Читать книгу Die Dschihad Generation - Petra Ramsauer - Страница 11
DAS RISIKO DER EINSAMEN WÖLFE
ОглавлениеEs überlebte kein Attentäter dieses Tages, außer Amedy Coulibalys Komplizin und Freundin Hayat Boumeddiene. Es gelang ihr, zu entkommen und in Syrien beim IS Unterschlupf zu finden. In einem Interview für das Magazin Dabiq, das die Gruppe online auf Englisch verbreitet, schilderte sie eine bezeichnende Anekdote: „Amedy verbot mir, ihm Videos vom Leben im Islamischen Staat zu zeigen. Sonst hätte er es vor Sehnsucht nicht mehr ausgehalten, und anstatt die Tat in Paris auszuüben, wäre er einfach losgefahren.“
Es ist ein Satz, der viel aussagt. Bei Weitem nicht alle IS-Fans reisen in „ihren Staat“, vor allem nicht jene, die planen, in ihrer eigentlichen Heimat aktiv zu werden.
So schreibt „Abu Muhadjar“, ein Brite, in einer E-Mail aus der IS-Hochburg Raqqa: „Es gab viele Gründe, warum ich mein Leben, wie ich es kannte, verlassen habe. Vorrangig waren es religiöse Motive. Es ist die Pflicht eines jeden Muslims, das Land von Muslimen zu verteidigen, wenn es angegriffen wird. Und der zweitwichtigste Grund war es, helfen zu wollen: Ich kämpfe nicht nur, sondern kümmere mich auch um die Zivilbevölkerung.“ Ein anderer, er nennt sich „Abu Islam“, schreibt: „Großbritannien ist mein Zuhause. Dort bin ich geboren. Wenn ich geplant hätte, dort als Gotteskrieger zu kämpfen, dann hätte ich ja nicht nach Syrien fahren müssen. Es kommt mir ein wenig surreal vor, dass jemand glaubt, ich werde von hier zurückkehren und Terrorist werden. Ich verstehe natürlich die Sorge der Sicherheitsbeamten. Aber es wäre nötig, nicht alle über denselben Kamm zu scheren. Es gibt große Unterschiede.“
Es wäre freilich ein Fehler, Dschihadisten, die zurückkommen, einen Persilschein auszustellen, wie das Attentat in Belgien im Mai 2014 beweist. Wichtig ist es aber, jene nicht aus den Augen zu verlieren, die in Europa bleiben. Nicht die Rückkehrer, so Experte Peter Neumann, würden die größte Bedrohung darstellen, „sondern sich frei herumtreibende Fans, die im Westen leben und eben nicht ausreisen.“29 Wie viele es sind, wagt niemand zu schätzen.
Sicher ist allerdings, dass sie bestens organisiert sind. So wurde etwa am 19. März 2015 über den Twitter-Account @Shahadastories ein elektronisch abrufbares Buch mit dem Titel „How to Survive in the West: A Mujahid Guide“ beworben. Frei übersetzt bedeutet das: „Ein Leitfaden, um als Gotteskrieger im Westen zu überleben“. Es ist Teil einer Serie, die vor allem praktische Tipps gibt, um „den Dschihad zu Hause zu führen“, wie es heißt. Ein Kapitel widmet sich etwa der Frage, wie man „seine extremistische Identität verbergen kann, um nicht aufzufallen“. Es wird abgeraten, sich einen Bart wachsen zu lassen oder ähnliche Veränderungen im Lifestyle sichtbar zu machen, um nicht auf eine Terrorliste zu geraten: Das Beste sei, sich so freundlich und offen wie möglich zu geben. Es helfe auch, sich einen Spitznamen zuzulegen, der möglichst westlich klingt. Dazu finden sich Abschnitte, die erläutern, wie man eine Bombe baut, unauffällig Waffen transportiert, seine Internetkommunikation sicher gestaltet. Die Strategie scheint aufzugehen. „Die Anschläge in Paris haben uns die schmerzhafte Realität vor Augen geführt, dass es angesichts der Größenordnung des Problems für die Behörden derzeit außerordentlich schwierig ist, potenziell gefährliche Personen zu identifizieren“, so Europol-Chef Rob Wainwright.30
Die Entwicklung nach den fürchterlichen Morden vom Jänner 2015 bestätigt dies: Nur eine Woche nach dem Terroralarm in Brüssel, als die Polizei die Zelle vor den Anschlägen ausheben wollte, starben in Verviers dreizehn Menschen. In der Nacht vom 14. auf den 15. Februar 2015 eröffnete ein junger Däne mit palästinensischen Wurzeln das Feuer auf eine Synagoge und die Teilnehmer einer Diskussionsveranstaltung über das Recht auf freie Meinungsäußerung, an der auch ein schwedischer Cartoonist teilnahm. Fünf Polizisten wurden dabei verletzt, zwei Männer und der Attentäter starben.
