Читать книгу War das ein Leben - Petra Pansch - Страница 8

Оглавление

Naugard

Was für ein Leben, damals im Stettiner Land zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Jahre sind voll von neuen, neumodischen Sachen. Erst schüttelt man verwundert den Kopf, aber dann gleich wenig später hat man sich schon damit angefreundet. So passiert es auch in der Familie von Ernst Pautz und seiner Frau Hilde. Der stolze Lokführer, mit preußischen und pommerschen Tugenden ausgestattet, fährt pflichtbewusst und pünktlich tagein, tagaus seine Lok mit den vielen Waggons quer durchs flache, grüne Land mit den Feldern und Seen auf den schier endlosen Schmalspurgleisen; vollgepackt mit Vieh, Getreide, Kartoffeln, aber auch mit modernen Düngemitteln und Gerätschaften, die ganz langsam, aber stetig den Pferden und der Muskelkraft den Rang streitig machen.

Die Familie wohnt in einer kleinen Wohnung in der Nähe des Bahnhofs von Naugard, in der Wohnsiedlung „Gute Hoffnung“. Sie ist erst vor ein paar Jahren gebaut worden, als die Stadt aus allen Nähten platzte. Hier hat Hilde für ihre Familie ein heimeliges Nest gebaut. Sie leben, wie in einem schönen Märchen beschrieben, glücklich. Vater, Mutter und die Töchter. Erna, die älteste, ist 1898 geboren, Hiltrud, zwei Jahre später und die kleine Frida, das heißgeliebte Nesthäkchen, im heißen Juli 1912. Es wird gelebt, geliebt, gelacht und natürlich, wie könnte es anders sein, auch gezankt. So könnte es eben ewiglich weiter gehen.

Aber dann am 20. Juni 1917 ändert ein Brief dieses beschauliche Leben von jetzt auf gleich. Vater Ernst erhält seine Einberufung an die Westfront. Bis zu diesem Tag haben alle gehofft, dass sein wichtiger Beruf einen Fronteinsatz verhindert. Das Bündel wird geschnürt und tränenreich, aber natürlich mit der Hoffnung, dass er unversehrt wieder aus dem Krieg zurückkommt, verabschiedet sich der Soldat.

Frida in ihrem blaugestreiften Kittelkleid steht dabei, dreht die Schleifenbänder an ihren blonden Zöpfchen und wundert sich, dass keiner, weder Schwestern noch Mutter und der heißgeliebte Vater, ihr Aufmerksamkeit schenken. Sie stellt sich auf Zehenspitzen und zieht Mutter am Schürzenband. Aber die scheint es nicht zu bemerken, sondern schnieft ins Taschentuch. Endlich kommt ihr Vater zu ihr und hebt sie zu sich hoch, herzt und küsst sie. Sein schwarzer, gezwirbelter Schnurrbart kitzelt ihr im Gesicht. Er sagt noch zu ihr, sie solle lieb und artig zur Mutter sein. Abends vor dem Schlafengehen solle sie ihn mit ins Gebet einschließen, denn er muss in den Krieg, fürs Vaterland, für Deutschland. Dann ist er weg.

Das Leben geht weiter. Mutter Hilde greift jetzt wieder öfter zu Nadel und Faden und setzt sich an ihre Singernähmaschine. Aber nicht nur, um für die Familie zu nähen, nein, auch für die Nachbarschaft. Der Krieg ist jetzt überall spürbar, es fehlt an vielen Dingen. Zwar werden die Menschen satt, es gibt Kartoffeln, Kohl, Brot, Fett und ab und zu auch Fleisch, aber an vielen anderen Dingen für das tägliche Leben herrscht Mangel. Also ist es gut, wenn eine geschickte Frau aus alt neu machen kann. Es wird geändert, Säume werden verlängert und Bekleidung wächst nicht nur von Kind zu Kind mit, die Sachen werden regelrecht vererbt. So kann es schon mal sein, dass der Enkel Opas Konfirmationsanzug zu seiner eigenen Konfirmation trägt. Nur die Hosenbeine sind bei ihm viel zu kurz, denn „Fritzchen“ ist viel größer geraten als sein Vorfahre.

So hat Mutter Hilde immer gut zu tun, da kommt Groschen zu Groschen. Die sparsame Frau zwackt den einen oder anderen ab, um ihn zu den anderen in die Zigarrenkiste zu legen. Dabei werden jedes Mal ihre Augen feucht, sie denkt an ihren Ehemann, der in dieser abgegriffenen Schachtel seine obligatorische Sonntagsnachmittagszigarre aufbewahrte. Sie denkt an die unbeschwerte Zeit, als sie glücklich alle fünf an den dienstfreien Wochenenden unterwegs waren. Quer durch die beschauliche Stadt oder hinaus ins Grüne, am Naugarder See entlang; den geflochtenen Korb und eine Decke für eine Rast unter schattigen Bäumen dabei. Selbstgemachte rote Limonade aus Kirschsaft, die sie scherzhaft Bärenblut nannten, löschte den Durst und leckere Butterbrote wurden verspeist. Vater Ernst paffte zum Abschluss seine dicke nach Vanille duftende Zigarre. Unter Tränen lächelt Mutter Hilde, als ihre Erinnerung dieses Bild für sie malt. Schnell klappt sie den Deckel der Zigarrenkiste zu und eilt wieder an ihre Arbeit.

Die kleine Frida hat gar nicht mitbekommen, dass sie schon eine ganze Weile ohne die Mutter hier sitzt. Sie ist mit sich selbst beschäftigt und träumt gern vor sich hin. Sie braucht dazu keine Menschenseele. Mit bunten, schillernden Knöpfen und Garnrollen spielt sie. Heimlich greift sie zur großen Schneiderschere mit dem breiten, gezackten Maul. Das ist für sie der Drache, der die weiße Schneiderkreide frisst. Die kleine Blondgelockte ist ein stilles Kind, das sehr gerne hier in der Stube am Fenster sitzt und sich Geschichten ausdenkt. Abends im Bett erzählt sie ihrem Vater, der doch weit fort von ihr ist, was sie am Tag erlebt hat und bittet den lieben Gott, den sie sich als einen alten Mann mit weißem Wallebart vorstellt, so ähnlich wie der Bahnhofsvorsteher hier am Bahnhof von Naugard, dass er ihren Vater beschützt.

Vom Vater hören sie ein paar Wochen nichts. Aber das sei nun mal so im Krieg, machen sie sich gegenseitig Mut. Dann endlich, Mitte Juli, kommt ein Brief. Der Briefträger, der jeden Tag von der Mutter gefragt wird und der nie etwas dabeihatte, übergibt ihr diesmal wortlos einen Umschlag. Mutter greift zu, reißt ihn auf, liest und sagt zunächst kein Wort. Sie hält den Brief an ihre Brust und schreit auf. Dann nimmt sie Frida in ihre Arme und drückt die Fünfjährige fest an sich. Vater ist tot.

Auf dem „Schlachtfeld der Ehre hat er einen leichten Heldentod gefunden“, so steht es in dem Brief geschrieben und auch, dass er seine ewige Ruhe auf dem Schlachtfeld in Frankreich gefunden hat.

Frida versteht das alles nicht, besonders weil sie doch jeden Abend für ihren Vater beim lieben Gott um seine Gesundheit gebetet hat. Mutter ist jetzt Witwe und seit diesem Tag ist sie nur noch schwarz gekleidet. Sie ist ab jetzt eine andere Frau, die nie mehr beim Nähen singt und keine Träume mehr für sich hat. Für Frida ändert sich zunächst nicht viel. Ihre beiden älteren Schwestern hingegen, spüren das Schicksal stärker. Die 19jährige Erna muss sich im Herbst von ihrem Verlobten Theo verabschieden, der einberufen wird. Sie wollten eigentlich in diesem Sommer heiraten, hatten es aber nach Vaters Tod aus Trauer und Respekt verschoben. Hiltrud, die zwei Jahre jüngere, die nie viel geredet hat, ist jetzt noch wortkarger, lebt zurückgezogen und hilft der Mutter beim Nähen. Nur mit der Mutter und den beiden Schwestern spricht sie. Ein paar Tage in der Woche geht sie einer ältlichen Witwe in der Nachbarschaft zur Hand und führt deren Haushalt.

Das Geld im Hause Pautz muss jetzt noch akkurater verwaltet werden, die Preise für alltägliches explodieren inzwischen und die Mutter sitzt abends oft am Küchentisch und rechnet. Sie legt die Groschen von einem Haufen auf den anderen, aber auch so kann sie die drohende Notsituation nicht verhindern. Der Kriegswinter ist kalt, schneereich und kennt kein Erbarmen. Nur für die Kinder ist dieses Kältemonster eine Freude. Sie vergessen dabei die traurigen Dinge; der Schnee lädt zum Toben ein. Sie fahren mit viel Mut und gehörigem Schwung die vereisten Hügel hinab und schlittern heimlich auf den zugefrorenen Seen. Aber niemandem scheint das zu stören, die Erwachsenen haben anderes im Kopf. Nicht einmal Mutter Hilde schimpft mit Frida, die bei Einbruch der Dunkelheit mit blaugefrorenen Fingern und ohne ihre Fausthandschuhe nach Hause kommt. Die werden wir sicher morgen wiederfinden, meint sie nur und holt heißes Wasser aus der Wasserpfanne des Küchenherdes, um für Frida eine Wärmflasche zu machen. Der Küchenherd ist derzeit die einzige Wärmequelle in der Wohnung, denn der Kachelofen in der guten Stube muss kalt bleiben, Brennholz und Kohle sind knapp und teuer.

Mutter Hilde plagen noch andere Sorgen und auch ihr gütiges Lächeln hat sie verlernt. Die Zukunft ihrer älteren Töchter bereitet ihr großes Kopfzerbrechen. Sie möchte beide gut versorgt wissen und sie nicht als alte Jungfern versauern und verblühen sehen. Also überlegt sie hin und her, betet zu Gott mit der Zuversicht, dass er ihr helfen wird. Hoffentlich kommt Theo, Ernas Verlobter, heil aus dem Krieg zurück und sie können dann heiraten, so hofft sie. Sie streckt ihre Fühler aus, um auch für die stille Hiltrud einen Mann zu finden. Da wäre ihr schon eine große Sorge genommen, wenn es gelingen würde. Um die Ecke hier im Ort lebt ein kinderloser Witwer, der wegen eines Beinleidens nicht in den Krieg ziehen musste. Eine Schönheit ist er zwar nicht, aber er macht einen soliden Eindruck und bekommt darüber hinaus eine gute Pension. Das wäre doch die Lösung, um Hiltrud unter die Haube zu bringen. Für Frida, ihrer kleinen Prinzessin, könnte sie dann besser sorgen. Sie steckt alle ihre Wünsche und Sehnsüchte in diese kleine Person, die wie ein Sonnenschein durch jeden Tag lacht. Zum Glück tut sie das, Kinder vergessen sehr schnell und außerdem meint Frida, dass sie ihren geliebten Vater eines Tages im Himmel wieder trifft und sie dort alle zusammen weiterleben werden. Das hat sie sich so ausgemalt und sie plappert jeden Tag darüber, wie es sein könnte, mit der Eisenbahn durch den Himmel zu fahren.

In der Zwischenzeit wird es Frühling im Kriegspommern, dann Sommer, dann Herbst …und endlich im November 1918 ist dieser Krieg zu Ende.

Auch der Kaiser ist weg. Aber hier in Pommern merken die Menschen nicht viel von den politischen Veränderungen. Die Not bleibt weiterhin. Lebensmittel, Kohle, Holz, einfach alles, was jeder so notwendig braucht, ist rationiert. Menschen stehen frühmorgens frierend in der Dunkelheit vor den Geschäften und warten geduldig auf das Wenige, was es zu kaufen gibt. Mutter Hilde ist jeden Tag unterwegs, dick eingemummelt in Schals und mit Kopftuch, um wenigstens ein paar Kartoffeln, einen Hering, Kohl oder Graupen und Brot zu ergattern. Zum Glück ist Theo, Ernas zukünftiger Ehemann, unversehrt aus dem Krieg zurückgekommen. Wenigstens ein Lichtblick in dieser trüben Zeit. Die beiden wollen nun endlich heiraten und bereden eifrig, wie sie in diesen kargen Zeiten ihre Hochzeit richten können. Mutter Hilde stiftet ihr eigenes Hochzeitskleid, das sie vorsichtig aus der Eichentruhe vom Boden holt. Ihre Gedanken gehen zurück in die herrliche Zeit, als sie selbst eine junge Braut war. Sie sieht sich glücklich lachend, mit ihren Freundinnen kichernd, schwatzend über Gott, die Welt und besonders über ihr zukünftiges Leben als Ehefrau. Sie denkt an ihren viel zu früh und so sinnlos verstorbenen Mann und weint wieder einmal still vor sich hin. Das kann sie jetzt gerade, denn sie ist allein im Zimmer. Dann holt sie Schere und Nadeln, lächelt wieder und freut sich für ihre Tochter auf den bevorstehenden feierlichen Tag und trennt den Saum am Kleid auf.

Auch für Hiltrud sieht es in Sachen Heirat nicht schlecht aus. Der Witwer von 30 Jahren, der um die Ecke wohnt, ist gar nicht abgeneigt, nachdem er sich von Hilde seinen Gehrock ändern ließ und Hiltrud bei dieser Gelegenheit kennen lernte. Er bewundert ihre Jugend und auch, dass sie gut Kochen und Backen kann. Besonders hat es ihm Hiltruds Kastanienkuchen angetan. Das hat ihn wohl überzeugt, denn nach nur vier Wochen macht er ihr einen Heiratsantrag. Emil ist eben ein sehr praktischer Mann in den besten Jahren. Ein wenig stolz ist er schon, dass sie zudem auch noch hübsch aussieht und nicht auf den Kopf gefallen zu sein scheint.

