Читать книгу Und die Wahrheit steht auf - Petrus Faller - Страница 8
Auf-Essen oder Aus-Brechen
Оглавление„Und Traurigkeit ist die Illusion der Leere.“
Adi Da
Meine Schulzeit ging zu Ende. Ich war nun neunzehn Jahre alt, hatte das Abitur in der Tasche und wollte irgendwie an dieser mir fremden Welt teilnehmen. Seit meiner frühen Jugend liebte ich das Gestalten und das Entwerfen. Schon früh nähte ich für mich und andere alle Arten von ausgeflippten Klamotten und ich hatte mir zum Ziel gesetzt, nach einer Schneiderlehre an einer Universität Modedesign oder Kostümbild zu studieren, um Schönheit und Kreativität in diese Welt zu bringen.
Das Ganze endete in einem Desaster. Im Jahre 1984 kam ich in die Beamten-Stadt Karlsruhe, schlenderte in den ersten Tagen durch die Fußgängerzone und der Schock traf mich völlig unvorbereitet, als ich mit der Grauheit der Menschen, ihrer Verschlossenheit und dem gehetzten Gang, den ausnahmslos jeder in der Stadt verinnerlicht hatte, konfrontiert wurde. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich war in einer behüteten ländlichen Privatschule der katholischen Kirche mit großteils jungen und sympathischen Lehrern aus der 68er Bewegung aufgewachsen. Am Ausbildungsplatz dagegen herrschte offener Sexismus gegenüber Frauen, fast alle heuchelten nach oben und stießen nach unten. Ich fiel vollkommen aus meiner Naivität und wollte nicht begreifen, dass die Arbeitswelt so grausam und verlogen sein sollte. Ich quälte mich durch zweieinhalb Jahre Lehrzeit, kämpfte gegen die Strukturen vergeblich an und erlebte den Abschluss wie ein Erlösung.
Kurz vor Ende der Ausbildung begann ich mit der Suche nach einem Studienplatz. Ich besuchte Wien, reiste nach München und am Schluss kam ich nach Berlin. Als ich vor der Freien Universität stand und auf den großen Gebäudeeingang blickte, überkam mich wie früher eine spontane und offensichtliche Erkenntnis: Ich sah tausende von jungen Menschen aus den Eingängen strömen und verstand schlagartig, dass es nicht DAS war, was ich suchte, und dass ich dort nicht erreichen konnte, was ich wollte. Auch wenn ich keine genau Vorstellung davon hatte, was DAS eigentlich sein sollte und was mein Ziel war. Wenn so viele Menschen sich angebliches und scheinbares Wissen über das Dasein und die Schönheit der Kunst aneigneten und die menschliche Welt so lieblos und grau ist, dann musste irgendetwas mit dieser Wissensvermittlung nicht stimmen. Ja mit dem Wissen von und über die Welt musste etwas grundlegend falsch sein. In diesem Augenblick hatte sich mein Studium erledigt.
Mittlerweile wohnte ich in meinem eigenen Haus, das ich im Alter von fünf Jahren nach dem Tod meines Vaters und meines Großvaters geerbte hatte. Beide waren im Abstand von zwei Wochen kurz nacheinander gestorben, und so blieb nur ich als alleiniger Erbe übrig. Meine Stiefoma wohnte nach dem Tod ihres Mannes, weiterhin ebenfalls in dem Haus, das sehr schön in der Mitte eines Dorfes, direkt an einem gemächlich vor sich hinfließenden Fluss lag. Es besaß zwei Stockwerke, Keller, Speicher, eine große Scheune und einen Garten. Vor dem Haus stand eine prächtige Linde, die der Großvater vor dem 2. Weltkrieg direkt am Fluss gepflanzt hatte.
Meine Stiefoma mochte unser Familie nicht und meine Mutter und ich konnten auch nach Jahren keine besonders innige Beziehung zur Großmutter aufbauen. Als sie sieben Jahre später starb, übernahmen wir das ganze Haus, ohne dass ich und meine Mutter jemals gemeinsam darin wohnen sollten. Meine Mutter mochte das Haus nicht und blieb in ihrem Dorf.
Mit fünfzehn Jahren begann ich mit der Renovation der ersten Etage und arbeitete mich Zimmer für Zimmer voran. Mein viel älterer Stiefbruder hatte die zweite Etage bezogen und sollte dort für ein paar Jahre leben.
Mit neunzehn Jahren zog ich endgültig ein. Die Einrichtung war sehr einfach gehalten. Ein Waschbecken für die tägliche Körperpflege, eine Steinspüle, zwei Gasplatten zum Kochen, ein großes französisches Bett in der Mitte des Zimmers, Regalbretter an der Wand, das war’s auch schon. Die Toilette befand sich außerhalb der Wohnung, über eine Veranda zu erreichen. Dieses Haus wurde zu meiner Zuflucht und zum Rettungsanker für die nächsten Jahre.
