Читать книгу Der Grenadier und der stille Tod - Petra Reategui - Страница 7

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Freitag, den 17ten Januarij 1772

Es ist so weit. Ihm wird übel. Er schwankt, wendet sich ab. Und sieht doch in den Mienen der Umstehenden,

… dass der Scharfrichter zum Schwert greift …

… dass er zielt …

… ausholt …

Die Gaffer recken die Köpfe, stellen sich auf Zehenspitzen, Kinder werden hochgehoben.

Jetzt …

Der Mann neben ihm zuckt zusammen, zieht jäh die Schultern hoch, die frisch gepuderte Perücke verrutscht. Eine Frau hält dem Jungen auf ihrem Arm die Augen zu, unter ihrer Haube löst sich eine Haarsträhne. Zwei Mädchen klammern sich aneinander, weinen.

Dann ist es vorbei. Die Menschen atmen auf. Münder öffnen und schließen sich aufgeregt, pusten Wölkchen in die kalte Luft. Drei Herren in Beinkleidern und Röcken aus edlem Tuch nicken einander zu, leeren gleichmütig die Becher, die sie zuvor beim Getränkehändler erstanden haben. Einer kratzt sich im Schritt.

Es fängt zu schneien an, Bewegung kommt in die Schaulustigen. Die ersten machen sich auf den Nachhauseweg. Die Magd des Gürtelmachers von der langen Morgenabendstraße bückt sich nach ihrem Korb, ihre Hände sind rau und rissig, die Nägel abgekaut. Sie grüßt ihn, bevor sie von Bekannten untergehakt und fortgezogen wird. Schon haschen Kinder mit weit ausgebreiteten Armen nach den vom Himmel herabwirbelnden Flocken. Buben schwingen Stöcke wie eben der Henker seine scharfe Waffe, stupsen und schubsen sich, bald tobt auf der weiten Flur vor dem Stadttor eine wilde Schlacht. Schneebälle fliegen. Einer der Kleineren fällt, die anderen stürzen sich auf das Kerlchen, halten es fest und reiben ihm das Gesicht mit den nassen Bollen ab, der Junge kann sich nicht wehren.

Es ist ungerecht, alle gegen einen. Als er im selben Alter war, hatten die Kinder in seinem Viertel es auch ständig auf ihn abgesehen. Machten sich einen Spaß daraus, ihm aufzulauern, immer von hinten, sodass er sie nie bemerkte. Traten ihn, stellten ihm ein Bein, verprügelten ihn. Aber er hat sich nichts gefallen lassen. Er hat wild um sich geschlagen. Gebissen. Geboxt. Gekratzt. Und er hat gespürt, wie aus seiner Kehle, aus seinem geöffneten Mund, ein Beben herausbrach, Stöße, so heftig, dass ihm schier gar der Kopf zersprang. Bis einmal das Mädchen vom Nachbarhaus angeschossen kam. Aufhören! Lasst ihn in Ruhe! Ihre Augen spuckten Feuer, ihre Hände verteilten Ohrfeigen. Er rannte in den Hof und verkroch sich hinter Gerümpel. Aber seither hatte er eine Beschützerin, eine Freundin, einen Menschen, vor dem er sich nicht fürchten musste. Nie im Leben würde er vergessen, wie sie dem prahlerischen Fettwanst, der der Gemeinste von allen war, eine solche Maulschelle verpasst hat, dass die Backe des Dicken drei Tage lang geschwollen war.

Er hält sein Gesicht in das Schneegegriesel und schmeckt die kalten Kristalle, die ihm auf den Lippen zerschmelzen. Flockenfangen mit dem Mund. Wie oft haben sie dieses Spiel gespielt, er und seine Beschützerin. Eine und noch eine und noch eine. Und wenn sie dann müde waren, warfen sie sich in den Schnee und kullerten die Böschung zum Steineschiffkanal hinunter, unter Herzklopfen, denn kurz vorm Wasser galt es abzubremsen, um nicht hineinzurollen.

Endlich dreht er sich um und starrt hinüber zu der Stelle, wo die Hinrichtung stattgefunden hat. Der Stuhl, auf dem sie gesessen und mit verbundenen Augen den furchtbaren Streich erwartet hat, ist leer. Zwei Männer mühen sich ab, den leblosen Körper in eine Kiste zu legen. Sie stopfen die überhängenden Zipfel des Totenhemds zwischen Leichnam und Kastenwand und schließen den Deckel. Ein dritter wirft ein Tuch über den Korb, in den der Kopf gefallen ist, und verstaut den Behälter auf einem Leiterwagen. Schon sind andere dabei, das Schafott abzubauen. Das Holz des Gerüsts ist Teil des Henkerlohns, es wird dem Mann mit der langen Hiebwaffe gutes Geld bringen.