Mutter Hilde ist zufrieden, dass sich ihre "Bemühungen" gelohnt haben, denn schließlich hatte sie ja die erste Begegnung der beiden im wahrsten Sinne des Wortes eingefädelt. Sie ist glücklich darüber, dass es bei den beiden tatsächlich "gefunkt" und die Liebe Einzug gehalten hat. Sie machen Nägeln mit Köpfen und Hiltrud benötigt nun auch noch ein Hochzeitskleid. Aber auch dafür findet sich eines im Truhenfundus.

Die beiden Paare beschließen, im kommenden Sommer eine Doppelhochzeit zu feiern. Das passt doch gut. Das Fest wird dann auf dem Bauernhof von Ernas zukünftigen Schwiegereltern in Hohen Schönau gefeiert werden. Hiltrud und Erna träumen jetzt schon davon. Doch bis dahin müssen sie sich noch ein Weilchen gedulden.

Dicker Schnee hüllt die Welt ein und beschützt die Saat auf den Feldern vor Frost. Jeder hofft auf eine gute Ernte in diesem Jahr 1919 und darauf, dass nun alles besser wird, obwohl jeder ahnt, dass der ständige Kampf ums tägliche Brot noch lange nicht zu Ende sein wird. Aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier und der Bürger in Pommern ist besonders geduldig.

Die Tage bis zum Frühjahr vergehen mit Alltäglichkeiten. Mutter Hilde bereitet ihre erwachsenen Töchter auf ihr zukünftiges Leben als Ehefrau vor. Frida spitzt interessiert beide Ohren, um zuzuhören. Aber oft geschieht es auch, dass die Kleine zum Spielen ins andere Zimmer geschickt wird, denn nicht alles ist für Kinderohren bestimmt. Das macht für das Mädchen eine Heirat nur noch geheimnisvoller und aufregender. Überhaupt kommt sie dieses Jahr nicht aus der Aufregung heraus, denn das Osterfest rückt näher und näher. Das ist der Zeitpunkt, wo Fridas neuer Lebensabschnitt beginnt. Sie freut sich von Herzen darauf, dass sie dann endlich in die Schule darf. Die Volksschule ist ein ganzes Stück von der Siedlung entfernt, aber das macht ihr nichts aus. Ein paar andere Kinder aus der Nachbarschaft gehen sicher den Schulweg mit ihr gemeinsam. Sie möchte endlich schreiben, lesen und rechnen lernen. Sie ist inzwischen sieben Jahre alt und ein großes Mädchen. Mutter muss ständig ihre Kleider ändern. Sie hat ihr auch schon gezeigt, mit Nadel und Faden umzugehen und Frida kann schon einen Knopf annähen, ohne sich ständig in den Finger zu stechen. Auch Socken mit dem hölzernen Stopfpilz zu stopfen, beherrscht sie inzwischen. Bis es soweit war, hat sie viele Tränen vergossen, weil sich der Wollfaden ständig verknotet hat. Das war schon ärgerlich, auch wegen der teuren Stopfwolle. Die Mutter ist stolz auf sie und findet sogar ihr altes Lächeln wieder.

Der Frühling ist in diesem Jahr besonders schön. Die Menschen haben jetzt, wo Frieden eingekehrt ist, viel mehr Zeit und Muße, auf die Natur zu achten. Auch Frida ist mit ihrer Mutter oft an den Wochenenden draußen. Frida in ein luftig gehäkeltes rosa Strick-Jäckchen gehüllt und auf den Locken einen Strohhut mit blauen Satinbändern, die mit dem Himmel um die schönste Farbe wetteifern, so spaziert sie hinaus aus der Stadt. Mutter hält sie fest an der Hand. Sie passt in ihrem schwarzen Kleid, dem Überwurf und dem Hut mit Schleier, der einen Teil ihres Gesichts verhüllt, so gar nicht in diesen lauen Frühlingstag. Aber sie kann nicht über ihren Schatten springen, denn sie spürt die Trauer um ihren geliebten Mann. Durch Wiesenniederungen und am Wald entlang, spazieren sie bis zum Naugarder See. Frida wirft Kieselsteine ins Wasser und schaut zu, wie sie in den Wellen versinken und neue erzeugen. Später machen sie Rast unter einem hohen Baum. Die liebe Mutter hat auch daran gedacht, etwas Proviant mitzunehmen. Heute sind es Brote mit dickem Zuckerrübensirup und Frida leckt sich genüsslich die Finger sauber. Mutter ermahnt sie, eine Serviette zu benutzen. Fingerabschlecken, dass tun Schulmädchen nicht, sagt sie bestimmt, aber trotzdem liebevoll.

Es sind nur noch wenige Wochen bis zum Schulanfang. Mutter ist fleißig dabei, alles für diesen neuen Lebensabschnitt vorzubereiten. Sie näht ein strapazierfähiges Baumwollkleid mit passender Schürze. Hiltruds Lederranzen wurde von Boden geholt und mit Schuhwichse auf Hochglanz gebracht. Ein neues Schwämmchen baumelt schon, befestigt mit einem Bindfaden an einer Seite des Ranzens, und zeigt der „ganzen Welt“ ich bin der Tornister einer Erstklässlerin.

Frida ist aufgeregt, ihre beiden Schwestern haben ihr bereits viel über die Volksschule erzählt und ihr auch die Angst vor dem Lehrer mit dem Rohrstock genommen. Dieser Stock wird die meiste Zeit als Zeigestock verwendet, so berichten sie froh. Nur böse Buben müssten ihn ab und an spüren, so wie beim Lehrer Lempel in Fridas Bilderbuch. Wie gut ist es doch, dass ich Erna und Hiltrud habe, freut sich die Kleine und schaut sich den neuen Holzkasten an, der heißt Griffelkasten, drinnen liegt der Griffel. Mit dem kratzt sie schon mal probeweise auf der Schiefertafel, ihr abwischbares „Schulheft“ im ersten Schuljahr. Erst im zweiten Jahr wird mit einer Schreibfeder und dunkler Tinte in Hefte geschrieben. So viele neue Dinge, die da auf die Siebenjährige zukommen. Frida kann abends kaum vor Aufregung ihre Augen schließen. Nach ihrem Nachtgebet plappert sie noch ihren ausführlichen Bericht an ihren Vater in den Abendhimmel. Dort oben im Himmel soll er das Geschehen hier unten Tag für Tag mitverfolgen können, damit er bloß nichts verpasst bis zum Wiedersehen.

Dann der erste Tag in der Grundschule, der ihr mit einer Zuckertüte versüßt wird. Bunt ist diese, aus Pappe mit einem Osterhasenbild und Ornamenten verziert und so lang wie Fridas Arm. Sie freut sich und noch mehr darüber, was sie darin entdeckt: Süße Erdbeerbonbons, sogar eine kleine Tafel Schokolade mit Sammelbildchen, die sie so gern mag und Buntstifte für ihre Nachmittage zu Hause. Dann wird es ernst und sie sitzt mit den anderen Erstklässlern aufgeregt im Klassenzimmer. Vier verschiedene Klassenstufen werden von dem großgewachsenen Lehrer unterrichtet, der sich mit lauter Bassstimme Respekt verschafft. Der Rohrstock lehnt lauernd am Lehrerpult, aber am ersten Tag bekommt er keine Arbeit. Das gefällt Frida und sie hüpft fröhlich an der Seite ihrer Mutter und Schwestern nach der ersten Schulstunde nach Hause und der kleine Schwamm am Tornister schwingt fröhlich mit.

Aber es geht noch nicht nach Hause, nein, es geht zu einem Fotografen, in ein richtiges photographisches Atelier gleich neben dem Rathaus. Der Meister erwartet sie schon. Geschäftig begrüßt er alle und die Schulanfängerin steht heute im Mittelpunkt. Frida wird fotografiert. Verlegen zupft sie an der rosa Schleife, die ihr die Mutter heute früh kunstvoll ins Haar gebunden hat und wartet darauf, was jetzt passieren soll. In dem riesengroßen Raum mit exotischen Palmenpflanzen, Truhen, Plüschsesseln, Lampen, Schaukelstuhl, einem bunten Schaukelpferd, Schirmen, Bärenfell, einem Grammophon und vielen anderen Gegenständen fühlt sie sich gar nicht wohl. Sie legt ihre Zuckertüte vorsichtig auf einen Hocker und fasst ziemlich keck, aber vorsichtig durch die Stäbe eines Vogelkäfigs und stupst einen bunten Papagei an, der täuschend echt aussieht. Sie merkt, hier wird geschummelt, der ist ja aus Plüsch. Herr Ladewig, der Fotograf stellt endlich seine gewaltige Stativ-Kamera in Position. Dann führt er die Debütantin zu einem hellen Korbsessel, in dem ihre Mutter bereits ganz kerzengerade sitzt. Er stellt Frida davor und sie muss wie eine Puppe ihre Hände vorm Bauch falten und auf die Zuckertüte schauen, die vor ihr auf einem Fußbänkchen liegt. Mutter muss ernst schauen und Frida darf in die große Linse der Kamera lächeln. Sie üben das erst ein paarmal, dieses posieren, bis es Meister Ladewig gefällt und er „superb“ ruft. Er ist zufrieden mit seinem Kunstwerk. Aber es dauert noch Tage, bis sie das Bild sehen werden, es muss nämlich erst noch chemisch behandelt werden, erklärt er, es wird entwickelt. Erst dann ist dieser Augenblick für die Ewigkeit festgehalten. So wird der Vater auch einmal dieses Foto sehen, wenn sie sich alle später im Himmel wieder treffen. Dann wird sie ihm erzählen, wie lange sie dabei still und steif zu stehen hatte, so denkt sie und glaubt fest daran. Ihre Mutter bezahlt noch den Fotografen und die Kleine staunt; da wechseln sogar Geldscheine den Besitzer. Kunst hat eben seinen Preis.

Endlich gehen sie nach Hause, Kunst machen, macht hungrig. Mutter holt die große Pfanne, Schmalz, Eier, Buttermilch und Frida springt hoch in die Luft vor Freude. Zur Feier des Tages gibt es Hefeplinsen mit Pflaumenkompott. Ihre beiden Schwestern sitzen wenig später mit am Küchentisch. Heute ist alles erlaubt, sogar die sonst so strengen Tischsitten sind gelockert. Beim Abwasch kehrt der Alltag wieder ein, das frischgebackene Schulkind trocknet brav ab und räumt das Geschirr später still und sittsam ein. Frida denkt dabei schon an den nächsten Tag, was dann so alles in der Schule passieren wird.

Wie ein Bienenschwarm, so summt es im Klassenzimmer mit den vierzig Kindern. Die Neuen schauen noch ängstlich auf das Treiben und Raufen. Besonders die Buben sind ganz schön frech und laut. Frida setzt sich auf ihren Platz und legt den Griffelkasten auf ihr Pult, hängt den Ranzen an den Haken und rutscht aufgeregt hin und her. Die Klingel schellt laut und schlagartig kehrt Ruhe bei den hier versammelten vier Grundschulklassen ein. Der Lehrer schreitet, den unerbittlichen Rohrstock kurz mit jedem Schritt auf den Holzdielen aufschlagend, bis zu seinem Pult vor der großen Wandtafel. Dann beginnt der Unterricht und Lehrer Tetzlaw dirigiert souverän seine vier Klassen. Es gibt erstaunlicherweise keine Stockung und er sieht den kleinsten Unfug. Ein kurzes Antippen mit dem Rohrstock, das verschafft Herrn Tetzlaw dann den gehörigen Respekt.

Frida lernt schnell mit dem Griffel auf ihrer kleinen Schiefertafel Buchstaben in Sütterlinschrift und Zahlen zu schreiben. Sie lernt viele Reime und Gedichte auswendig und das Kopfrechnen bereitet ihr Spaß. Sie erfährt viel über die Heimat, Tiere, Wald und Feld, über Benehmen, natürlich Religion, Singen und Turnen. Sie geht sehr gern mit den anderen Kindern in diese Volksschule. Ihre Mutter ist froh darüber und dies aus zweifacher Sicht, ihre Jüngste lernt gut und dazu ist der Schulbesuch jetzt kostenlos. So kann sie wieder Geld zurücklegen, um für Fridas Ausbildung zu sorgen. Denn sie hat später viel mit ihr vor. Sie möchte, dass ihr Kind alles machen kann, was ihr als Mädchen früher verwehrt war.

An einem strahlenden Maientag läuten die Glocken die Doppelhochzeit ein. Das Wetter hat sich alle Mühe gegeben, damit dieser Tag, auf den Erna und Theo so viele Jahre warten mussten, im schönsten Blau leuchtet, die Sonne golden strahlt und ein leichter Wind in den blühenden Fliederbäumen spielt. Hiltrud und ihr Emil, der den besagten Gehrock trägt, mit dessen Änderung eigentlich ihre Liebe zart begann, schauen stolz in die Runde und begrüßen die Gäste. Die Orgel ertönt und die Brautpaare schreiten hintereinander und sehr glücklich durch die Evangelische Marienkirche bis zum Altar. Dort erhalten sie den kirchlichen Segen und gefeiert wird auf dem kleinen Bauernhof von Ernas Schwiegereltern in Hohen Schönau. Die Hochzeitsgesellschaft kutschiert fröhlich mit Pferden und Wagen durch die Felder dorthin. Drinnen im Hof steht eine lange Tafel, hübsch gedeckt und mit Frühlingsblumen geschmückt. Alles, was Küche und Keller zu bieten haben, wird aufgefahren. Das ist gar nicht so einfach in diesen Zeiten, denn die Nachwehen des vergangenen Krieges sind immer noch zu spüren. Aber die Ausrichtenden haben gut gespart und gehortet. So ist jetzt mehr als genug für alle da. Die Räucherkammer hat Schinken und Würste ausgeworfen, Schwein und Geflügel sind gebraten, Suppen dampfen, Kuchen, Torten, Pudding und Eingewecktes warten darauf, verspeist zu werden. Dazu genügend Bier und Wein zum Anstoßen. Die Brautpaare sind hübsch anzusehen, Erna in ihrem passend geschneiderten weißen Spitzenkleid und dem hübschen, langen Schleier. Hiltrud im duftigen beigen Kleid steht ihr nicht nach. Ihr aller Lachen klingt glücklich und sie lächeln froh in die Runde. Zur Feier des Tages steht ein Grammophon mit Kurbel und großem Trichter auf einem kleinen Tisch an der Seite. Und natürlich fehlen die Schelllackplatten mit bekannten „Gassenhauern“, so heißen in dieser Zeit die Schlager, nicht. Es darf später nach den obligatorischen Reden und Hochzeitsspäßen ausgiebig und bis spät in die Nacht hinein, getanzt und gefeiert werden. Mutter Hilde ist glücklich und froh, dass sich alles zum Guten gewendet hat. Sie dankt an diesem Abend Gott und hätte so gerne, wenn auch nur für einen Moment, ihren geliebten Mann an ihrer Seite gehabt.

