkte nach seiner Kündigung mit sarkastischem Humor: „Es gibt Manager, nimmt man denen den Dienstwagen weg, so erhängen sie sich sofort.“ Und in der Tat hatte es vereinzelt Suizide nach Positionsveränderungen oder Auflösungsverträgen gegeben. Ich war dafür zuständig, dass solche Vorfälle strengstens vertraulich behandelt wurden. Es waren die Momente, in denen ich mich als Versagerin sah – wenn ich nichts hatte dagegen tun können.
Ich parkte den Wagen im für den obersten Führungskreis reservierten Bereich der Parkgarage und lief wegen des engen Kostüms in kurzen Schritten zu meinem Büro. Zur Begrüßung verwickelte ich meine beiden Sekretärinnen in ein kurzes persönliches Gespräch, wie es unter Frauen üblich ist.
„Und Sie?“, fragte Rosi, meine Chefsekretärin, „was haben Sie am Wochenende gemacht?“
„Nur in Cafés herumgesessen, was man so macht in Berlin!“, antwortete ich lachend. „Und Emails von meinen Kindern beantwortet. Ich glaube, sie vermissen mich nicht.“
„Unsinn, natürlich vermissen sie Sie! Aber sie sind wahrscheinlich ganz die Mutter, sie lassen es sich nicht anmerken.“
Woher wusste sie, dass es genau darum ging, nämlich mir nicht anmerken zu lassen, dass ich Chris vermisste?
Ich wechselte in den Arbeitsmodus.
„Liegt etwas an, was ich noch nicht weiß?“
„Nein, nur das Geplante. Außer einer Dame, die heute Morgen bereits angerufen hat. Sie ist aus Indien, die sind da ja vier Stunden voraus. Sie wollte Sie persönlich sprechen. Ich habe ihr gesagt, dass Sie den ganzen Tag in Terminen seien und daher nicht zurückrufen könnten vor 17 Uhr und da wäre es ja schon zu spät für Indien. Ich habe sie gebeten, mir eine Email zu senden und zu erklären, worum es geht. Ich würde Sie dann in Kenntnis setzen.“
Ich war zufrieden. Meinen beiden Sekretärinnen hatte ich beigebracht, grundsätzlich ungeplante Anrufe abzuwimmeln und nie meine eigene Email Adresse herauszugeben. Trotzdem hatte ich plötzlich das Gefühl, nachhaken zu müssen.
„Und, wie hieß die Dame?“
„Ich habe mir den Namen buchstabieren lassen, das ist ja nicht so einfach mit den indischen Namen.“ Sie nahm einen Zettel vom Schreibtisch.
„Deepali Puri heißt sie.“
Ich muss völlig verdutzt geguckt haben, bevor ich geschäftsmäßig die Mappe mit den für mich vorbereiteten Unterlagen entgegennahm und in mein Büro ging. Meine Großmutter hatte mir den Grundsatz eingeschärft, dass man Hinweise zweimal ignorieren durfte. Wenn sie dreimal hintereinander auftauchten, musste man handeln. Ich blieb an der Tür zu meinem Büro stehen.
„Rufen Sie sie zurück und geben Sie ihr einen Telefontermin um 13.30 Uhr. Das müsste reichen trotz Zeitverschiebung. Ich werde sicherstellen, dass ich bis dahin aus der Sitzung heraus bin. Können Sie mir eins von den Bio-Sandwiches aus der Kantine besorgen? Das würde mir Zeit sparen. Danke.“
Der Herbsttag war auch in Stuttgart sonnig. Von meinem Büro aus hatte ich einen Blick über die fast kahlen Wälder hinweg bis zum Schwarzwald. Den ausladenden Schreibtisch aus Naturholz hatte ich so stellen lassen, dass ich den Blick genießen konnte. Mit einem unüberhörbaren Seufzer ließ ich mich auf den Ledersessel fallen und öffnete die Mappe, um die korrigierten Unterlagen für die Vorstandssitzung durchzugehen. In diesem Moment vibrierte mein iPhone. Ich überflog die Entscheidungsvorlagen und sah dann nach, von wem die SMS war. Chris hatte geschrieben: „Liebe Mona, bei den Glücksfällen in meinem Leben zählst du doppelt. Dein Chris.“ Es musste kurz vor seinem Abflug nach Brüssel sein. Nein, ich würde ihm nicht zurückschreiben. Warum musste dieser Mann unbedingt nach Afrika gehen?