Er weiß, dass es so ist. Trotzdem packt ihn die Wut. Trauer und das Gefühl von Verlassenheit übermannen ihn. Wieder wird ihm schwindlig. Die Bäckersfrau aus der Gasse, in der er wohnt, eilt besorgt zu ihm herüber und will ihn halten. Er schüttelt den Kopf: Es ist nichts, gar nichts, mach dir um mich keine Sorgen. Sie zweifelt, zögert, kehrt dann aber doch zu den Leuten zurück, mit denen sie zum Richtplatz gekommen ist.

Der Schnee fällt jetzt in dichten Schwaden. Hastig packen die Essensverkäufer die übrig gebliebenen Brezeln und Weckle zurück in die Brotkästen, die Schankknechte verstöpseln angebrochene Flaschen und verstauen sie samt Gläsern und Bechern wieder bruchsicher auf ihren Karren. Nur ein welscher Bauchladenkrämer, dem das Wetter nichts anzuhaben scheint, zählt ungerührt das Geld in seiner Hand. Er hat gut verkauft, Knöpfe, Borten, Seifen, fast seinen gesamten Vorrat an Citronen. Eben ersteht eine Frau schnell noch einen billigen Halsschmuck. Als ihr der sonnendunkle Händler das Bändchen mit dem glitzernden Anhänger unter ihrem Haarknoten zu einer Schleife bindet und seine gelenken Finger ihren Hals streicheln, kichert sie verlegen, ruckelt ihren Umhang zurecht und blinzelt dem Mann zu, bevor sie lachend der Menschenmenge hinterherrennt, die zum Abendtor strömt. Der Himmel sieht aus, als stürze er gleich auf die Stadt herab.

Er geht, als niemand mehr auf dem Richtplatz ist. Es muss Mittag sein, denn in der kargen Wachtstube am Tor sitzen die Posten beim Essen. Er würde sich gern zu ihnen setzen, um nicht allein zu sein. Aber den einen, mit dem er sich hin und wieder unterhält, leidlich, mit armseligen Gesten, sieht er nicht. Die anderen hier würden ihn nicht verstehen, würden nicht begreifen, was er von ihnen will, ihn fortwinken, im schlimmsten Fall auslachen. Er grüßt im Vorbeigehen. Sie mustern ihn kurz, aber scheren sich nicht weiter um ihn. Der eine der Wächter trägt einen gebieterischen Schnäuzer, der zu beiden Seiten der Mundwinkel in je einer dünnen, gezwirbelten Spitze endet. Ihm selbst sprießt nur weicher Flaum.

Ohne auf Schnee und Kälte zu achten, läuft er die Morgenabendstraße entlang. Der Seifensiedemeister steht unter seiner Ladentür inmitten einer Wolke übel riechenden Laugendampfs und blickt den Passanten hinterher, die in die Wirtshäuser drängen, um das Ereignis des Tages zu begießen. Das Gesicht des Kaufmanns drückt Verständnislosigkeit aus, ja, fast so etwas wie Herzweh, als hätte er die junge Frau, die hingerichtet worden ist, gekannt. Vielleicht ist es ja so, vielleicht hat seine Beschützerin für den Seifenmacher gearbeitet, die Siederei geputzt, die Ware ausgeliefert. Er weiß es nicht.

Er weiß überhaupt so vieles nicht.

Bei einem Wetter wie heute braucht er nicht die Straßen zu kehren, er kann in dem kleinen Krug nahe dem Morgentor einen Schoppen trinken oder zwei. Es ist billig dort und der Wirt umgänglich, vielleicht weil er dem Mann hin und wieder hilft, Hof, Stall und Küche auszumisten, und mit jedem Geldstück, das dieser ihm gibt, zufrieden ist. Er tut stets so, als merke er nie, dass die meisten Gäste nichts mit ihm zu tun haben möchten, ja, dass sie geradewegs durch ihn hindurchschauen, wenn er zur Tür hereinkommt. Es ist so, es war schon immer so, und er bildet sich ein, dass es ihn nicht stört. Gestört hat ihn nur, als eines Tages der Tisch, an dem er für gewöhnlich saß, ein anderer war. Der neue ist kleiner als der vorherige. Es stehen auch nicht mehr vier Stühle daran, sondern nur noch einer. Hätte er sich beklagen sollen? Wie denn? Der Wirt ist gekommen, hat ihm versöhnlich einen Teller Suppe mit einem großen Brocken Fleisch darin hingestellt, für ganz umsonst, und mit hilflosen Gesten und schmalem Lippengekräusel zu erklären versucht, warum er den Tisch ausgewechselt hat. Begriffen hat er es nicht, hat die Kränkung geschluckt. Die Besuche in der Schenke wollte er sich nicht vermiesen lassen. Denn wenigstens die Weibsleute dort schauen ihn an. Zwei gefallen ihm.