Am späten Abend gehen Mutter Hilde und Frida allein nach Hause. Das wird ab jetzt immer so sein, nur noch sie beide leben ab heute in der Wohnung, das ist noch ungewohnt. Mutter Hilde schließt die Wohnungstür auf und bringt Frida schnell ins Bett, die erstaunlicherweise ohne das kleinste Gegenargument ihr langes Nachthemd überstreift und sich geschwind ins Bett legt. Nach einem Gutenachtkuss schläft das Mädchen mit einem Lächeln auf den Lippen ein und träumt sich in den neuen Tag.

Das Leben geht weiter. Die beiden frischgebackenen Ehepaare leben ihr eigenes Leben. Ab und zu trifft sich die gesamte Familie zum Kaffeetrinken oder zum Mittagessen. Über alles wird dann geschwatzt. Frida ist immer froh, ihre Schwestern zu sehen, denn die fehlen ihr schon sehr. Auf so einem Treff erzählt Hiltrud verschämt und doch sehr glücklich, dass sie ein Baby erwartet. Erna, die ältere, hört staunend zu, bei ihr hat der „Klapperstorch noch nicht angeklopft“. Von jetzt ab wird gehäkelt, gestrickt und genäht. War es früher für die Aussteuer der drei Mädchen, so jetzt für den neuen Erdenbürger, der im Frühjahr 1921 zur Welt kommen soll.

Wieder wird es Winter und Ende Januar 1921 wird Hilde ins Haus ihres Schwiegersohnes Emil gerufen. Eilig stapft sie durch den hohen Schnee, denn ihrer Tochter geht es gar nicht gut. Hiltrud liegt mit hohem Fieber im Bett und erleidet eine Fehlgeburt. Lange Wochen ist sie geschwächt und unglücklich. Ihr Mann schenkt ihr einen grünen Wellensittich in einem hübschen Vogelbauer und wirklich, das muntert sie wieder etwas auf. Sie versucht ihm das Sprechen beizubringen und sitzt nach ihrer Genesung jede freie Minute bei ihm, um ihm ein paar Worte zu entlocken. Jetzt kommt sogar Frida gerne zu Besuch zu Hiltrud, obwohl sie eine gewisse Ehrfurcht vor Emil hat. Der wirkt auf sie immer etwas streng und ohne Humor.

Vier Millionen Reichsmark für ein Brot; Frauen, die zum ersten Mal ihren Wahlzettel in eine Wahlurne werfen dürfen und der Stummfilm lernt das Sprechen. Das ist Deutschland in der Weimarer Republik. Seit dem der Kaiser seinen Hut nehmen musste, verändert sich das Land in allen Bereichen. Fortschritt auf der einen Seite und unüberwindliche Gegensätze auf der anderen. Die Auswirkungen des Krieges spüren die einfachen Leute noch immer doppelt und dreifach. Doch sie krempeln die Ärmel hoch, ohne viel zu klagen und finden sich damit ab. In Hinterpommern brauchen politische Umwälzungen sowieso immer länger, das liegt an der Bedächtigkeit und an der gewissen Sturheit seiner Bewohner. Zudem sind die Beamten in den Amtsstuben, die Lehrer, die Land- und Fabrikbesitzer, dieselben geblieben. Gut Ding braucht Weile und so sieht das Leben äußerlich so aus, wie zu Kaisers Zeiten. Halt, nein, doch nicht ganz. Der alte Zopf muss ab und der Bubikopf erobert auch das Land an der Danziger Bucht.

Mutter Hilde staunt nicht schlecht als ihre beiden verheirateten Töchter eines Nachmittages mit kurzem Haarschnitt und Wasserwellen onduliert zum Kaffeetrinken erscheinen. Ihre erste Frage an die beiden: „Habt ihr eure Ehemänner um Erlaubnis gefragt?“ Nicht ungewöhnlich, denn der Herr des Hauses hat stets das letzte Wort. Frida steht staunend daneben und schaut auf die neuen Frisuren ihrer Schwestern. Doch ihre lange Lockenpracht, die gefällt ihr besser. Auch diese komischen Kleider mag sie nicht. Die Musik dagegen, diese Schlager, die summt sie leise, wenn sie mit der Mutter beim Nähen sitzt. Da hört Mutter Hilde schon mal, dass die Berliner Luft so einen besonderen Duft hat oder dass im Monde Schlösser liegen. Sie lächelt, ihr gefallen diese Operettenmelodien gut. Außerdem geht so das eintönige Umstechen der Säume mit der Nadel flinker von der Hand.

Genauso flink vergehen die vier Grundschuljahre für Frida. Sie mag das Lernen, begreift schnell und hat eine schöngeschwungene Handschrift. Der Lehrer lobt sie oft und der Rohrstock hat bei ihr überhaupt keine Arbeit. Das Schulmädchen sitzt gerade und antwortet nur, wenn es gefragt wird. Na ja, um bei der Wahrheit zu bleiben, es gibt die eine oder andere Ausnahme, aber die ist ganz selten, da kann sie nicht ihr Mäulchen halten. Warum lassen sich die anderen mit der richtigen Antwort eigentlich so viel Zeit? Lehrer Tetzlaw drückt schon mal beide Augen zu und geht darüber hinweg. Er freut sich am Gedeihen der kleinen Frida und auch ihre Mutter respektiert er. Er weiß, dass sie es nicht einfach hat, in diesen Zeiten. Die Inflation fordert immer noch ihren Tribut und Witwe Hilde lässt ihre Nähmaschine fast rund um die Uhr rattern, aber das Geld reicht vorne und hinten nicht. Da ist es gut, dass sie zwei erwachsene Töchter hat, die ihrer Mutter treu zur Seite stehen. Besonders Erna, die ja mit ihrem Ehemann Theo bei ihren Schwiegereltern auf dem kleinen Gut wohnt, bringt oft Eier, Kartoffeln, Butter oder Schinken vorbei. Das sind dann immer Festtage für die kleine Familie. Mitte der zwanziger Jahre wird die Lage endlich spürbar besser im Pommernland. Frida ist tüchtig gewachsen und reicht ihrer Mutter schon bis an die Schultern. Sie ist stolz auf ihre hübsche Tochter, die schon fast kein Kind mehr ist. In den Zeugnissen stehen nur gute Zensuren und sie macht sich Gedanken, wie es nach der Volksschule mit ihr weitergehen wird. Darüber spricht sie mit Lehrer Tetzlaw. Sie hat einen Plan; sie möchte ihrer jüngsten Tochter deren Wunschtraum erfüllen, denn Frida möchte Schneiderin werden und später vielleicht selbst einmal Kleider für ein Modehaus entwerfen. Der Lehrer hört aufmerksam zu, er unterbricht Frau Pautz nicht, dafür achtet er sie viel zu sehr und es könnte auch sein, dass der Junggeselle sie sogar ein wenig schwärmerisch verehrt. Diese schwarzgekleidete Frau, ist eine interessante, resolute und auf ihre Art wunderschöne Frau. Er bestärkt sie, ihr Vorhaben weiter zu verfolgen und bietet sich sogar an, nach geeigneten Lehrstellen Ausschau zu halten.

Mutter und Tochter spazieren gerne nachmittags durch Naugard. Sie gehen dann zuerst in die Kirche und Frida schickt einen lieben Gruß an ihren Vater im Himmel. Sie glaubt, dass das in der Kirche schneller geht und ihr Gebet besser bei ihm ankommt. Danach flanieren beide durch diesen schönen Sommertag, vorbei an der alten Stadtbefestigung und am 1911 neu erbauten Rathaus, das seine neobarocken Jugendstilfassaden stolz in den Sommerhimmel reckt. Vorbei geht es auch an den beiden Ulmen, deren Wurzeln mit Moos bewachsen sind. Über zehn Meter sind diese Bäume hoch und um die 600 Jahre alt. Was diese betagten Bäume wohl schon alles gesehen haben? Heute zwei fröhlich lachende weibliche Geschöpfe, die angeregt über die Zukunft plaudern und in Richtung der modernen Geschäftsstraßen gehen.

Hier hat sich viel getan. Der wirtschaftliche Aufschwung ist angekommen und Pommern wird für den Fremdenverkehr wiederentdeckt. Es entstehen Hotels, Badeanstalten, neue Geschäfte und Restaurants. So fließt Geld in die Städte, die davon profitieren und noch größer und schöner werden.

Hilde und Frida drücken sich ihre Nasen an den großen Schaufensterscheiben der Modegeschäfte platt. Wobei dies mehr Frida macht, denn eine Dame wie Hilde, die schaut nur wohlgesittet. Schick gekleidete Damen kommen aus den Geschäften, die Bediensteten tragen ihnen Hutschachteln und viele andere Pakete hinterher. Das ist die Stadt Naugard in diesen Sommertagen, unbeschwert und leicht für alle. Und er wird noch schöner, dieser Sommer 1926. Mutter Hilde greift sogar in die sorgsam gehütete Zigarrenkiste, um etwas vom zurückgelegten Geld herauszuholen. Lange wägt sie vorher ab, aber das forsche „Ja“ überstimmt letztendlich das vorsichtige „Nein“ und so plant sie einen Familienausflug an die Ostsee. Es sind nur 55 Kilometer bis zum Strand und warum eigentlich nicht? Vielleicht dürfen Erna und Hiltrud auch mit ans Meer und ihre Ehemänner schließen sich an. Aber sie dürfen nicht, Theo und Emil halten nichts von dieser neumodischen Badekultur. Ostseewasser, nackte Haut und Sonnenschein, das ist denen nicht geheuer. Frida aber freut sich auf diesen Tag am Meer mit ihrer Mutter. Hoffentlich hält die Sonne, was sie in diesem Juli bisher so großzügig verschenkt, auch dann. Ein wenig wird die Vorfreude getrübt, ins Wasser darf Frida nicht, denn Mutter findet es für ihre Heranwachsende nicht schicklich. Frida handelt mit viel Überredungskunst und Umarmungen wenigstens ein kurzes Fußplantschen aus.

Sehr früh am Sonntagmorgen wird alles zusammengepackt; der Korb ist gut gefüllt mit Vesperbroten und Getränken. Sie gehen zum Bahnhof und sitzen wenig später im Zug. Pfeifend und dampfend fährt er ab, über Greifenberg und Treptow. Vorbei geht es an Feldern, Wäldern und an den Strandseen der Pommerschen Seenplatte bis an die Ostseeküste bei Colberg. Frida schaut und staunt, auch über den Fahrkartenkontrolleur, der sie in seiner feschen Uniform irgendwie an ihren Vater erinnert, besonders der dunkle Schnurrbart. Sich seiner Autorität bewusst, prüft er die Fahrkarten, locht sie und meint dann lächelnd: „Noch eine Viertelstunde und wir haben den Zielbahnhof erreicht.“ Der Wind ist ganz anders als in ihrem Städtchen, er bläst ihnen den würzigen Lufthauch der See als Willkommensgruß ins Gesicht. Die beiden Frauen müssen sich ihre Strohhütte fest auf die Köpfe drücken. Sie trauen hier ihren Hutnadeln nicht und die hellblauen Bänder an Fridas Hut flattern so, als wollten sie ganz schnell zum goldenen Sand.

Die schnatternden Möwen zeigen ihnen den Weg. Frida wäre am liebsten von einem Bein auf das andere gesprungen, so wohl fühlt sie sich heute. Aber das macht eine „kleine Dame“ doch nicht, also trippelt sie im Gleichschritt mit ihrer Mutter. Das Schilfröhricht wiegt alle seine braunen Köpfe im Takt mit, als Frida leise ein Liedchen summt und sogar der braune Henkelkorb an Mutters Arm scheint mitzumachen. Und dann sehen sie das Meer, es funkelt blausilbrig. Am Ende ihres Blickes scheint es ohne Übergang mit dem Himmelsblau zu verschmelzen.