Ich hatte versucht, am „normalen“ Leben teilzunehmen und nach kürzester Zeit bemerkte ich, dass es die meisten Menschen zutiefst unglücklich machte. Die verrückten Philosophen und Schriftsteller hatten mir keinen wirklichen Zugang zur Wahrheit und zum Glück aufzeigen können, auch wenn sie tausende von Büchern geschrieben hatten. Wo waren die Taten und Werke? Im Geist? Wo hatte sich das Leben wirklich geändert? Wo war das Glück? Wo war einer, der dies alles verstand und erklärte? Die meisten, deren Schriften ich liebte, waren im Wahnsinn ihrer eigenen Worte geendet. Die Welt versank nach wie vor in täglicher Gefühllosigkeit von Krieg, Aufrüstung und der hemmungslosen Ausbeutung von Mensch und Natur. Die Schule hatte mich auf alles vorbreitet, aber nicht auf dieses grausame und unerbittliche Leben.
So hielt ich nach anderen Möglichkeiten Ausschau. Las Bücher über Kulturen und Traditionen, die andere Lebensformen gewählt hatten, die Frauen an der Macht teilnehmen ließen oder von ihnen geprägt waren. Befasste mich intensiv mit Grundlagen des Feminismus und musste doch letztendlich erkennen, nachdem ich zahllose Bücher studiert und gelesen hatte, dass keine und keiner eine vollkommene Lösung bereithielt oder das ganze Dilemma der Existenz schlüssig und nachweisbar erklären konnte. Der Geist schien permanent mit sich selbst vögeln zu wollen, um Befriedigung und Freude zu erlangen, blieb aber in letzter Konsequenz auf sich selbst beschränkt. Das Ganze hier machte überhaupt keinen Sinn.
Nach dem sich mein Universitätsstudium erledigt hatte, suchte ich mir einen Zivildienstplatz in einer Schule für schwerbehinderte Kinder. Ich ließ meine Haare noch länger wachsen und färbte sie jetzt rot mit Henna ein. Ich lernte die Frau meiner Träume kennen. Verliebte mich in mein eigenes real-utopisches Bild einer wild-galoppierenden-blonden Amazone mit blauen Augen, die mit Glöckchen an ihren nackten Beinen barfuss durch die Stadt tanzte, und scheiterte kläglich nach nur drei Monaten an unserem Wollen-und-nicht-können. Der Schmerz, es nicht zu bewerkstelligen zu können mit dieser Welt in wirkliche Beziehung zu treten, warf mich endgültig aus der Bahn.
Ich begann für längere Zeit zu fasten, um nicht mehr länger fühlen zu müssen und landete in der Bulimie. Ich begann drei- viermal täglich zu fressen und zu kotzen. Rannte durch Lebensmittellläden auf der Suche nach noch-nicht-geschmecktem und zog mich immer mehr zurück. Ich lief barfuss. Band mir Glöckchen um die Beine und brachte mir selbst Yoga bei, nachdem mir vorher ein Freund ein Buch geschenkt hatte. Morgens und abends praktizierte ich für 90 Minuten meine Yogaübungen. Und es gab nichts Erleichternderes, als in der Totenstellung für mehrere Minuten die Wahrnehmung von dieser Welt vollkommen zu entfliehen. Bulimie war für mich nicht der Ausdruck von Gewichtsproblemen, ich kannte das Wort nicht mal und wusste gar nicht, dass mein Verhalten als Krankheitsbild existierte. Stattdessen war es offensichtlich eine Selbst-Hin-Richtung, die unweigerlich einer schrittweisen Selbsttötung gleichkam. Die sexuelle Lust versiegte ganz. Ich saß in meinem Haus, isolierte mich immer mehr, bis ich stolz feststellte, dass ich wieder ein ganzes Wochenende geschwiegen und mit keiner Menschenseele für drei Tage Kontakt aufgenommen hatte. Die meisten Freundschaften endeten. Mein langjähriger bester Freund prophezeite mir den Wahnsinn und bat mich inständig aufzuhören philosophische Bücher zu lesen. Er konnte mein Leben und meine wachsende Verzweiflung nicht länger ertragen und sorgte sich mehr um mein Wohlergehen als um sich selber.