Sie schauen oft zu ihm, necken ihn mit kleinen Gesten. Inzwischen weiß er, was sie wollen. Was sie von den Männern wollen. Mit der mit der kleinen Narbe auf der Wange ist er einmal mitgegangen, ins Stockwerk obendrüber. Er musste endlich wissen, was dort passiert. Und das Narbenmädchen hatte ihn neugierig gemacht. Alles an ihr war verlockend, ihre Augen von einer Farbe wie Wind und Regen, das duftende Haar, der runde Körper. Die Haut unter seinen Händen war sanft, aber mehr als tasten durfte er nicht. Und alles behielt sie an, Hemd und Rock, und durch die Stofffülle musste er sich erst hindurcharbeiten. Ein bisschen fühlte er sich betrogen. Er hätte sie gern ohne Kleider gesehen. Er wird es sich gut überlegen, bevor er das wenige Geld, das er hat, ein zweites Mal für so etwas ausgibt.

Heute ist sie nicht da, nur eine ältliche Matrone, die verdrießlich zu ihm herüberschielt. Das Weib erinnert ihn an die Mutter seiner Beschützerin.

Die jetzt nicht mehr ist.

Er hat die Freundin schon verloren gehabt, als sie noch lebte. Er kann sich nicht entsinnen, wann es passiert ist, dass sie sich veränderte. Als es ihm auffiel, war es zu spät. Nur wusste er das zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Sie war auf keinen mehr zugegangen, ließ niemanden mehr an sich heran, auch ihn nicht, sie hatte sich in einen unsichtbaren Kokon verkrochen und aufgehört zu lachen. Und was hatten sie doch miteinander gelacht, sie und er, als sie noch Kinder waren. Gespielt, gestritten und gelacht, und dann hatte sie ihm nachts die leuchtenden Punkte am Himmel gezeigt.

Es war eine warme Nacht gewesen, nur dass die Dunkelheit ihn ängstigte, die Dunkelheit, die alles verschluckt, Dinge, Häuser, Tiere, Gesichter, Gesten, jede Bewegung. Aber sie zerrte ihn mit, obwohl er nicht mitwollte und ihm Blut aus der Nase lief. Immer lief ihm Blut aus der Nase, wenn er Angst hatte. Und Angst hatte er oft. Weil er nicht begriff, was die Leute von ihm wollten oder mit ihm vorhatten.

Hat sie damals das Blut nicht gesehen, oder ist es ihr egal gewesen? Sie hat ihn einfach an der Hand gepackt und hinter sich hergezerrt, komm, schnell, und ohne dass er sich widersetzen konnte, rannte sie mit ihm durch die Gärten hinunter zum Steineschiffkanal bis zu der Stelle, wo die Stadt aufhört und jenseits des Wasserlaufs die Felder anfangen. Guck, zeigte sie mit dem ausgestreckten Finger nach oben, guck. Und hoch über ihnen glimmerten und gleißten die hellen Punkte, ein riesiges Funkengestöber, und dann schoss eines der Lichter über den Himmel und noch eines, und beide zogen eine dünne Linie, einen Schweif hinter sich her, und seine Beschützerin kniff ihm in den Arm vor Aufregung, und er hüpfte und sprang, bis sie sich lachend, aber auch irgendwie angeekelt, vielleicht von seinem wilden Gehopse, zuerst ihre Ohren zuhielt und ihm gleich darauf seinen Mund, er wusste nicht, warum. Als wenn da etwas Hässliches herauspurzelte. Er war beleidigt.

Doch dann hockten sie nebeneinander und zählten, wie viele Pünktchen durch die Nacht flogen, und mit einem Stock malte sie »5« in den Sand, dann »8«, dann »12«, mehr als er Finger an den Händen hat.

Sie war älter als er, vielleicht vier oder fünf Sommer. Er bewunderte sie, denn sie war stark. Eines Tages würde er so stark sein wie sie.

Und jetzt ist sie nicht mehr.

Er kann es nicht glauben. Er will es nicht glauben, auch wenn er sie heute nicht mehr braucht. Er ist kein Kind mehr, er blutet nicht mehr aus der Nase, er hat gelernt, mit dem Leben zurechtzukommen. Auf seine Art. Und der Fettwanst ist irgendwann gestorben, er weiß nicht, woran. Aber es interessiert ihn auch nicht.

Nur die Nächte sind ihm noch immer unangenehm. Wenn Bewegungen kaum zu sehen sind und die dunklen Schatten die Gesichter der Menschen schlucken.

Der Grenadier und der stille Tod

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