Frida ist sprachlos, denn sie sieht das alles zum ersten Mal. Mutter breitet eine Decke aus und sie machen an einer besonders schönen Stelle Rast. Hier liegen blitzende, blankgewaschene Kieselsteine und ruhig ist es auch, denn die öffentliche Badeanstalt ist ein ganzes Stück weiter entfernt. Dorthin strebt das mutige Publikum, das sich ins Wasser wagt. Badehäuschen stehen zum Umkleiden bereit, die dann ins Wasser gezogen werden oder bereits ihren Standort im kühlen Nass haben. Von dort aus „sticht“ in erster Linie das weibliche Publikum vorsichtig in See. Die Männer in ihren Trikots sind da schon mutiger und natürlich auch viele Kinder. Das Geschrei und das Lachen sind weit zu hören. Frida zieht ihre Schnürstiefel und die weißen Strümpfe aus und zeichnet mit ihren Zehen kleine Figuren in den warmen Sand. Einigen vorwitzigen Wellen gelingt es sogar, ihre Füße spritzend nass zu machen. Sie erschrickt, denn das Ostseewasser ist ziemlich kühl. Die Mutter reicht ihr lächelnd ein Handtuch, das sie vorausschauend in den Korb gepackt hatte. Das Butterbrot schmeckt doppelt gut, denn Salz Luft macht hungrig und der Pfefferminztee löscht den Durst. Mutter Hilde erinnert sich an ihre Kindheit und an eine Stelle hinter den Dünen, wo sie vor vielen Jahren einen goldfarbenen Bernstein fand. Frida ist begeistert von der Aussicht, eine Schatzsucherin zu sein. Vielleicht findet sie auch ein Stück Bernstein und vielleicht ist darin sogar in kleines Fossil aus längst vergangener Zeit eingeschlossen. Lehrer Tetzlaw hatte in einer Schulstunde einmal davon erzählt. Frida hat ziemlich Not, ihre Zehen vom Sand zu befreien, bevor sie wieder in ihre Strümpfe und Schuhe schlüpfen kann. Es gelingt schließlich und sie schlendern in besagte Richtung. Die Augen auf den Sand und das glitzernde Wasser gerichtet, mit einem kleinen Stöckchen verdächtiges Terrain untersucht, so agiert Frida, um den Schatz aufzuspüren. Aber es passiert nichts, nur blinder Alarm und der Wind bläst dazu kräftig. Was da blinkt und glitzert, ist kein Bernstein, sondern blanke Kiesel oder Muscheln. Wo hat sich bloß das Gold des Meeres versteckt? Doch endlich sieht sie im Spülsaum der unruhigen See, versteckt zwischen Tang und Holz, ein winziges honigfarbenes Stück. Vorsichtig greift sie danach und die kleine Forscherin hat Glück. Ihre Mutter freut sich mit ihr und kürt sie zur Bernsteinkönigin. Glücklich und unbeschwert sind die beiden und sie wünschen sich, dass das für immer und alle Ewigkeit so bleiben soll. Doch ihre Ewigkeit besteht leider nur aus Sekunden, Minuten, Stunden und einem Zug mit Dampflok, der pünktlich wieder nach Naugard fahren wird. „Also bitte Frida, nicht trödeln, wir müssen zum Bahnhof“, so holen Mutters Worte die Träumerin in die Wirklichkeit zurück. Müde und glücklich sitzen beide dann auf den Holzbänken im Zug. Ab und an werden Fridas Lider so schwer und ihre Augen so klein, dass der Schlaf sie überredet, einfach etwas zu träumen. Mutter Hilde hält sie lächelnd im Arm und beobachtet ihre Kleine, sie scheint diesen schönen Sommertag noch mal zu erleben. Mit der Faust hält dabei ihren Bernsteinschatz fest. Er wird ihr und der Mutter sicher Glück bescheren.

Aber das ist so eine Sache mit dem Bernstein, als auch mit dem Glück und das besonders dann, wenn Mutter Hilde aus Liebe unehrlich ist und Frida verschweigt, dass dieser vermeintliche Bernsteinfund nur eine kleine Glasscherbe ist, deren scharfe Kanten von der Zeit und den ewigen Wellen blankgeschliffen sind.

Nach diesem Sommer beginnt für Frida das letzte Jahr in der Volksschule. Ihre Schulzeit wird danach zu Ende sein. Lehrer Tetzlaw hat eine Damenschneiderin in Danzig ausfindig gemacht, die ab nächsten Sommer ein Lehrmädchen einstellt. Frida kann dort, wenn alles gut geht, vier oder fünf Jahre alles rund um Nadel und Faden erlernen. Ihre Mutter muss dann allerdings Lehrgeld bezahlen und zu Kost und Unterbringung beitragen. Deshalb will Hilde weiter sparen, um Frida diese Ausbildung zu ermöglichen. Damit wäre dann ein guter Grundstein für Fridas Leben gelegt und vielleicht wird später auch ihr Traum, als Modistin zu arbeiten, Wirklichkeit.

Der Herbst legt seine bunten, warmen Farben an und verwöhnt die Menschen in Pommern mit freundlichem Wetter. In den Wäldern gibt es viele Pilze, Beeren und Kräuter zu sammeln. Mutter und Tochter nutzen diese Tage, um sich für den Winter Vorräte anzulegen. Schon frühmorgens an den Wochenenden streifen sie durch Wald und Feld, um zu sammeln. Frida wundert sich schon etwas darüber, dass ihre flinke Mutter oft den Korb mit Blaubeeren absetzen und Pausen einlegen muss. Ein trockener Husten plagt sie, besonders nachts. Frida sorgt sich sehr, weil ihre Mutter oft rotwangig aussieht und ihre Lippen rissig sind. Mutter tut das resolut mit einer Erkältung ab, kocht sich Brusttee, macht sich heiße Kartoffelwickel und es scheint, es füge sich alles zum Guten. Doch im November kommt der Husten mit dem kalten Wind und dem unwirtlichen Regen zurück. Auch die beiden älteren Schwestern machen sich jetzt große Sorgen, Mutter Hilde ist nicht mehr wie sie einst war; ihr starker Wille ist verschwunden, sie ist dünn und zerbrechlich geworden. Doch Hilde Pautz will nichts von einem Arztbesuch wissen. Sie meint: „So einen Quacksalber, den lasse ich nicht an mich ran.“ So wird es Dezember und Schnee und Kälte sind im Pommernland eingekehrt. In der Innenstadt von Naugard sind die Geschäftsstraßen festlich geschmückt. Lichter blinken, es duftet nach Tannengrün und allerlei Leckereien. Die Kinder schauen und staunen, besonders vor den Spielwarengeschäften. Dort sind viele bunte Dinge zu sehen; Schaukelpferd, Trommel, Kasperlepuppen und andere Kinderträume. Die Heilige Nacht rückt näher. Doch die Vorfreude ist diesmal in Fridas Familie getrübt, denn Mutter Hildes Zustand wird und wird nicht besser.

Die Marienkirche ist wie jedes Jahr im Advent mit einem großen Adventsstern geschmückt. Frida muss jetzt allein dorthin gehen, die Mutter schafft es nicht mehr. Außerdem ist es viel zu kalt und der lange Weg dorthin ist deren Gesundheit nicht dienlich. Also macht sich Frida auf, dick eingemummelt und im Fausthandschuh trägt sie das kleine Stückchen Bernstein mit sich. Sie will, dass der Bernstein Kraft aus der Kirche aufnimmt und diese später der Mutter zu Hause abgibt, damit sie wieder gesund wird. In der Kirche hat sie doppelt zu tun; Gebete an den lieben Gott und an den Vater. Das alles lastet jetzt allein auf ihren zarten Schultern.

Es schneit, der Nordwind bläst und es scheint eine eiskalte Weihnacht zu werden. In der kleinen Siedlungswohnung von Hilde und Frida bullert der mit Holz gefütterte Küchenofen zufrieden. Er hat heute genügend „Nahrung“ bekommen. Schwester Hiltrud hat mit Ehemann Emil eine Ladung Holz vorbeigebracht. Der Handkarren wurde von beiden mühsam durch den hohen Schnee geschoben. Jetzt packen sie noch die anderen Mitbringsel auf den Küchentisch; ein Suppenhuhn, frischgebackenes Brot, einen Krug mit frischer, jetzt fast gefrorener Milch, und eine kleine Tanne, damit es auch in dieser Wohnung weihnachtlich aussieht. Eigentlich wollte die ganze Familie bei Erna und Theo in Hohen Schönau das Weihnachtsfest feiern. Nach der Weihnachtsmesse in der Marienkirche von Naugard sollte es dann mit dem Pferdeschlitten dorthin gehen. Alle hatten sich schon darauf gefreut, doch die Krankheit der Mutter erlaubt das nicht. Es wird wohl am Heiligen Abend ein Treffen in deren Wohnung werden und ob Mutter Hilde es zur Kirche schaffen wird, das steht noch in den Sternen. Hiltrud und Emil versuchen, die kranke Hilde doch noch zu einem Arztbesuch zu überreden, aber sie lehnt ab. Unglücklich darüber stapfen sie mit ihrer Karre durch die kalte Nacht wieder nach Hause.

Trotz Müdigkeit setzt Hilde noch den großen Topf mit dem Suppenhuhn auf. Dann schaut sie im Lehnstuhl sitzend zu, wie Frida den Baum schmückt. Sie hat rote Äpfel poliert, die im Herbst gesammelten Walnüsse bemalt und Sterne aus Papier gebastelt. Den Baumbehang hängt sie liebevoll an die zarten Äste des Tännchens, das auf der Kommode steht und herrlich nach Harz duftet. Obenauf kommt ein kleines Engelchen aus glitzerndem Papier.

Mutter ist eingenickt und atmet unruhig. Sie hat heute wieder pflichtbewusst an der Nähmaschine gesessen, obwohl ihr die Brust so schmerzt. Doch sie lässt sich nichts anmerken und ist froh, dass sie ihre Näharbeit mit Mühe und Not schafft. Alles geht ihr schleppend von der Hand und der Husten unterbricht oft erbarmungslos ihre Beschäftigung.

Frida freut sich auf Weihnachten, besonders auf den Gang zur Kirche und vielleicht gibt es ja auch ein kleines Geschenk. Sie ist in ihre Arbeit versunken und freut sich, dass ihr Bäumchen so schmuck aussieht. Jetzt endlich haben sie die Weihnacht auch in ihrer Stube. In der Küche köchelt die Henne im Topf auf dem Herd, dem langsam der heiße Atem ausgeht, doch das tut der Hühnersuppe besonders gut. Sie wird am nächsten Tag ihre heilsame Kraft der Mutter spenden, die neue Stärkung braucht. Daran denkt Frida, als sie ihre abendlichen Grüße an den Vater und das Gebet in den Himmel schickt.

Die freien Tage vor dem Christfest beginnen. Lehrer Tetzlaw wünscht allen ein frohes Fest und ermahnt sie, sich nicht die Bäuche mit zu viel Essen vollzuschlagen, sondern sich in dieser Zeit besonders gottesgefällig zu benehmen. Der Rohrstock lehnt am Lehrerpult und es sieht so aus, als schaue er mit seinem Knauf auf einige besonders freche Buben. Dann schrillt die Schulklingel, alle rennen hinaus und hinter dem Zaun am Waldesrand beginnen einige besonders mutige Kinder eine zünftige Schneeballschlacht. Doch das kann der kurzsichtige Herr Lehrer schon nicht mehr sehen. Er steht noch bei Frida, erkundigt sich nach ihrer Mutter und trägt ihr Weihnachtsgrüße an sie und ihre Schwestern auf. Beide waren auch Schülerinnen bei Herrn Tetzlaw. Er streicht ihr übers Haar und schickt sie den tobenden Kindern hinterher, bevor er bedächtig zu seiner Wohnung geht, die sich im Anbau der Schule befindet. Der Rohrstock hat jetzt in den Ferien eine neue Aufgabe, er sorgt für einen rutschfreien Gang durch den vereisten Schnee.

Frida macht noch einen Abstecher zum Gemischtwarenladen und kauft ein paar Markknochen. Sie möchte für ihre Mutter daraus eine stärkende Bouillon mit Markklößchen zubereiten. Frau Buttling schreibt die Summe an. Ende Dezember wird dann alles bezahlt. So ist das hier schon immer gewesen und die hölzerne Ladenkasse hat nur an Monatsenden zu tun. Mitfühlend erkundigt sich die dickliche Frau nach Fridas Mutter, schüttelt traurig den Kopf, schnieft in ihr großes Taschentuch und geht zum großen Bonbonglas, das bis unter dem Rand voll mit süß-saurer Köstlichkeit gefüllt ist. Sie greift hinein, fischt drei Bonbons heraus und gibt sie dem Mädchen. Glücklich stopft sich Frida den himbeerfarbenen gleich in den Mund. Die anderen wickelt sie vorsichtig ins Taschentuch, dankt, grüßt, schließt die Ladentür hinter sich und macht sich auf den Heimweg. Sie überlegt hin und her wie Weihnachten diesmal wohl werden wird und freut sich, dass ihr gehäkelter Umhang aus weicher Wolle doch noch fertig geworden ist. Mit dem Häkeln hat sie es nicht so, nähen geht ihr viel schneller von der Hand, aber Mutter wird sich sicher über diesen kuscheligen Wärmespender in dunklem Blau freuen.

Plötzlich landet ein Schneeball auf ihrem Schultornister. Sie erschrickt mächtig, aber es ist nichts passiert. Ein rothaariger dünner Junge mit viel zu kurzen Hosen will so auf sich aufmerksam machen. Es ist Fritz, der Klassenclown, der zwei Bänke hinter ihr sitzt. Gemeinsam gehen sie nach Hause, er wohnt gleich im Nachbarhaus.

Drinnen in der Küche wartet Mutter schon auf Frida. Sie ist beunruhigt, denn Frida war ungewöhnlich lange unterwegs, jetzt legt sich ihre Anspannung. Sie nimmt ihre Kleine zärtlich in die Arme und erfährt, was sich alles zugetragen hat. Frida möchte ihr eines ihrer süßen Schätzchen abgeben, aber die Mutter lehnt lächelnd ab. Sichtlich ermattet faltet sie die Näharbeit zusammen. Frida dagegen wird jetzt zur Köchin und „bemuttert“ ihre Mutter.