Mehr als sechzig verübte oder versuchte Anschläge des globalen IS-Netzwerks wurden zwischen Juni 2014 und Juni 2015 in Europa, Nordamerika und Australien gezählt. Viele scheiterten, was darauf schließen lässt, dass die „freischaffenden“ Einzeltäter glücklicherweise meist äußerst amateurhaft vorgehen. Gleichzeitig geht es nicht darum, mit einzelnen, spektakulären Anschlägen Aufmerksamkeit zu schaffen, sondern eine kontinuierlich bestehende Drohkulisse zu inszenieren. Laut einer Analyse des „Spanischen Instituts für Strategische Studien“ (IEEE),31 das zum Verteidigungsministeriums gehört, stellen „sogenannte ‚einsame Wölfe‘ die größte Bedrohung für Europa dar. Das sind Aktivisten, die heimlich den Treueeid gegenüber al-Baghdadi leisten, sie agieren, ohne sich mit irgendjemandem abzusprechen. Es ist die Hölle, wenn man versuchen möchte, solche Personen zu stoppen“, heißt es in dem Bericht. „Terroristen sind heute nicht mehr darauf angewiesen, mit den Führern ihrer Bewegung per E-Mail oder Telefon direkt in Kontakt zu treten, um zu wissen, wann und was sie genau zu tun haben. Ob Codes, Angriffsziele oder Timing: Sie bekommen ihre Befehle übers Netz.“ Als Beispiel wird ein Video erwähnt, das vom IS im Juli 2014 verbreitet wurde und die Befreiung „Andalusiens“ propagiert und dazu anregt, es als Provinz ins Kalifat einzugliedern. Es wird dabei Bezug auf den historischen Begriff „al-Andaluz“ genommen: jenes Gebiet im Süden Spaniens, das ab dem 8. Jahrhundert von den Mauren gehalten und 1492 von den „katholischen Königen“ erobert wurde. Ein Dschihadist, der Spanisch spricht, verkündet in dieser Aufnahme: „Ich gebe diese Warnung der ganzen Welt. Wir kämpfen unter der Islamischen Flagge und wir wollen alle Länder der Muslime, die von Ungläubigen besetzt sind, zurückerobern. Von Jakarta bis Andalusien. Spanien ist das Land unserer Vorfahren und mit der Macht Allahs holen wir es zurück.“
Harleen Gambhir vom „Institute for the Study of War“ (ISW) erkennt darin eine klare Strategie der IS-Führung. Um die Macht zu konsolidieren, werde auf drei Taktiken gesetzt. Erstens: Der militärische Konflikt rund um das Kalifat wird laufend angestachelt. Zweiter Pfeiler der Strategie sei es, Dschihadistengruppen weltweit einzugliedern. Ein wesentlicher Stützpfeiler der Strategie sei das dritte Element, im Westen „einsame Wölfe“ für Anschläge zu motivieren. Gambhir: „Das alles folgt dem Ziel, einen globalen apokalyptischen Krieg zu starten.“32
Wann immer der IS in seiner Hochburg an Terrain verlor, wurde dieser dritte Pfeiler im Kampf wichtig. Im März 2015 starben 21 Menschen bei einem Anschlag auf das tunesische Nationalmuseum, zu dem sich die Gruppe bekannte. Damals war die Terrormiliz in ihren Hochburgen in Syrien und im Irak massiv unter Druck geraten. So auch Mitte Juni 2015, kurz bevor am 26. des Monats eine Anschlagswelle in Frankreich, Kuwait und Tunesien Tote forderte. „Die Feinde Allahs sind direkt vor euren Augen. Greift sie an, wo immer in der Welt ihr sie finden möget!