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Ich schloss demonstrativ die Tür zu meinem Büro und warf verärgert die Mappe mit den Notizen aus der Vorstandssitzung auf den Schreibtisch. Dort lag das Sandwich aus der Kantine, daneben stand ein Pappbecher mit einem Latte Macchiatto. Fair Trade Kaffee. Meine Sekretärin wusste, wie wichtig mir das war, seitdem Nina mich energisch darauf hingewiesen hatte, dass nur die Veränderung des Konsums Einfluss auf Unternehmen haben würde. In meinem Blickfeld waren auf dem Schreibtisch etliche Zeitungsartikel ordentlich angeordnet. Alle drehten sich um das Thema ‘Frauenquote im Management’. Hatte meine Sekretärin gewusst, worum es in der Sitzung gehen würde? Auf der offiziellen Agenda hatte nichts davon gestanden. Ich überflog kurz die Artikel, schob sie verärgert beiseite und stellte mich mit dem Kaffee ans Fenster in der Hoffnung, der Blick auf die Wälder würde mich beruhigen. Eine Krise kam nie alleine. Das wusste ich. In der Ferne stieg ein Flugzeug über die von der Sonne angestrahlten Hügel auf. Chris musste jetzt schon unterwegs sein in ein Land, das ich nicht kannte und das mir fremd war. In eine Stadt im Chaos, von der ich gelesen hatte, sie berge jederzeit die Gefahr von Unruhen. Und dann noch dieser absurde Vorstandsbeschluss. Statt sich eingehend mit meiner Personalstrategie zu befassen, war es nur um die öffentliche Debatte zur Frauenquote gegangen. Ich hatte geahnt, dass es mit dem neuen Personalvorstand, Herrn Wagner, nicht so einfach werden würde wie mit seinem Vorgänger, mit dem ich bestens zusammengearbeitet hatte. Im Konzern wurde hinter vorgehaltener Hand darüber getuschelt, dass Herr Wagner auf geschickte Weise die einzige Bewerbung einer weiblichen Kandidatin ausgehebelt habe, um auf seinen Posten zu kommen. Beweise dafür gab es keine. Ich vermutete, dass er, um aller Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen, sich in den Kopf gesetzt hatte, innerhalb von 5 Jahren 30% aller Managementpositionen mit Frauen zu besetzen. Freiwillig. Angeblich als Reaktion auf den Druck aus der Öffentlichkeit. Als Personalleiterin des Konzerns landete das auf meinem Schreibtisch – eine Vorgabe, die ich umsetzen sollte. Warum hatte mich keiner vorgewarnt? Warum war ich nicht rechtzeitig konsultiert worden?
Ich schüttete zwei Löffel Zucker in den Kaffee und schöpfte den Schaum ab. Dem Vorstand war nicht klar, was der Beschluss bedeuten würde. Die Vorgabe war völlig unrealistisch! Die gegenwärtige Unternehmenskultur machte es unmöglich, den Anteil an Frauen in Führungspositionen wesentlich zu erhöhen. Nicht jeder Mensch begab sich freiwillig in ein Haifischbecken. Und Frauen? Ich kam in dem Umfeld gut klar. Andere Frauen dagegen nicht. Das wusste ich aus zahlreichen Personalgesprächen.
Ich hatte gelernt zu trennen: Privatleben in Berlin, berufliche Karriere in Stuttgart. Lebenskunst am Wochenende, Zielstrebigkeit im Konzern. Ohne die räumliche Distanz hätte ich es nicht geschafft. Beruflich genoss ich meinen Einfluss. Ich liebte durchzusetzen, was ich für sinnvoll hielt und was mit meinen Werten hinterlegt war. Im Zweifel für den Menschen. Das hatte ich immer hochgehalten. Als Leiterin der Personalabteilung hatte ich ja ständig mit Mitarbeitern zu tun, oft mit den persönlichen Dramen der Manager. Ich war überzeugt, dass die meisten Frauen sich bei uns nicht wohlfühlen würden, und das würde sich auf das Geschäftsergebnis niederschlagen. Frauen brauchten mehr Freiräume, mehr Sinn. Meine männlichen Kollegen machten gerne Konzessionen für die Karriere. Sie stellten sich selbst, ihre großen Lebensfragen und natürlich die Familie hinten an.