Einige Tage später ist Heiligabend und Frida bindet sich aufgeregt ihre dunkelblaue Schleife ins Haar. Sie freut sich auf die Christmette in der Marienkirche. Die Mutter wird dick eingepackt auf einen großen Hörnerschlitten gesetzt, mit Wärmflasche und weiteren Decken ausstaffiert und so zur Kirche transportiert. Zum Glück ist trockenes Wetter und es ist windstill. So erleben sie gemeinsam; Mutter Hilde, Frida, Erna, Hiltrud, Theo und Emil diese festliche Christmette. Der Chor singt wunderschön, der Pastor predigt feierlich und der Posaunenchor trompetet fast ohne falschen Ton. Doch das Schönste ist die Weihnachtsgeschichte. Maria, Josef das Jesus Kindchen in der Krippe und alle die Tiere rund herum. Schön ist das, schöner kann Weihnachten gar nicht beginnen.

Später fahren sie die Mutter sicher auf dem Schlitten durch den glitzernden Schnee nach Hause. Zur Feier des Tages blubbert der Ofen in der guten Stube und es ist wohlig warm im Raum. Hilde ist nach der Messe müde und die großen Töchter betten sie aufs Kanapee. Mit Kissen und Decken versuchen sie es ihr recht bequem zu machen. Die Schwiegersöhne sitzen derweil am Tisch und schwadronieren, rauchen ihr Pfeifchen und trinken ein paar Schnäpse, um sich aufzuwärmen, während die drei Schwestern in der Küche das Essen vorbereiten. Es duftet schon verführerisch nach Gänsebraten und „Gebäcksel“, so wird der Kuchen in Pommern genannt. Er wurde heute zum länglich spitzen Wolf mit Rosinenaugen geformt, so ist es hier Tradition. Endlich darf Frida den Tisch decken, ihre Wangen sind vor Freude gerötet. Sie legt auf die gestärkte weiße Tischdecke das Sonntagsgeschirr und die guten Bestecke. Mutter schaut ihr dabei zu und nickt lobend, Frida macht ihre Sache gut. Nach einem besonders festlichen Tischgebet wird lange und ausgiebig geschmaust, geredet und gelacht. Das darf heute sein, es ist doch ein Festtag und so selten, dass alle hier versammelt sind. Zur Feier des Tages hat Emil sogar eine Flasche roten Wein gestiftet. Mutter Hilde bekommt darin ein Eigelb und Zucker verrührt, es soll ihr neue Kräfte geben.

Später gibt es kleine Geschenke. Frida überreicht ihrer Mutter den selbst gehäkelten Umhang, den die sich glücklich umhängt. Frida bekommt eine zartgrüne Haarschleife und neue warme Socken. Sie freut sich, aber ihre Augen leuchten noch mehr, als sie ein kleines Kästchen öffnet, darin Nähutensilien. Nächstes Jahr wird sie die gut brauchen können, wenn sie zur Lehre nach Danzig gehen wird. Froh denkt sie an die kommende Zeit.

Nach der Bescherung geht es in der guten Stube ans Geschichten erzählen. Frida gruselt sich mächtig, als Hiltrud die Sage von den verwunschenen Seelen in der Stettiner Heide erzählt, die holen sich nämlich in der Christennacht Menschen, die sich streiten. Mit einem „Wolkenbrief“ ziehen sie die in ihre Mitte und sie müssen von diesem Zeitpunkt an bis in alle Ewigkeit jammern. Sie hofft inständig, dass keiner der Familie heute streitet. Es gibt auch so schon genügend, was alles erledigt werden muss, da wird jeder gebraucht.

Ihre Mutter schlummert vor sich hin, sie hat das Ende der Geschichte gar nicht mitbekommen. Aber sie kennt die sicher schon, denn Jahr für Jahr läuft das Weihnachtsfest ähnlich ab. Nur Frida darf sich darüber heute zum ersten Mal gruseln, sie hört diese Geschichte zum ersten Mal. Endlich wird gesungen. Das gefällt dem Mädchen und sie stimmt mit ihrem Sopran ein. Später erklingen Volkslieder, denn der Abend ist lang und das Repertoire an Weihnachtsliedern reicht nicht.

Das Mädchen wird müde und ihre Schwestern bringen sie und die Mutter zu Bett. Sie hört noch Stimmen und Lachen, bis sie in ihren Weihnachtstraum fällt. Sie begegnet darin der „goldenen Möwe“, aus einer pommerschen Sage entsprungen. Frida sieht sich mit ihrer Mutter an der verschneiten Ostseeküste entlanglaufen. Es ist bitterkalt, aber die Sonne scheint hell und gleisend. Plötzlich kommt diese Möwe majestätisch daher gesegelt. Frida weiß, dass sie sich jetzt etwas wünschen darf. Sie glaubt fest daran und wünscht sich Gesundheit für ihre Mutter und als zweites solle ihr Vater aus dem Himmel zu ihnen zurück auf die Erde kommen. Just in diesem Moment muss sie ihren Blick, ohne auch nur einmal zu blinzeln und ohne wegzuschauen, auf diese Möwe richten. Frida strengt sich so an, aber das Licht, in das die Möwe getaucht ist, das ist nicht auszuhalten. Ihre Augenlider schließen sich. Das Mädchen schreit auf, sie ist schweißgebadet und versucht diesen Traum zu verscheuchen, doch es will ihr nicht gelingen, die Mutter ist weiter geschwächt und hustet.

Die Weihnachtstage vergehen und das alte Jahr verabschiedet sich mit viel Kälte und Schnee. 1927, das neue, öffnet sein Füllhorn und schüttet weiter Schneeflocken auf die Welt, die schon viel zu viel davon hat. Besonders die alten Leute befürchten wieder einmal schlimmes Hochwasser, das für lange Zeiten im Frühjahr nicht nur die Auen überschwemmt, sondern auch die Felder. Sie haben die Wetterereignisse längst vergangener Jahre fest in ihren Köpfen und wissen die Zeichen der Natur zu deuten. Hoffentlich haben sie diesmal Unrecht.

Frida freut sich, dass die Schule wieder angefangen hat. Das lenkt sie etwas von Mutters Leid ab. Außerdem möchte sie auf dem letzten Zeugnis nur gute Zensuren haben. Sie lernt abends, wenn sie die Hausarbeit getan hat, noch für die Schule. Ihre Mutter liegt nur noch im Bett und essen will sie auch nichts mehr. Alle machen sich große Sorgen. Schwiegersohn Emil entscheidet resolut, ein Arzt muss kommen, auch wenn sich Hilde dagegen wehrt. So geschieht es, Doktor Haubricht kommt am späten Nachmittag mit seinem Auto vorgefahren. Die gesamte Nachbarschaft bestaunt dieses rollende kolbenbetriebene Automobil. Er steigt aus diesem Gefährt und greift sich seine große braune Ledertasche. Er will Mutter Hilde gründlich untersuchen und schickt die Familie aus dem Zimmer. Die Türe wird fest verschlossen und es dauert eine ganze Zeit. Frida dreht wieder ihre Schleifenbänder an ihren Zöpfen und rutscht unruhig auf dem Küchenstuhl hin und her. Sie liest im Schulbuch, aber sie weiß nicht, was sie liest, denn ihre Gedanken sind bei ihrer Mutter. Theo und Emil stehen rauchend vor der Tür. Ihre beiden Schwestern versuchen hinter der Tür das Tun und das Gespräch des Dr. Haubricht zu entschlüsseln. Es vergeht eine Ewigkeit, bis der Arzt aus dem Zimmer kommt, das Hörrohr noch in der Hand. Er runzelt die Stirn und wäscht sich seine Hände am eiserenen Waschbecken. Er trocknet sie am Handtuch ab, das Erna ihm reicht und spricht leise mit den Erwachsenen. Dann gibt er Emil einen Zettel, verabschiedet sich mit den Worten, dass er übermorgen vorbeischaut und nachschaut, ob die Medizin anschlägt. Theo bietet sich an, das Rezept in der Apotheke einzulösen, denn er ist doch besser zu Fuß als der etwas hinkende Emil. Dann verlässt er eilig die Wohnung. Emil geht zum Küchenschrank, greift zur Flasche Verdauungsschnaps und nach einem Glas und schenkt sich ein. Frida schaut ungläubig auf das Geschehen, sie versteht überhaupt nichts. Erna und Hiltrud nehmen sie beide in die Arme, das ist eine ganz seltene Sache, denn Frida will das eigentlich nicht mehr, sie ist doch schon ein großes Mädchen. Diesmal hält sie still, sie fühlt, jetzt passiert etwas Schlimmes. Und wirklich, ihre beiden Schwestern erklären ihr mit Tränen in den Augen, wie krank ihre geliebte Mutter ist. Frida hört nur das schlimme Wort „Schwindsucht“, dann schluchzt sie laut los. Sie will zu ihrer Mutter, doch die Großen halten sie zurück. Mutter soll nicht wissen, wie schlimm es um sie steht. Hiltrud wird die nächste Zeit wieder zu Hause wohnen und sich um Mutter und Frida kümmern. Das haben sie vorhin mit dem Arzt beredet. Frida wischt sich die Augen aus und fährt mit Wasser und Kamm durch ihr zerzaustes Haar, dann darf sie zur Mutter. Die gute Stube soll die nächste Zeit die Krankenstube werden. Das Bett aus dem Schlafzimmer wird später von den Schwiegersöhnen dort aufgestellt. Alles dreht sich jetzt um die Mutter, Hiltrud kümmert sich liebevoll um sie. Der Wecker klingelt alle paar Stunden, um die Medizin regelmäßig und pünktlich zu verabreichen. Doch es wird nicht besser, Mutter hustet schlimmer und der kleine Spucknapf muss immer öfter geleert werden. Sie ist zu schwach und bekommt kaum noch etwas runter, obwohl Hiltrud und Frida ihr die nahrhafte Suppe löffelweise geben und es mit viel Liebe und Mühe immer wieder versuchen. Der Arzt kommt noch ein paar Mal, aber die Medikamente schlagen nicht mehr an und er bereitet die Familie auf das Schlimmste vor. Er möchte Hilde ins Krankenhaus bringen, doch sie ahnt, dass sie bald sterben wird und will zu Hause bleiben. Sie sagt niemandem, dass sie weiß, wie es um sie steht. So vergehen zwei Wochen mit Hoffen und Bangen, aber die Zeit bringt keine Besserung. Frida ist oft mit ihrem Bernstein in der Marienkirche und legt das Gold des Meeres heimlich neben den Altar und hofft, dass Gott Kraft sendet. Kraft, die sie ihrer Mutter weitergeben kann, damit sie gesund wird. Aber es geschieht nichts. Traurig legt sie den Bernstein der Mutter in die Hand, die sie mit großen schwarzumränderten Augen anschaut. Mit leiser Stimme sagt sie, dass sie ihre Kleine sehr liebhat und sie nie vergessen wird. Sie bittet Frida, ihr aus dem Nachtischkasten im Schlafzimmer die Zigarrenkiste des Vaters und das kleine mit Samt ausgeschlagene Schmuckkästchen zu bringen.

Dann spricht sie mit ihren Töchtern und erklärt ihren Lieblingen, dass sie spürt, sich bald auf den Weg begeben zu müssen: „Keine Angst meine Kinder, euer Vater wartet dort auf mich, wir sind dann endlich wieder zusammen und bis in alle Ewigkeit vereint.“ Sie bittet ihre Töchter immer füreinander da zu sein. Besonders an Erna und Hiltrud richtet sie die Bitte, auf Frida aufzupassen. „In der Zigarrenkiste ist genügend gespartes Geld, um für Frida die Lehre zu finanzieren, das wünsche ich mir so sehr“, spricht sie. Dann verlangt sie nach dem Schmuckkästchen. Drei Ringe liegen darin; einer mit einem blauen Saphir für Frida, einer in jadegrün für Erna und für Hiltrud einer in Koralle. Jedes Mädchen erhält den ihren, dann küsst die Mutter jede auf die Stirn und bedeutet ihnen, dass sie jetzt schlafen möchte. Das ist das letzte Mal, dass sie ihre Mutter lebend sehen. Als sie nach einer halben Stunde mit Suppe und Medizin ins Zimmer kommen, ist ihre Mutter schon mit dem Vater vereint.

Frida findet in dieser Nacht keinen Schlaf. Am nächsten Morgen erfährt das traurige Mädchen, wie es nun weitergehen soll. Vorerst wird sie bei Hiltrud und Emil wohnen. Sicher, bis die Schule zu Ende ist und sie ihre Lehre beginnt, denkt sie traurig und zuversichtlich zu gleich.

Mutters Sarg wird abgeholt und nicht viel später wird auch schon die Wohnung geräumt. Sachen, die überflüssig sind, werden verkauft, die Arztrechnung und die Medizin müssen bezahlt werden.

Dann ein kalter Mittwochvormittag, der Dauerfrost hat es den Totengräbern schwer gemacht, mit ihren Spaten ein Grab für Mutter Hilde zu graben. Auch die Erde, der letzte Gruß an sie ist hart und polternd, als sie auf dem Sarg landet. Die drei Schwestern haben längst keine Tränen mehr, um ihre Mutter zu beweinen. Der Pastor spricht ein paar liebe Sätze und ist auch froh, wenn er wieder in die warme Stube kann. Dann fällt Erde auf den Sarg. Ein Holzkreuz mit Namen wird noch gezimmert. Frida meint hinten am Horizont eine Möwe zu sehen, sie sieht im Sonnenstrahl wie die aus, die sie an Weihnachten nachts im Traum sah, sie hört deren Kreischen und es rinnen ihr Tränen übers kalte Gesicht. Nach der Beerdigung gehen die Trauernden noch in die Wohnung von Emil und Hiltrud, zu Muckefuck, Kuchen und Schnaps.