“ Mit diesen Worten wandte sich IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani nur wenige Tage später per Audiobotschaft an die Fangemeinde. Wenige Tage später enthauptete der 35-jährige französische Lastwagenfahrer Yassin Salhi seinen Chef, setzte das Betriebsgelände in Brand und schickte ein „Selfie“ von sich und dem Kopf des Toten zu seinen Freunden, die in Syrien im IS kämpften. Am selben Tag griff ein IS-Sympathisant aus Saudi-Arabien eine schiitische Moschee in Kuwait an und Seifeddine Rezgui Touristen am Strand von Sousse in Tunesien. Ob es je einen direkten Kontakt zwischen der IS-Führung und diesen Terroristen gegeben hat, ist unklar. Klar ist, dass dieser gar nicht nötig war. Der „Dschihad 3.0“ läuft wie von Zauberhand gesteuert.
Diese Strategie ist zentral für den IS. Bereits während der ersten Tage nach der Gründung des Kalifats war dies spürbar. Über das Internet lief eine Kampagne namens „Eine Milliarde Muslime zur Unterstützung des islamischen Staates“ an. Weltweit wurden Fans der Gruppe aktiv, hielten Zettel mit diesen Worten vor Sehenswürdigkeiten. In Wien war es das Riesenrad. Jemand namens „Abu Umar“ fotografierte es und stellte es ins Netzwerk Twitter. Sechzehn Mal wurde es binnen weniger Stunden weitergeleitet, dreizehn Mal wurde es „favorisiert“. Als Heimatland gibt „Abu Umar“ in seinem Profil „das Diesseits“ an.33
Und auch in Österreich zeigten erste Verhaftungen, dass Möchtegern-Dschihadisten quasi im Fernstudium die „IS-Internetakademie“ nutzen. So plante ein Vierzehnjähriger, den Wiener Westbahnhof zu sprengen. Seit acht Jahren lebte der Bub da schon in Österreich, auf die Welt kam er in Istanbul. Nach der Scheidung seiner Eltern wuchs er ohne Vater auf und besuchte die Sonderschule, stritt sich ständig mit der Mutter. Im Internet fand er in der Propaganda des IS eine Gegenwelt. Er plante, nach Syrien auszureisen, suchte Kontaktpersonen in Wien. Diese redeten ihm die Reise aus. Er könne doch auch in Österreich für den Heiligen Krieg nützlich sein, wurde ihm gesagt. Also recherchierte er online, wie man eine Bombe baut, und suchte nach Plänen des Wiener Westbahnhofs als mögliches Anschlagsziel.34
Sind Personen wie er, die mit der Anklage konfrontiert sind, Teil einer terroristischen Gruppe zu sein, vor Gericht und auch im Gefängnis am richtigen Ort aufgehoben? In diesem Fall wurde lediglich eine bedingte Strafe ausgesprochen. Dies mag auch damit zu tun haben, dass fast alle Attentäter, die zuletzt in Europa zuschlugen, nicht eine Reise nach Syrien gemeinsam haben, sondern allesamt erst im Gefängnis ihre Radikalisierung erlebten. Deshalb ist diesem Problem ein beträchtlicher Abschnitt in diesem Buch gewidmet. Zuvor gilt es aber, die Spurensuche des Phänomens IS aufzunehmen. Was sind „Dschihadismus“ und „Salafismus“, welche Bedeutung hat die Ideologie und wie konnte sie sich in eine bedrohliche Jugendbewegung verwandeln? Vor allem: Wie ticken diese Jugendlichen, wie funktioniert ihre PR-Abteilung, die Gehirnwäsche, wie werden sie rekrutiert, wie grausam gehen sie vor und wie gefährlich ist die „Dschihadmania“ für uns?