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DIE TERRORAKADEMIE „ISLAMISCHER STAAT“
Оглавление„Eilt herbei! Muslime auf der ganzen Welt, kommt schnell in euren Staat!“ Am 4. Juli 2014 trat der selbst ernannte „Kalif Ibrahim“ mit diesen Worten zum ersten Mal öffentlich auf. Seine damalige Freitagspredigt in der wichtigsten Moschee der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul war eine Überraschung. Keine einzige Filmaufnahme war bis zu dem Zeitpunkt von ihm überliefert, einzig ein grobkörniger Screenshot aus einem Video kursierte. „Kalif Ibrahim“ war einst ein muslimischer Kleriker, der als Ibrahim Awad Ibrahim al-Badari 1971 in der irakischen Stadt Samarra auf die Welt kam. Unter dem Kampfnamen „Abu Bakr al-Baghdadi“ schloss er sich nach 2003 dem Terrorkrieg gegen die US-Besatzung an, ab 2010 war er Führer des „Islamischen Staates im Irak“ und so auch Boss des daraus entstandenen „Islamischen Staates“ sowie des Kalifats, das am 29. Juni 2014 ausgerufen worden war.
Ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar hatte die US-Regierung zu diesem Zeitpunkt bereits auf ihn ausgesetzt und al-Baghdadi zu einem der meistgesuchten Terroristen im Nahen Osten erklärt. Dies hatte aber auch einen kontraproduktiven Effekt: Der amtlich zum Erzfeind der USA deklarierte Iraker vermittelte mit Gestik, Outfit und Wortwahl eine klare, trotzige Botschaft.18 Seine Legitimität, als „Kalif Ibrahim“ Führer der sunnitischen Muslime zu sein, leitete er vorrangig daraus ab, aber auch von Rechtsquellen des Islam, die von führenden Klerikern allerdings völlig anders interpretiert werden. So betont Abdulfattah al-Owari, einer der führenden Experten der ägyptischen Universität Al-Azhar: „Sicher ist, dass ein Kalifat niemals durch die gewaltsame Okkupation von Land errichtet werden kann. Die Welt hat sich seit den Zeiten des Propheten Mohammed verändert, und heute gibt es Staaten mit klaren Grenzen, die zu respektieren sind.“ „Nichts im Islam würde einen solchen Herrschaftsanspruch rechtfertigen“, betont ein weiterer führender Islam-Gelehrter der al-Azhar-Universität, Ibrahim al-Hudud: „Dies gilt auch für Selbstmordanschläge, die das Leben von Unschuldigen fordern. Sie stehen im krassen Gegensatz zum islamischen Recht, der Scharia.“19
Im Universum des IS zählen solche Bedenken wenig. Die Schlagkraft des Kalifats erklärt sich vor allem daraus, dass Selbstmordattentäter als Teil eines eiskalten Kalküls im Angriffskrieg eingesetzt werden. Der „Blitzkrieg“ des Jahres 2014 war nur möglich, weil Dutzende Selbstmordattentäter die Reihen der Gegner sprengten. All dies vermittelte einen Mythos der Stärke, der noch mehr ausländische Kämpfer anzog, die darum wetteiferten, zu Märtyrern zu werden. Sprunghaft stiegen die Ausreisen ab diesem Moment an. Mindestens 20.000 Ausländer aus hundert Staaten der Welt kämpften Mitte 2015 bereits in den Reihen des IS. Da nach Beginn der Militärschläge der internationalen Anti-IS-Koalition pro Monat tausend neue Kämpfer kamen,20 blieb die Armee des Kalifats intakt, auch wenn bei Luftschlägen der internationalen Anti-IS-Allianz bis Juni 2015 laut Angaben des US-Verteidigungsministeriums mehr als 10.000 ihrer Kämpfer getötet wurden.21
Neben der Zahl von 20.000 ausländischen Kämpfern, die Sicherheitskreise in Europa und den USA nennen, kursieren aber auch andere, wesentlich höhere Schätzungen. So meint Abdel Rahman vom „Syrischen Beobachtungszentrum für Menschenrechte“, dass allein in Syrien 50.000 Ausländer aufseiten des IS kämpfen würden; das russische Militär wollte Anfang 2015 gar von 70.000 wissen. Bereits Im Juli 2014 warnte der irakische Terrorexperte Hisham al-Hashimi vor „bis zu 100.000 ausländischen Dschihadisten“. In dieser Zahl sind bewaffnete Einheiten inkludiert, die nicht im eigentlichen militärischen Konflikt eingesetzt werden: Polizeieinheiten, Leibwächter, lokale Milizen in besetzten Städten sowie Paramilitärs, die zu den verschiedenen Sicherheitskräften des IS gehören.22 Wie viele es wirklich sind, weiß niemand mit Sicherheit, denn es gibt keine Chance, unabhängig im IS zu recherchieren. Dazu kommt: Meist beziehen sich die Zahlen über ausländische Dschihadisten, die in Syrien und dem Irak aktiv sind, auf alle Extremistengruppen, die in den Konflikt involviert sind. Nur drei Viertel davon – so meine Schätzung, die auf zahlreichen Analysen basiert – kämpfen tatsächlich für den IS. Andere sind für andere Dschihadistengruppen aktiv, die auch gegen den IS Krieg führen.