Für immer und ewig. Schnee fällt wieder und deckt ein weißes Tuch auf das frisch zugeschaufelte Grab und die gefrorene Erde. Der Wind bläst ein paar dürre Zweige auf dem Weg zur Friedhofskapelle vor sich her und die Dunkelheit umfängt alles mit Ruhe. Da erscheint eine große etwas gebeugte Gestalt, suchend schaut sie sich um, bis sie das frische Grab ausfindig macht und zögerlich, aber doch entschlossen dorthin geht. Es ist Lehrer Tetzlaw, der Hilde Pautz die letzte Ehre erweist. Er murmelt leise ein Gebet, bittet um gute Aufnahme der Verstorbenen im Jenseits und gleichzeitig für seine Lieblingsschülerin Frida um Gnade und Glück. Er ahnt, dass die nächsten Wochen viel neues für das Mädchen bringen werden. Ein Christrosenzweiglein legt er auf die kalte Erde und ein paar Tränen rinnen. An diesem stillen Ort ist es sogar ihm erlaubt, Gefühle zu zeigen. Außer Gott, den Seelen der Verstorbenen und natürlich den Friedhofsgeistern sieht es ja kein Mensch und er hat diese liebeswerte Frau mehr als nur gemocht. Er richtet sich auf und grüßt sie zum letzten Mal. Dann gibt ihm sein einziger und treuer Begleiter an diesem Abend, der Rohrstock, Halt, um den vereisten Weg zurück ins Schulhaus zu gehen.

Indessen liegt Frida im neuen Zuhause im Bett. Hiltrud hat ihre Schwester liebevoll zur Nachtruhe vorbereitet. Sie versucht, der Kleinen die Angst vor dem Neuen zu nehmen, betet mit ihr zur Nacht und deckt sie liebevoll zu. Dann schließt sie leise die Tür hinter sich und geht in die Küche zurück. Die kleine Kammer ist in Dunkel getaucht, nur der Mond spendet etwas Licht und zeichnet an der Decke weißlich-güldene Muster. Sie hat sich das dicke Federbett bis unter die Nase gezogen, gerade so, dass sie noch atmen kann und ist einfach nur müde und unendlich traurig. Was wohl der nächste Tag bringt. Ohne sich diese Frage zu beantworten, sinkt sie in den Schlaf. Ihre Träume tragen sie in frohe Zeiten und ihre Lippen formen sich zu einem Lächeln, so schön ist dieser Traum. Am nächsten Morgen muss das zerzauste Mädchen sich erstmal erinnern, wo sie ist. Alles kommt ihr wieder in den Sinn, sie steht zögerlich auf und macht sich zurecht. Das Nachthemd faltet sie so, wie es ihr die Mutter gelehrt hat und mit dem grobzinkigen Kamm versucht sie, ihr verwuscheltes Haar zu ordnen. Sie flicht sich einen Zopf und bindet die neue, dunkelgrüne Schleife hinein. In der Küche trifft sie auf Emil, der schon ausgehfertig ist. Er greift nach seinem Butterbrot für die Pause, steckt es in seine braune Tasche und macht sich auf den Weg zu seiner Arbeit als Pförtner. Dort verdient er etwas zu seiner Kriegsrente hinzu, denn bei dieser sitzenden Beschäftigung stört sein zerschossenes Bein zum Glück nicht. Er streicht Frida übers Haar und hinkt hinaus. Jetzt im Winter spürt der Mann seine Verletzung besonders schlimm und das Gehen fällt ihm schwer. Doch das Leben ist nicht leicht und jetzt sitzt Frida zusätzlich mit am Tisch, das macht alles noch schwieriger.

Die beiden Schwestern sind allein, nein, doch nicht. Wellensittich Hansi macht sich pfeifend bemerkbar. Er ist aus dem offenen Käfig heraus stolziert und startet zum Sturzflug, um sich auf Fridas Kopf niederzulassen und ganz zärtlich in die lockende, grüne Schleife zu picken. Vielleicht glaubt er, dass es ein leckeres „Fresserchen“ ist. Da müssen die beiden sogar lachen. Hiltrud reicht Frida eine Tasse heiße Milch mit Honig und eine Scheibe Brot, dick mit Butter und Sirup bestrichen. Zur Schule lässt sie ihre Schwester nicht. Sie will ihr zuerst ein wenig die Traurigkeit und die Angst vor dem Neuen nehmen und erklärt ihr auch behutsam, dass ihr Leben sich ändern wird. Emil ist jetzt ihr Vormund und entscheidet an Eltern statt. Hiltrud kann ihrer Schwester nur beratend zur Seite stehen, die Entscheidung trägt allein ihr Ehemann. Frida begreift die Tragweite dieser Situation noch nicht; sie meint ihr Leben würde so weiter gehen, wie es ihre Mutter in glücklichen Tagen aufgezeichnet hatte. Sie sieht sich noch in diesem Jahr als Lehrmädchen in Danzig und ist zuversichtlich, dass sie eine Schneiderin werden wird.

Hiltrud hat noch vieles zu erledigen. Sie nimmt ihren Geldbeutel, steckt ihn in ihre große Handtasche, zieht sich den Wintermantel über und verknotet zusätzlich ein dickes wollenes Tuch über ihrer Brust. Es ist bitter kalt. Sie bedeutet Frida, es sich in der guten Stube gemütlich zu machen, der Kachelofen hält noch die Wärme vom vergangenen Abend. Sie soll zu Hause bleiben, denn sie hätte vergangene Nacht gehustet. Das hörte sie zwischen ihren unruhigen Träumen. Hiltrud hat Angst, dass jetzt wieder schlimmes passieren könnte. Darum ihr kategorisches „Nein“ zu Fridas Wunsch, sie begleiten zu dürfen.

Frida holt ihr Kästchen mit den Schneiderutensilien, ein paar Stoffreste, Paper und lockt Hansi in die gute Stube. Sie ist nicht gerne allein, es ist alles noch ungewohnt. Auf der Kommode bestaunt sie zwei Fotos, die in geschwungenen Rahmen darauf stehen. Auf dem einen Foto erkennt sie Emil, da war er wohl noch jünger. Neben ihm eine Frau, die einen schönen Blumenstrauß in der Hand hält. Auf dem anderen ist Emil in Uniform zu sehen, sicher im schlimmen Krieg vor ein paar Jahren fotografiert. Sie will ihre Schwester, wenn sie wieder zurück ist, fragen, wie sich das alles verhält. Der Wellensittich hat sich derweil im großen Blumentopf der Zimmerpalme niedergelassen und gräbt fleißig mit seinen scharfen Krallen.

Hübsche Kleider in ihrem Lieblingsblau zeichnet die kleine Künstlerin, dann sucht sie aus den Stoffresten etwas passendes und Knöpfe und Borten. Ihre kleine Zungenspitze wandert von links nach rechts und wieder zurück. Das macht sie immer, es ist eine ihrer liebenswerten Angewohnheiten. Die Zeit verfliegt und mit einem Mal spürt sie die Hand ihrer Schwester auf der Schulter. Hiltrud hat alles erledigt. Ihr Geldbeutel ist nach dem Begleichen aller Rechnungen so leer wir ihr Magen, nur knurren, das tut er nicht.

Sie muss sich beeilen, es ist gleich Mittag und ein Essen soll auch noch bereitet werden, ihr Emil kommt gleich nach Hause. Zum Glück ist die Kartoffelsuppe schnell aufgewärmt und um sie noch etwas zu verlängern, schüttet sie etwas heißes Wasser hinzu und verrührt einen Brühwürfel. Eine Mohrrübe und Speckschwarten schnippelt sie auch noch hinein, das bringt Geschmack.

Während die Suppe kocht, fragt Frida ihre Schwester nach den gerahmten Fotos in der Stube. Ja, sie hatte richtig gedacht, der Soldat ist Emil, noch mit heilen Beinen, bevor er in den Krieg ziehen musste. Bei dem anderen Foto fällt es Hiltrud schwerer zu antworten, deshalb lenkt sie vom Thema ab. Lächelnd erzählt sie, dass am Abend Mutters Singer-Nähmaschine gebracht wird. Hiltrud hat sie nicht zum Verkauf angeboten, nein, sie hängt genauso wie Frida an dieser „alten Dame mit dem schnurrenden Klang“. Sie soll neben Fridas Bett in der Ecke am Fenster einen Platz finden und dem Mädchen helfen, ihren Traum zu verwirklichen.

Die beiden stellen noch die Blechkanne mit heißem Muckefuck auf den Tisch. Pünktlich wird gegessen, darauf lässt Emil nichts kommen. Alles muss seinen geordneten Gang in Deutschland haben, das fängt bereits in der Familie an, so meint er. Deshalb bestimmt er auch, dass Frida wieder zur Schule soll. Sie sieht wieder „wohl“ aus, stellt er fest, nachdem er sich sein obligatorisches Mittagspfeifchen angezündet hat. Frida ist das ganz recht, sie freut sich darauf. Das Mädchen möchte allein sein und über all das neue nachzudenken. Deshalb fragt sie um Erlaubnis, nach draußen gehen zu dürfen. Ja, sie darf und Hiltrud trägt ihr noch auf, einen Vierpfünder, ein großes lockeres Bauernbrot, einzukaufen. Schnell zieht sie den dicken Mantel an, die gestrickte Mütze über ihre Locken, greift zu den Handschuhen und der Einkaufstasche. Sie braucht einen Spaziergang und ihre Füße gehen den Weg von ganz allein in die alte Richtung, zurück zu ihrer ehemaligen Wohnsiedlung. Das war einmal, denkt sie traurig und geht schnellen Schrittes daran vorbei. Im Stadtzentrum ist es heute viel ruhiger als in der Weihnachtszeit, als sie zuletzt hier war. Auch die Dekoration ist verschwunden, es ist alles wieder ganz normal, nur ihre Gedanken fahren Karussell. Heute kann sie sich nicht einmal an den wunderschönen Kleidern mit den passenden Hüten und anderen Accessoires erfreuen. Die Nase wird nicht am Schaufenster kalt und plattgedrückt, sie zieht nur ihre Stirn kraus, die Denkfalten und viele Fragen verbirgt ihre Mütze.

Nicht nur ihre neue Welt ist jetzt so anders. Auch ihr eigener Körper spielt verrückt, er hat sich verändert. In den Achselhöhlen spürt sie erste, zarte Härchen. Mit dem Spiegel hat sie heimlich nachgeschaut und wirklich, sie erblickt blonden Flaum. Dazu kommt noch, dass sich unterm Unterhemd zwei zarte Brusthügel abzeichnen. Mutter hatte schon damals in einer ruhigen und ganz vertrauten Stunde gesagt, dass irgendwann die Zeit kommt, dass aus einem Mädchen eine Frau wird. Sie verglich das mit der Wandlung von der grünen, manchmal hässlichen Raupe zu einem schönen Schmetterling. Doch dabei blieb es. Die Mutter meinte damals, dass sie noch viel Zeit zusammen hätten und dass die Zeit, ihre jüngste Tochter in diese Geheimnisse einzuweihen, noch lange nicht reif wäre. Wie Frida jetzt weiß, war das ein Irrtum, der in dieser Welt nie wieder rückgängig gemacht werden kann.

Sie ist schon auf dem Nachhauseweg, als sie sich daran erinnert, dass sie doch noch ein Brot kaufen soll. Also macht sie sich auf zum Kolonialwarengeschäft. Es ist nicht das vertraute, Hiltrud lässt woanders anschreiben. Der Verkäufer lächelt sie an, als sie sich vorstellt und fragt sie ein bisschen aus, bevor er ihr das Brot reicht. Später trippelt sie in der einbrechenden Dunkelheit schnellen Schrittes zu ihrem neuen Zuhause. Sie beeilt sich, denn sie möchte sie keinen Ärger bekommen, es ist nämlich schon mächtig spät geworden.

Hiltrud erwartet sie lächelnd und führt sie in die kleine Kammer. Wirklich, unterm Fenster steht die alte Dame, Mutters Singer-Nähmaschine. Liebevoll nimmt die große Schwester die Kleine in den Arm und bedeutet ihr, noch eine Weile hier zu bleiben, während sie das Abendessen vorbereitet. Frida hängt ihren Mantel ordentlich in den Schrank und die Handschuhe nebst Mütze verschwinden in der kleinen Kommode. Dann endlich streicheln ihre schmalen Finger vorsichtig über die Nähmaschine. Sie meint ihre Mutter zu spüren und ihre Stimme zu hören. Tränen treten in ihre Augen und gleichzeitig freut sie sich, dass diese Erinnerung jetzt ihr gehört. Sie möchte gleich heute noch mit dem Üben beginnen. In Gedanken verspricht sie ihrer Mutter, eine gute Schneiderin und noch viel mehr zu werden.

Die nächsten Wochen vergehen schnell. Es wird Karneval und der Winter scheint nicht mehr ganz so viel Atem zu haben. Der Schnee wird bald schmelzen, denn die Sonne scheint schon mit großer Kraft. Fridas Leben hat zur Normalität zurückgefunden. Sie geht tagein tagaus in die Schule, hilft ihrer Schwester im Haushalt und träumt ihren Traum, wenn sie an der Nähmaschine sitzt.