Ich konnte nicht mehr innehalten, das Rad drehte sich unaufhörlich weiter. Nach der zerbrochenen Beziehung zu meiner wild-galoppierenden Amazone packte mich ein Wahn, der später immer mal wieder auftauchen sollte. Ich musste einfach unterwegs sein. Reisen. Laufen. So machte ich mich, kurz nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag, einen Tag vor Heiligabend, bepackt mit einem Schlafsack und einem kleinen Rucksack auf den Weg nach Südfrankreich. Ich wollte zu Fuß, wenn möglich barfuss, die Camargue von Nord nach Süd durchqueren und den Zigeuner-Wallfahrtsort Saint-Marie de la Mer am Mittelmeer aufsuchen. Ein Nachtzug brachte mich in die französische Stadt Arles, wo ich voller Bewunderung vor dem Haus von van Gogh stand, welches leider geschlossen hatte. Es war früh am Morgen, die Luft war kalt und neblig. In der Stadt hatte ich wieder einen Fressanfall, dann marschierte ich los. Nach den ersten Stunden der Wanderung merkte ich, wie verrückt das Ganze war. Kein Mensch war auf der Straße. Durch die dichten Nebelschwaden konnte ich weder Pferd noch Landschaft erkennen. Nur Stücke blauen Himmels, die dann und wann zum Vorschein kamen, begleiteten mich durch die ungemütliche Atmosphäre. Eine Karte sollte mir den Weg zeigen, aber die Verlorenheit mit der meine Augen die Welt sahen war überwältigend. Ich begann zu schwitzen und tiefe Angst und Verzweiflung stiegen in mir auf. Eine schwarze, drückende, unendliche Einsamkeit legte sich auf mein Herz. Am späten Nachmittag fand ich eine Scheune zum Übernachten. Ich legte mich ins Heu, schaute zu den Balken an der Decke und wurde von einem unbändigen Drang gepackt mit meinem Leben Schluss zu machen. Mein Denken raste im Kopf umher und ich wollte nur noch dieser alptraumhaften Einsamkeit und dem Getrieben-Sein entkommen. Ich weiß nicht mehr, wie ich die Nacht überstand, ich kämpfte darum präsent zu bleiben und nicht dem mich selbstvernichtenden Impulse nachzugeben. Am frühen Morgen verließ ich die Scheune und wusste, dass ich wieder umkehren konnte. Mein „Ziel“ war fürs erste erreicht. Ich hatte getan, was ich tun musste.
Ich fuhr per Anhalter den Rest des Weges, kam in dem Wallfahrtsort an, wo in der Krypta unter dem Altarraum die drei heiligen Marien3 standen, die bei der Prozession im Mai reichlich geschmückt und verziert auf einem Schiff präsentiert wurden. Sehr unheilig und eher wie eine Schaufensterdekoration standen sie auf einem einfachen Tisch und ich konnte nicht widerstehen sie genau zu inspizieren. Ich lüpfte ihre Röcke, sah mir all die Rosenkränze an, die unzähligen Tafeln mit Danksagungen und alle möglichen anderen Dinge, die sich dort über Jahrzehnte angesammelt hatten, während in der Kirche oben für das Weihnachtsfest der Boden von fleißigen Frauen geputzt und gewienert wurde. Der Humor fand mich wieder und ich musste mich schwer zurückhalten, nicht irgendeinen dummen Scherz mit den Figuren anzustellen. Danach ging ich zum Strand. Die ganze Küste war komplett in Nebel eingehüllt, nicht einmal das Wasser war zu erkennen, nur die kleinen, ausdruckslosen Wellen, die nichtsagend das Ufer erreichten. Ich setze mich kopfschüttelnd und in spontaner Heiterkeit in den Sand und musste an Samuel Becketts „Glückliche Tage“4 denken. Ein tiefes befreiendes Lachen stieg urplötzlich aus meiner Kehle hervor.
Hier passierte gar nichts mehr und wahrscheinlich war noch nie etwas sogenannt Heiliges oder Besonderes passiert. Der Ort war leer, gefüllt mit Glauben, wie ich selbst.
Ich ging ins nächste Cafe kaufte vier Croissants, bestieg den nächsten Bus und fuhr am Abend des vierundzwanzigsten Dezember mit dem Nachtzug über die Papststadt Avignon, die sich im Weihnachts-Shopping-Fieber befand, wieder nach hause.
Ich liebte meine Arbeit mit den schwerbehinderten Kindern. Verstand sie, auch wenn keines von ihnen sprechen oder sich artikulieren konnte. Die Sorgen und Ängste, die sie bei den meisten Betrachtern oder Weg-Schauern auslösten, konnte ich nicht nachvollziehen. Sie lebten in einer vollkommen anderen Welt, deren Glück oder Unglück nicht von uns beurteilt werden konnte. Die Arbeit mit den Kindern und meine Kolleginnen verschafften mir ein Minimum von Anbindung, während ich in meinem Haus vollständig die Kontrolle über mein Essverhalten verlor. Mein Altar und meine Wahrheit war jetzt die Kloschlüssel. Keiner wusste von meiner Bulimi und niemand ahnte etwas. Ich legte Fastenzeiten ein, fraß und kotzte dann wieder. Ort und Zeit spielten keine Rolle. Ich tat es überall. Das Ende meines zwanzig Monate dauernden Zivildienstes nahte. Ich hatte nie eine normale Berufskarriere angestrebt. Geld war mir so wichtig oder unwichtig, wie eine rote Fußgängerampel für einen echten Fahrradfahrer. Ich brauchte nicht viel zum Leben und hatte nie etwas vermisst.
Ich musste wieder los. Unterwegs sein. Weg. Weg von meiner Ess-Brechsucht. Weg aus dieser westlichen Kultur und dieser von Männern geprägten Welt.