So muss man sich dessen bewusst sein, dass wir auch über die wahren Zahlen aus den einzelnen Staaten nur Schätzungen der jeweiligen Sicherheitsbehörden kennen. Die meisten Ausländer im Sold des IS – circa 3000 – stammen aus Tunesien, gefolgt von Saudis, die mit 2500 Kämpfern das zweitgrößte Kontingent stellen. Militärisch eine wichtige Rolle spielen Tschetschenen und andere Milizen aus dem Kaukasus, die auch Kampferfahrung mitbringen. Die größte Gruppe der circa 7000 europäischen Dschihadisten stammt aus Frankreich, von wo ab 2011 mindestens 1400 Kämpfer nach Syrien und in den Irak zogen. Drei Viertel sind erst ab 2014 ausgereist. Aus Deutschland und Großbritannien dürften bis Juni 2015 jeweils 700 Kämpfer kommen. In Relation zur Zahl der Einwohner rangiert Österreich mit seinen 220 Dschihadisten weit oben in der Liste der Rekrutierungsländer. Sehr viele Freiwillige stammen aus den Balkanländern, besonders aus dem Kosovo. Von hier kommen in etwa so viele Dschihadisten wie aus Belgien, das mit circa 400 Kämpfern den höchsten Pro-Kopf-Anteil der europäischen Staaten hat.
Wie hoch die Diskrepanz zwischen diesen offiziellen Zahlen und der Realität sein dürfte, zeigen Recherchen des Historikers Pieter Van Ostaeyen, der die offiziellen Angaben aus seinem Heimatland Belgien penibel überprüfte. Er fand heraus, dass um ein Fünftel mehr ausgereist war, als von der Regierung angegeben.23 Im Frühling 2014 wandten sich sogar Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes an die Presse: „Die offiziellen Zahlen scheinen uns zu niedrig“, so die Einschätzung: „Das liegt daran, dass wir das Problem zu spät erkannten und so viele Ausreisen nicht registrierten. Alleine wenn man bedenkt, dass noch immer in etwa fünf Personen pro Woche nach Syrien und in den Irak reisen, dürfte es sich insgesamt um höhere Dimensionen handeln.“24
Trotz der massiven Verschärfung von Gesetzen und Kontrollen mit Beginn 2014 schafften es zahlreiche Dschihadisten nicht nur in Großbritannien auch im Jahr eins des Kalifats auszureisen und werden dies auch in Zukunft tun. Bis zu 10.000 Kämpfer aus Europa könnten bis Ende 2015 in Syrien und im Irak sein, so die Prognose von Frankreichs Premierminister Manuel Valls.25 Ähnlich schätzen auch Behörden in Österreich und Deutschland die Entwicklung ein: Laut dem deutschen Bundeskriminalamt etwa dürfte sich die Zahl der ausgereisten Dschihadisten bis Ende 2015 fast verdoppeln, also auf tausend steigen.26
Etwa ein Zehntel ist bereits wieder zurück in ihre Heimat gereist. Dies lässt die Alarmglocken schrillen. „Wir haben noch nie eine dermaßen große Terrorbedrohung erlebt“, sagt Brett McGurk, Sondergesandter von US-Präsident Barack Obama für die „Anti-IS-Koalition“.27 Von einer regelrechten Ausbildungsstelle für den globalen Dschihad ist in einem Bericht der Vereinten Nationen im April 2014 die Rede: „So wie in den 1990er-Jahren Afghanistan verwandeln sich Syrien und der Irak in eine Kaderschmiede von Extremisten.“ Die Experten fassten dafür weltweite Informationen über freiwillige Kämpfer bei islamistischen Terrorgruppen zusammen. Die Zahl der Mitglieder von Terrororganisationen ist demnach zwischen 2014 und 2015 um 71 Prozent gestiegen. „Noch nie in der Geschichte gab es eine dermaßen hohe Aktivität von Dschihadisten“, heißt es in dem Bericht. Die warnende Ergänzung: „Eine mögliche militärische Niederlage des IS könnte dazu führen, dass hoch motivierte Kämpfer in ihre Heimatländer zurückkommen und für große Sicherheitsprobleme sorgen würden: „Manche der Rückkehrer werden traumatisiert sein und im Schock, andere von kriminellen Netzwerken rekrutiert werden“, heißt es in dem Bericht.
Dieses Problem stellt sich allerdings nicht erst in der Zukunft, nach einem möglichen Zusammenbruch des IS. Die Bedrohung des Terrorexports ist bereits in der Gegenwart angekommen: Am 24. Mai 2014 wurden vier Besucher des jüdischen Museums in Brüssel ermordet. Der Attentäter: Mehdi Nemmouche. Es war jener junge Franzose, den der Journalist Nicolas Hénin nur wenige Wochen zuvor noch als sadistischen Folterknecht des IS erlebt hatte. In Nemmouches Wohnung fand die Polizei eine Kalaschnikow und ein Jagdgewehr, eingehüllt in die schwarze Fahne des IS. Während des Attentats trug er eine Kamera bei sich, auf der ein vierzig Sekunden langes Video aufgezeichnet worden war, in dem er die Verantwortung für die Morde auf sich nahm und betonte, wie sehr er es bereue, dass es ihm nicht gelungen wäre, das Massaker selbst aufzuzeichnen, um dieses Material für Propagandazwecke zu gebrauchen.28
Am 7. Jänner 2015 wurde in Paris die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo angegriffen, dann ein jüdischer Supermarkt. Siebzehn Menschen starben. Zwei der Attentäter, die Brüder Chérif und Said Kouachi, waren in Trainingslagern der al-Kaida gewesen und gaben an, im Auftrag des al-Kaida-Ablegers im Jemen die Anschläge verübt zu haben. Ihr Komplize Amedy Coulibaly bekannte sich zum IS: via eines Telefonats mit Journalisten während des Attentats.