Eines Abends liegt sie träumend im Bett und ihre Finger malen kleine Sterne auf die dicke Bettdecke, da hört sie ungewohnt laute Stimmen aus der guten Stube. Der Wellensittich pfeift aufgeregt, auch er ist so etwas nicht gewöhnt. Plötzlich weint Hiltrud. Frida versucht zu lauschen, aber es gelingt ihr nicht. Das Kind ist verstört und weiß nicht weiter. Endlich schläft sie ein, aber ihre Träume sind unruhig und sie sieht ihre Mutter, die traurig auf die Erde schaut. Am nächsten Morgen will Frida wissen, was gewesen sei, aber Hiltrud wiegelt ab. Doch als sie nach der Schule nach Hause in ihr Zimmer kommt, steht die Nähmaschine nicht mehr unter dem Fenster in ihrer Kammer. Hiltrud erklärt ihr unter Tränen, dass sie verkauft werden musste, das Geld für die Beerdigung ist fällig. Emil und Hiltrud haben Geldsorgen und die sind gravierend, die Krankheit der Mutter und deren Bestattung haben alles Geld aufgebraucht. Die große Schwester verschweigt ihr noch, dass Mutters Sparkästchen auch leer ist, das bringt sie nicht übers Herz. Aber sie erzählt ihr unter Tränen, dass sie ein Kind unterm Herzen trägt. Frida weiß nicht, ob sie weinen oder sich freuen soll. Sie ahnt aber, dass das noch nicht alles ist, dazu kennt sie ihre Schwester zu gut. Die sollte sich doch freuen, wenn ein Baby kommt, aber sie schlägt die Augen nieder, schaut zu Boden und mit einem Mal meint sie, wir sollten besser das Mittagessen zubereiten als rumzuheulen, denn Emil kommt bald nach Hause. Und wirklich, die Suppe dampft kaum im Topf, da hören sie schon Emils eigentümlichen Schritt in der Türe. Frida bekommt heute Mittag kaum einen Bissen runter und wartet darauf, dass Emil das Wort ergreift. Doch der isst genüsslich und lässt sich Zeit, bis er endlich sein Mittagspfeifchen raucht. Dann ruft er Frida zu sich in die Stube, wo er im Lehnstuhl sitzt. Er sagt ihr in wenigen Sätzen, was ihr Hiltrud schon erklärt hat. Nur das Baby erwähnt er nicht, dafür aber, dass sich auch die Pläne für Fridas Zukunft geändert haben. Denn eine Lehre, die kann Emil als Vormund nicht bezahlen, er hat keine Mittel und Mutters Notgroschen ist für alle Rechnungen und ihr Grab ausgegeben. Also ist guter Rat teuer, sehr teuer. Emil meint, die Schule zu beenden, dass wäre nutzlose, vergeudete Zeit, Frida solle zuerst mal in einen Haushalt gehen und arbeiten. Später dann würde sich sicher ein geeigneter Heiratskandidat finden. Frida rennt aus dem Zimmer in ihre Kammer, wirft sich aufs Bett, weint und weint, solange, bis sie keine Tränen mehr hat und vor Erschöpfung einschläft. Wie lange sie geschlafen hat, das weiß sie nicht. Sie bemerkt nur Hiltrud, die bei ihr sitzt, ihr über den Kopf streicht und sie zu beruhigen versucht. Auf dem Nachttisch steht ein Topf mit leckerem Kakao, aber nicht einmal darüber kann sich Frida freuen. Für sie bricht eine Welt zusammen. Ihre Schwester meint, alles wird gut werden, glaube fest daran. Aber Frida glaubt an gar nichts mehr. Sie überlegt, morgen in der Schule mit Lehrer Tetzlaw zu sprechen und um Rat zu fragen.

Der Weg am nächsten Morgen zur Schule ist doppelt so lang. Fridas Kopf glüht, denn viele Gedanken springen von rechts nach links und hoch und runter. Sie möchte so gerne weiter lernen bis zum Schuljahresende. Das will sie und sie stampft mit ihrem Fuß zur Bestätigung auf. Aber sie weiß ganz genau, gegen Emil, ihren Vormund, kommt sie nicht an. Da braucht es ein Wunder. Dieser Schultag ist so lang, die Pausenklingel scheint eingeschlafen zu sein. Frida zupft immer wieder ihre Haarschleife gerade und überlegt, wie sie das Gespräch mit ihrem Lehrer beginnen soll. Plötzlich ein Aufruf, sie wird aus ihren Gedanken gerissen, der Lehrer fordert eine Antwort von ihr. Sie ist ratlos und der Rohrstock am Pult schaut sie ganz erwartungsvoll an, der Boshafte hofft auf seinen Einsatz. Doch vergebens, Herr Tetzlaw, lässt Gnade vor Recht gehen. Er trägt ihr auf, sich nach Schulschluss bei ihm zu melden. Endlich schrillt die Glocke; das Warten hat ein Ende. Die Kinder verlassen den Klassenraum, nur Frida steht da und wartet auf Herrn Tetzlaw, der die Schüler noch zum Ausgang begleitet. Dann ist er zurück und bedeutet ihr, sich zu setzen. Er schaut sie an und Fridas Augen füllen sich mit Tränen. Es ist so, als würde ein Damm geöffnet und alles Herzeleid stürzt heraus, aus ihren Augen, aus ihrem Herzen und sie weint hemmungslos. Der Lehrer schaut nur und sagt kein Wort. Er steht auf und holt aus seiner Jackentasche ein blaukariertes, riesengroßes Taschentuch und seine Bassstimme sagt ganz ruhig, dass sich Frida die Nase putzen und dreimal ganz tief durchatmen solle. Frida macht das und schaut mit ihren tränenfeuchten Augen auf den Lehrer. Dazu weiß sie nicht wohin mit dem gebrauchten Taschentuch, das sie nervös zwischen ihren Fingern knetet. Ohne Komma, Strich und Punkt und ohne Atem zu holen, erzählt sie von ihrer Katastrophe. Herr Tetzlaw schüttelt wieder und wieder den Kopf und hört sich alles an, ohne sie zu unterbrechen. Dann streicht er ihr über den Kopf und sie wird etwas ruhiger. Auch Herr Tetzlaw weiß keinen Rat und erklärt ihr, dass der Vormund über sie bestimmen darf. Sie muss sich fügen, nicht einmal der Herrgott, geschweige denn der Lehrer, kann ihn umstimmen. Ihm tut das Mädchen leid. Er beschwört sie, trotzdem ihre Talente weiter zu pflegen. Also, sich im Nähen zu vervollkommnen, weiter Bücher zu lesen, zu zeichnen und viel zu lernen. Vielleicht geschieht ja noch ein Wunder. Mehr weiß auch er nicht zu sagen und schickt sie nach Hause.

Als sie an die Wohnungstür klopft, hört sie drinnen Stimmen und dazu duftet es nach Fett und Gebratenem. Die Tür wird geöffnet, aber nicht von Hiltrud; Erna ist es, die ihre kleine Schwester stürmisch empfängt und sie herzhaft auf den Mund küsst. Dann sitzen sie am Küchentisch und unterhalten sich. Hiltrud steht am Herd und schwingt in der Pfanne die letzten goldgelben Eierplinsen. Sie platziert sie später auf einen großen Steingutteller am Herd Rand, um sie warm zu halten. Sie haben noch etwas Zeit, bis Emil nach Hause kommt und beratschlagen. Wie soll es mit Frida weitergehen, wo soll das Mädchen nur hin? Ihnen fällt nichts ein.

Schnell decken sie den Tisch in der guten Stube. Die Plinsen sind lecker und das Kompott auch, aber so richtig mundet es den Schwestern heute nicht, nur Emil langt kräftig zu. Der nötigt Hiltrud noch zuzugreifen, sie müsse ja jetzt für zwei essen, meint er stolz. Über Frida spricht er nicht und auch die Frauen trauen sich nicht, das Thema anzuschneiden. Wenig später will Erna sich auf den Weg nach Hause machen, doch vorher geht sie nochmal in die Stube zu Emil, der wie immer seine Pfeife pafft und fragt ihn, ob Frida nächstes Wochenende zu ihnen zu Besuch darf. Es wird vor Ostern geschlachtet und da wird jede Hand gebraucht, benennt sie den Grund. Aber eigentlich möchte sie Frida nur mal wieder etwas Schönes erleben lassen, denn das Schweineschlachten ist jedes Mal ein kleines Fest. Emil willigt ein und Erna wird ihre Schwester am Freitagnachmittag abholen und Sonntagnachmittag wieder zurückbringen. Dann verabschiedet sie sich und macht sich auf den Weg nach Hohen Schönau.

Das ist doch mal ein Lichtblick in dieser traurigen Zeit, meint Hiltrud: „Vielleicht wissen wir bald, liebe Frida, wo du als Hausmädchen eine Anstellung bekommst. Es ist sicher hier in der Nähe und du darfst dann an deinen freien Tagen zu uns zu Besuch kommen. Wenn mein Baby auf der Welt ist, dann erwartet dich noch einer oder eine mehr, wenn du dann vor der Tür stehst.“ Sie streicht sich über den Bauch und lächelt Frida glücklich an.

Frida zählt die Tage, sie wartet ungeduldig, bis Erna sie endlich zum Schweineschlachten nach Hohen Schönau holt. Das ist allemal besser, als herumzusitzen und abwarten zu müssen, was die nächsten Wochen bringen werden. Das Mädchen wird sogar mit dem Pferdefuhrwerk abgeholt, das hat sich so ergeben, denn es muss noch vieles herangeschafft werden. Aus diesem Grund spannt ihr Schwager Theo die Pferde ein und dirigiert sie im flotten Galopp bis nach Naugard. Der Wagen ist vollgepackt, als er vor dem Haus von Hiltrud anhält und die Peitsche knallen lässt. Frida hat schon ihr Bündel gepackt und schaut staunend auf das Gespann, denn sie meinte, den Weg bis Hohen Schönau zu Fuß, gemeinsam mit ihrer Schwester gehen zu müssen. Stolz, wie eine kleine Prinzessin, lässt sie sich von ihrem Schwager auf den Bock setzen. Sie blickt stolz nach links und rechts, aber leider ist keiner, den sie kennt, in der Nähe. Frida zieht die graue Decke fest über ihre Knie und hält sich gut fest. Sie ist noch nie auf einem Kutschbock gereist und etwas ängstlich. Der Braune und der Apfelschimmel scharren schon ungeduldig mit den Hufen und wollen endlich los. Theo schnalzt mit der Zunge, schwingt die Peitsche durch die Luft und los geht die Fahrt durch den kalten Nachmittag. Frida reckt keck die Nase in den Wind und vergisst sogar ihr Herzeleid. In Hohen Schönau hält Theo an einem Gemischtwarenladen an und holt die bestellten Gewürze und einen großen Sack Grütze ab.

Das Mädchen inspiziert interessiert die neue Umgebung. Plötzlich sieht sie einen großgewachsenen Jungen. Er scheint etwas älter als sie zu sein. Schwarze, kurze, gestriegelte Haare und überhaupt ist er hübsch anzusehen, wie sie so auf die Schnelle feststellt. Bevor er die zwei breiten Stufen hinauf zum Geschäft erklimmt, schaut er sich kurz um und blinzelt ihr zu. Wie aufregend, denkt Frida. Schon kommt ihr Schwager zurück und wirft einen großen braunen Sack schwungvoll auf den Wagen. Die Tüte, die er noch mitgebracht hat, gibt er ihr in die Hand. Sie solle gut darauf aufpassen, sonst wird die Wurst morgen fade und ohne Geschmack sein, es ist nämlich Zimt drin, für die leckere Grützwurst. Frida ist sich ihrer Wichtigkeit bewusst und freut sich zudem, ihre Schwester wieder zu sehen. Kurze Zeit später kommt die wichtige Fuhre gut behalten am kleinen Gehöft an. Die ganze Familie, Magd, Knecht, bellende Hunde und ein Heer von getigerten Mäusefängern stehen zur Begrüßung bereit. Frida ist glücklich als sie wenig später alle gemeinsam in der großen Küche am Tisch sitzen. Ein großer Topf dampfender Suppe steht in der Mitte, daneben ein Holzbrett mit duftendem Brot, dem Butterfass und einer großen Schlackwurst. Nach dem Gebet wird nur noch gefuttert. Frida meint, lange nicht so gut und so viel gegessen zu haben. Es scheint, als ob alles Bedrückende in diesem Moment von ihr abgefallen sei. Ihre Schwester stupst sie von der Seite an und will ihr nach dem Essen gleich mal alles zeigen. Beide gehen mit Fridas Bündel ins Nebengebäude. Das ist eine riesige Scheune mit Tenne und gleichzeitig Unterkunft für ein junges Mädchen, das hier als Zugehfrau arbeitet und für den Knecht, einen großen, kräftigen jungen Polen. Auch die Hühner, Gänse, die Schweine und die beiden Kühe haben hier Platz. Wenn es bitterkalt ist, finden hier sogar die abgehärteten Schafe Asyl. Frida kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Alles ist so neu und aufregend. Am Ende eines langen dunklen Ganges dann endlich zwei Türen. Erna öffnet die linke und bedeutet Frida, in die kleine Kammer einzutreten. Drinnen zwei Betten, ein Tisch, zwei Stühle, ein schmaler Eichenschrank. Unterm kleinen Fenster, mit einer karierten Gardine, die vor neugierigen Blicken schützt, steht ein Regal. Die Bibel, ein buntes Kästchen und ein Spiegel sind darauf abgelegt. Nebenan steht auf einem Metallgestell eine verzinkte schon etwas verbeulte Waschschüssel, darunter ein Eimer und ein Krug mit frischem Wasser. Im Nachtschrank, der zwischen den beiden Betten gequetscht ist, thront ein Nachttopf. Die Wand ziert ein Bild mit dem Jesuskind und ein Kreuz. Das ist das Reich von Magdalena, der 16jährigen, die lachend ins Zimmer tritt und sich freut, für zwei Tage Gesellschaft zu haben. Erna lässt die beiden allein, nicht ohne ihnen zu sagen, ganz bald ins Waschhaus zu kommen, um bei den Vorbereitungen fürs Schweineschlachten zu helfen. Magdalena, genannt Magda, ist ein Waisenkind, das seit einigen Jahren bei Ernas Schwiegereltern lebt. Sie ist nicht die hellste, aber sehr gelehrig und sie liebt Tiere. Stets fröhlich singend erledigt sie alle Arbeit, die auf dem Hof reichlich anfällt. Jetzt zeigt sie Frida, wie hier „der Hase läuft“, legt die Habseligkeiten der Kleinen in das unterste Fach des Schrankes, nimmt die Tagesdecke vom Bett und schüttelt das dicke Federbett auf. Magda fühlt sich richtig in ihrem Element und bemuttert die Jüngere. Sie erzählt, dass der Knecht in der Nebenkammer Petko heißt. Er ist schon 18 Jahre alt und hat eine Freundin, die er heiraten möchte, wenn er das Geld für eine Hochzeit zusammengespart hat. Magda lacht und sagt, das dauert noch lange, denn er braucht oft Groschen für Bier und Tabak. Dann schlägt sie mit der rechten Hand kurz auf den Tisch, beinahe hätte sie beim Schwatzen vergessen, dass sie noch ins Waschhaus müssen. Dort hilft alles, was einen Kopf, zwei Beine, zwei Hände hat und Mensch heißt, bei den Vorbereitungen. Morgen kommt extra ein Fleischer, der die Tiere fachmännisch schlachtet. Als Lohn wird er eine halbe von den zwei Säuen, die jede mehr als 120 kg wiegt, erhalten. Die Schlachterei ist noch unkompliziert und arglos und eine Fleischbeschau wird erst 1930 eingeführt.