Das Telefon auf meinem Schreibtisch riss mich aus meinen Gedanken. Ich ließ es einige Male läuten, bis ich mich gezwungen sah, den Telefonhörer abzunehmen. Meine Sekretärin kündigte an, dass Deepali Puri schon in der Leitung warten würde. Jetzt passte mir der Anruf nicht. Ich bat unwirsch, sie durchzustellen und keine Störungen zuzulassen. Ich hatte darauf hingewiesen, dass es sich um einen persönlichen Anruf handelte und dass niemand wissen sollte, dass ich mit der Leiterin der Personalabteilung einer großen Konkurrenz telefonierte.
„Danke für Ihren Rückruf“, begann sie höflich das Gespräch. „Ich wollte mich schon vor Wochen bei Ihnen melden, aber dann ist immer wieder etwas dazwischen gekommen, und mir war es wichtig, ganz persönlich mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Leider ist es auf der Tagung ja nicht zu einem Gespräch gekommen.“
In ihrem Englisch klang der typisch indische Akzent, an dessen Singsang ich mich auf Dienstreisen nach Indien erst hatte gewöhnen müssen. Die meisten Manager, die wir für unseren Standort in Chennai eingestellt hatten, sprachen mit einem amerikanischen Akzent, da sie fast alle in den USA studiert hatten. Ich hörte oft, in meinem Englisch klinge trotz des deutschen Akzentes mein Studium in Boston durch.
Deepali erklärte, sie rufe in erster Linie aus fachlichen Gründen an. Mein Vortrag zu Innovation auf der Konferenz zu Zukunftstrends hätte sie sehr beeindruckt. Sie wäre an einem Austausch zu Frauen im Management interessiert, aber es ginge auch noch um etwas anderes, das ihr schwerfiele zu erklären. Es gäbe da jemanden, der ihr gesagt hätte, sie müsse mich treffen, am besten in Mumbai. Dieser Person würde sie bedingungslos vertrauen. Ich solle das Telefonat als herzliche Einladung verstehen. Ob ich kommen könne?
Bevor ich in der Lage war nachzufragen, wer die Person sei, fuhr sie ohne Pause fort.
„Es ist Christopher Jones. Ich vermute, Sie kennen ihn?“
Ich schwieg. Vor meinen Augen sah ich die Visitenkarte von ihr in der Mappe, die Chris offensichtlich auf meinem Schreibtisch liegen gelassen hatte, ebenso den Text über die Liebe. Was um Himmels willen hatte sie mit ihm zu tun? Ihre Frage, ob ich noch in der Leitung sei, holte mich zurück in die Gegenwart. Wie mechanisch erklärte ich ihr, meine Sekretärin würde sie informieren, wenn eine Dienstreise zu unserem Werk in Chennai anstehen würde. Ich könnte nicht versprechen, ob sich ein Besuch in Mumbai in Kürze mit meinem Zeitplan vereinbaren ließe. Höflich erwähnte ich mein Interesse an ihrem Vortrag, denn jetzt musste ich mich mit dem Thema beschäftigen, aber im Grunde war ich völlig verwirrt.
Deepali ließ sich von meiner Zurückhaltung nicht irritieren. Sie setzte sofort zu einer Rede darüber an, wie Frauen Unternehmen verändern würden, während ich nur Chris’ starren Blick in dem faden Licht des Cafés vor mir sah und ihr nicht mehr zuhörte. Meine Sekretärin steckte den Kopf zur Tür hinein und gab mir mit einem Wink zu verstehen, dass der nächste Termin anstand. Das half mir, das Gespräch förmlich und unverbindlich zu beenden.
„Ich komme“, rief ich ihr mit Verzögerung hinterher und verschränkte, statt aufzustehen, meine Arme im Nacken, um das Gefühl abzuschütteln, dass mir mein Leben aus den Händen glitt. Ich griff nach der vorbereiteten Mappe mit den Unterlagen für die nächste Sitzung und sprang auf. Nein, entschied ich, keine Email an Chris mit der Frage, was das Ganze sollte.