Die Vorbereitungen für kommenden Tag sind perfekt, beim ersten Hahnenschrei kann es pünktlich losgehen. Alle Akteure wollen jetzt nur noch ins Bett, denn die Nacht ist kurz, der Mond schaut hell durchs Fenster und es ist fast Mitternacht. Frida fallen schon die Augen auf dem langen Weg zur Kammer zu. Nur gut, dass keiner kontrollieren kann, dass sie sich nur mit den Fingern und wenig Wasser durchs Gesicht und mit dem Kamm kurz durchs Haar fährt. Kaum hat sie das dicke Oberbett fast bis zur Nase gezogen, ist sie schon eingeschlafen.

Plötzlich zieht ihr jemand die Decke unterm Kinn weg, sie schreckt aus dem Tiefschlaf. Es ist schon der nächste Morgen. Magda treibt sie zur Eile an, kaum, dass Frida ihre Gedanken geordnet hat. Immer noch müde und ihre Augen reibend, sitzt sie mit allen anderen wenig später in der Küche und löffelt Milchsuppe. Es ist das geschäftige Treiben, das heute sogar die Tiere im Stall aus dem ruhigen, gewohnten Rhythmus treibt. Die Schweine quicken laut, als hätten sie eine Ahnung, was auf zwei von ihnen zukommt. Denn diese ausgewählten stattlichen rosa Fett- und Fleischklopse landen heute in der Wurst oder so.

Der Fleischer trifft ein und bekommt zur Begrüßung einen klaren Schnaps, es war wieder eine kalte Nacht, die so langsam in den Tag schwingt. Herr Schulz soll gleich warme und zielsichere Hände haben. Alle streben zur Waschküche, wo der Kessel bereits dampft. Petko beruhigt die zwei Schlachtkandidaten, damit sie ohne Stress zur Schlachtbank geführt werden können. Die Säue sehen rund und gesund aus, mehr bekommt Frida nicht mit. Erna nimmt ihre Schwester an die Hand und entführt sie in die Nähstube im Vorderhaus. Sie weiß, dass Frida eine zarte Seele hat, sie soll erst wieder dabei sein, wenn im Kessel in der heißen Wurstbrühe leckere Blut- und Leberwürstchen platzen und sich die Schlachtmannschaft nach getaner Arbeit einige Schnäpse vor der fetten Mahlzeit gönnt.

Erna führt Frida in einen großen Raum mit Nähmaschine und einem großen Schneidertisch. Das Mädchen hat nur Augen für die Nähmaschine. Ihre Finger möchten so gern das Rad drehen, den Stoff führen und ihre Füße im Takt hin und her wippen. Da gibt es kein Halten mehr, Frida rückt sich einen Stuhl passend und legt ein Kissen drauf, damit sie gut auf die Näharbeit schauen kann. Ihre Schwester sucht nach einem eingerissenen Tischtuch, das sie ihr gibt. Dann ist die kleine Näherin in ihrem Element. Ihre Zunge unterstützt die Arbeit und springt von einem Mundwinkel in den anderen. Erna schaut lächelnd und legt noch kaputte Bettwäsche dazu, bevor sie sich wieder zurück ans Schlachtgeschäft begibt.

So vergeht der Vormittag, Frida ist in ihrem Element und vergisst die Zeit. Eine dreifarbig gefleckte Katze streicht um ihre Beine und um die Nähmaschine. Frida ringt ein wenig mit sich, soll sie streicheln oder weiter sticheln. Aber die Schöne mauzt so herzergreifend, dass sie das Tier auf ihren Schoß zieht und sie liebevoll krault. Da ruft ihre Schwester schon nach ihr. Die Katze springt vor Schreck auf den Boden und Frida springt auch auf. In der Küche hat sich alles versammelt. Wurstbrühe mit leckeren geplatzten Leber- und Blutwürstchen wird in tiefe Teller gefüllt und frischgebackene Weizenbrötchen liegen in Körben. Dann hört man nur noch das Klappern der Löffel und herzhafte Essgeräusche. Frida wundert sich, wie laut doch Erwachsene schmatzen können. Sie tunkt vorsichtig die Brotstücke in die mit Majoran und Kümmel gewürzte Wurstsuppe und beißt genießerisch ab. Muckefuck in hohen Bechern wird für die weiblichen Esser gereicht, die Männer greifen zu Bier und zu einem Korn. Nach dem Essen stehen die Männer vor der Tür, rauchen, fachsimpeln und besprechen das weitere Vorgehen bei der Vorratshaltung. Später soll es ans Wurstmachen, Fleischschneiden, Einsalzen und ans Pökeln gehen. Frida freut sich, dass ihre Schwester ihr wieder grünes Licht fürs Nähzimmer gibt. So verschwindet sie mit der Katze im Schlepptau und verbringt die Zeit bis zur Dämmerung wieder an der geliebten Nähmaschine. Nur die Katze fordert ab und zu weitere Streicheleinheiten ein.

Zum Abendbrot gibt es dann Grützwurst mit Sauerkraut und Pellkartoffeln, die lecker mit viel Kümmel gekocht sind. Das mag Frida gern und sie langt kräftig zu. Am langen Tisch geht es laut zu und viele Bier- und Schnapsflaschen machen die Runde. Fleischer Schulz ist von der Arbeit und dem vielen Alkohol ziemlich erschöpft und Ernas Schwiegermutter bittet Magda, ihm das freie Bett in Petkos Kammer zu richten. Dort soll er übernachten und sich erst am Sonntag mit seinem halben Schwein auf den Heimweg begeben.

Herr Schulz und seine Helfer stehen rauchend und diskutierend vor der Tür und verschwinden nach und nach in die eigentlich verbotene gute Stube. Das entlockt Ernas Schwiegermutter ein erbostes Stirnrunzeln und sie holt eine Flasche süßen Likör aus dem Wandschrank für sich und Erna. Frida und Magda bekommen einen heißen Kakao und gehen dann den langen Weg durch die Scheune zu ihrem Zimmer.

Nach einem reichlichen Frühstück mit in frischem Schweineschmalz gebratenen Eiern, muss Frida sich wieder von allen verabschieden. Es wurde umentschieden, sie fährt bereits gleich mit Fleischer Schulz zurück in die Stadt. Schnell werden ihre Sachen ins Bündel gepackt; ihre neugewonnene Freundin Magda hat das schon gemacht. Das Mädchen drückt Frida an sich und bedeutet ihr, doch bald mal wieder vorbei zu schauen. Schwester Erna, Theo und alle, die hier leben, sagen liebevoll „Adieu“ und drücken ihr zum Abschied noch einen Henkelkorb mit leckeren Würsten, frischem Schmalz und frischen Eiern in die Hand. Dann steigt sie zu Herrn Schulz auf den Kutschbock. Hinten im Wagen liegt die in einem weißen Tuch verpackte Schweinehälfte und ein Säckchen mit Schweineborsten. Ab geht die Fahrt nach Naugard. Aber das dunkelbraune Pferd trottet, trotz Peitschenknall, unwillig in Richtung Stadt. Der rotgesichtige und noch ziemlich verkaterte Kutscher gibt auf, überlässt dem Pferd die Führung und zündet sich sein Pfeifchen an. Mit Frida spricht er nicht, der Wind bläst ihr nur den Pfeifenqualm ins Gesicht. Der stinkt, Emils Tabak hingegen duftet nach Vanille. Nach gefühlt ellenlanger Fahrt steigt sie froh vom Kutschbock. Natürlich nimmt sie ihr Bündel und den Henkelkorb mit, wie sollte sie auch die leckeren Sachen vergessen.

Hiltrud und Emil freuen sich über die Grüße und noch viel mehr über die deftigen Leckereien. Nachmittags zu schönstem Sonnenschein spazieren die drei durch die Stadt, um sich Appetit fürs Abendbrot zu holen, das heute dank der Mitbringsel vom Schlachtfest, sehr üppig ausfällt. Frida ist so glücklich, dass sie sogar für einen Moment nicht daran denkt, was die Zukunft ihr bringen wird. Doch Emil holt sie noch an diesem Sonntagabend auf den Boden der Tatsachen zurück.

Nach dem Abendbrot sitzt er wie immer pfeifenrauchend im Lehnstuhl und ruft Frida zu sich. Er bedeutet ihr, sich an den Tisch zu setzen. Das ist ungewohnt für das Mädchen und sie zittert vor dem, was jetzt kommt. Sie erfährt in kurzen Worten, dass Emil sein Mündel vermittelt hat. In drei Tagen wird Frida in Stellung gehen. Die Adelsfamilie von Goedicke besitzt einen großen Gutshof in der Nähe von Hohen Schönau, inmitten von Feldern, nahe einem See und ausgedehnten Wäldern. Emil meint, dass Frida großes Glück hat, bei so einer Familie eine Stellung zu bekommen. Da kann sie viel lernen, alles das, was sie eines Tages braucht, um eine gute Ehefrau und Mutter zu sein, wenn sich ein passender Mann findet. Wenn nicht, dann kann sie dort bis zum Lebensende ihr Auskommen haben, denkt ihr Schwager, aber sagen tut er ihr das natürlich nicht. Dann darf Frida zurück in ihr Zimmer. Hiltrud kommt zu ihr und versucht sie zu trösten, doch eigentlich hat sie andere Sorgen. Sie muss ihre Schwangerschaft diesmal gut hinter sich bringen, Emil hofft so sehr auf einen Stammhalter. Sie drückt ihre Schwester und gibt ihr einen Kuss. Frida erfährt auch, dass sie ab Morgen nicht mehr zur Schule muss, Emil sagt Lehrer Tetzlaw selbst Bescheid.

Frida kniet sich vors Bett und lässt ihr ganzes Herzeleid in das Abendgebet einfließen, das heute mehr einem Erlebnisbericht über das ganze Wochenende ähnelt. Der liebe Gott und ihre verstorbenen Eltern sollen alles erfahren, das Gute und auch das Schlechte erzählt sie ihnen. Am Ende rollen Tränen aus ihren Augen, die finden gar kein Ende und das Nachthemd wird nass und fleckig. Frida, der auf einmal ganz kalt wird, legt sich immer noch schluchzend ins Bett du zieht sich die Bettdecke über den Kopf, solange bis sie keine Luft mehr bekommt. Dann stößt sie die Decke weg und ballt ihre Fäuste. Sie schwört sich, es Emil zu beweisen, dass sie kein kleines Mädchen mehr ist, dass sich hin und her schubsen lässt. Wehmütig denkt sie an die Zeit mit ihrer Mutter, als sie Pläne für Fridas Zukunft schmiedeten; sie sich schon als Schneiderin oder sogar als Modistin sah. Und jetzt das; kann sie Emil doch noch umstimmen? Die Tränen versiegen und mit diesem Gedanken schläft sie ein. Doch der nächste Tag zeigt ihr, es bleibt so, wie es ihr Vormund entschied. Emil nimmt Hut und Stock geht zur Arbeit und kündigt an, dass es heute später wird, denn er will noch auf ein Gespräch zu Lehrer Tetzlaw, um Frida abzumelden.

Frida ist traurig, der Tag ist heute besonders lang für sie, ihr fehlt die Schule. Deshalb schickt Hiltrud sie zu Besorgungen ins Städtchen. Hinterher wird Fridas Wäsche gerichtet, um alles für ihren Umzug ins neue Leben vorzubereiten. Nur noch der nächste Tag und dann muss sie weg, zu ganz fremden Menschen, zu feinen Herrschaften.

Sie räumt ihre Habseligkeiten auf und ordnet sie. Ihr Schmuckkästchen steht auf dem Bett und nachdenklich schaut sie auf ihre wenigen, aber für sie so wertvollen Erinnerungen. Sie nimmt den Ring mit dem blauen Stein und dreht ihn zwischen ihren Fingern, streift ihn über und streicht träumerisch darüber. Sie meint die Hand ihrer Mutter zu spüren, die doch so viel Wärme und Zärtlichkeit geben konnte. Dabei schaut sie zum Fenster und bemerkt an der Kehrleiste etwas. Neugierig springt sie auf, um nachzuschauen. Sie jauchzt, als sie ein kleines Garnröllchen mit weißem Faden aufhebt. Das muss heruntergefallen sein als die Nähmaschine vor einigen Tagen verkauft wurde. Sie verstaut diesen wertvollen Fund neben dem Ring und den anderen ihr wichtigen Kleinigkeiten im Schmuckkästchen. Irgendwie macht es dem Mädchen den Abschied etwas leichter, denn noch etwas, was sie an alte Zeiten erinnert, kommt mit ihr mit ins neue, noch so Unbekannte.

War das ein Leben

Подняться наверх