Читать книгу Und die Wahrheit steht auf - Petrus Faller - Страница 9
What’s your name, what’s your country?
Оглавление„Die Tiefe ist nicht in dir. Die Tiefe ist in Mir.“
Adi Da
Obwohl ich nie ein Buch über Indien gelesen hatte und mir auch seine Religionen noch fremd waren, zog es mich genau dort hin. Wer Yoga erfunden hatte, konnte nicht ganz und gar schlecht sein.
Als Vorbereitung kaufte ich vier Landkarten von dem gesamten indischen Subkontinent, ein Hindulexikon und nähte mir in einer langwierigen Prozedur das Outfit eines Troubadours. Ich schrieb mein Testament, in dem ich alles meinen Freunden vermachte und setzte mich ohne bestimmtes Ziel im Oktober 1987, kurz vor meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag, ins Flugzeug, Ziel die Stadt Mumbay, welche damals noch Bombay hieß.
Bei der Landung auf dem Flughafen von Mumbay, der mitten in den Slums lag, erlebte ich meine erste unbegreifliche Ent-Täuschung. Noch nie hatte ich so viel Elend und Leid gesehen. So viel Kummer, zusammengedrängt auf einer scheinbar unendlichen Fläche. Die verarmten und verwahrlost aussehenden Kinder der Slums drückten sich die Nasen an den Fensterscheiben des Flughafengebäudes platt und Polizisten scheuchten sie mit groben Worten davon. Jeder der Mitreisenden riet mir, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen und ich folgte dem Rat und reiste noch am gleichen Tag mit dem Bus nach Goa weiter. Dort akklimatisierte ich mich in einer stillen paradiesischen Bucht, die noch unerschlossen vom Tourismus, mit einem Süßwassersee direkt hinter dem Strand, umgeben von riesigen Banyan-Bäumen vor sich hin träumte. Beim ersten Spaziergang an der Küste entlang lernte ich einen indischen Mann mit dem Namen Kali kennen, der ein Anhänger des gerade verstorbenen Meisters Babaji aus Haidakhan war. Er gab mir Tipps von heiligen Hindu-Pilgerorten, die ich in den nächsten Wochen alle aufsuchte und lud mich in den Ashram von Babaji im Himalaya ein. Nachts saß er oft betend am Feuer, sang zu Ehren seiner Göttin Kali, deren Namen er auch trug, und ließ die Flammen Tag und Nacht nicht ausgehen.
Während meiner weiteren Reise zu den hochgeschätzten Pilgerorten der Hindus schlief ich meist draußen oder in den Tempeln. Die Sadhus, denen ich begegnete, sahen meist bekümmert und krank aus, gezeichnet von ihrer harten Askese und nur wenige hatten glückliche Augen. Das Leid der Frauen und Kinder in den Dörfern war schrecklich und erbarmungslos. Die Unberührbaren schliefen überall, und überall sah man schwerst arbeitende Kinder und Frauen, die Straßen bauten oder ausbesserten. Die indische Gesellschaft war mir fremd. Wie konnte eine Religion so etwas zulassen? Gleichzeitig begegneten mir so viele lachende und glückliche Menschen, wie ich es noch nie vorher an irgendeinem Ort kennen gelernt hatte. Nach vier Wochen umherreisen strandete ich desillusioniert in Südindien in einem Naturschutzreservat. Quartier hatte ich bei einem Deutschen namens Klaus gefunden, der eine indische Frau geheiratet hatte und vom Pfefferanbau und den Touristen, die bei ihm logierten seinen Lebensunterhalt bestritt. Nach wie vor war mein täglicher Altar die Kloschlüssel – auch in Indien. Die Verzweiflung wuchs und wuchs, ich schrieb Seiten über Seiten in mein Tagebuch, aber ich führte das gleiche Leben wie in Deutschland. Es gab kein Entkommen. Ich suchte keinen Ashram, keinen Guru, ich wollte frei sein.
Eines Nachts saß ich im Vollmondlicht auf der Veranda, vor mir die drei Meter hohen Pfefferstauden. Wieder überkam mich das fast zwanghafte Verlangen diesem Leben ein Ende zu machen, verrückt zu werden oder den Körper zu verlassen. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Alles tat mir weh von dem täglichen Fressen und Kotzen, und mein Mund hatte sich durch den Verzehr von unreifen Papayas, die ich mir gierig einverleibt hatte, entzündet. Schreibend und flehend, die Mondgöttin inständig bittend, überstand ich wieder eine Nacht. Am nächsten Tag erzählte mir Klaus von Vipassana, einer buddhistischen Meditationstechnik, die er in einem Meditationszentrum in Igatpuri, einem Dorf in der Nähe von Mumbay kennen gelernt hatte. Da war auf einmal ein Ausweg. Ich packte noch am selben Abend meine Sachen zusammen und brach in aller Eile auf. Die Reise führte mich über 2000 km von Kerala, einem Bundesstaat im Süden von Indien, nach Igatpuri, einem kleinen Ort im indischen Staat Maharashta, ungefähr fünf Busstunden östlich von Mumbay gelegen. Ich war Tag und Nacht mit dem Bus unterwegs und sollte dank Unterstützung vieler freundlicher Menschen am Morgen vor Beginn des Meditationskurses dort ankommen. Der letzte Teil der Busfahrt führte durch eine sehr weite Ebene, die seitlich von großen felsigen Gebirgszügen begrenzt war. Die Himmel leuchtete klar und blau. Um mich herum saßen die indischen Menschen schlafend und eingehüllt in ihren Decken und Tücher, um sich vor der morgendlichen Kühle zu schützen, während der Bus über die marode Straße holperte. In einer kleinen Stadt, zwei Stunden von meinem Zielort entfernt, bestieg ein junger Mann den Bus. Gekleidet in dunkelrotes Tuch setzte er sich neben mich. Wir begannen ein Gespräch und er erzählte mir, dass er nach Ganeshpuri5 unterwegs sei zu dem Ashram seiner Meisterin, die er Gurumayi nannte. Ich verstand nur Bahnhof. Ganeshpuri schien ein Dorf zu sein, das erst einige Kilometer weiter nach Igatpuri angefahren wurde. Er packte einen Bildband aus und zeigt mir die farbigen Bilder der Gurumayi. Sie war ebenfalls ganz in rot gekleidet, sah sehr schön aus, erotisch und erhaben. Er bat mich, während der Dauer unserer Unterhaltung immer inständiger nach Ganeshpuri mitzukommen, um seine Meisterin zu sehen. Ich kapierte immer noch nicht, was er eigentlich von mir wollte und wies seine Bitten freundlich und bestimmt zurück. Als ich den Bus verließ begann der Mann zu weinen. Tränen rannen aus seinen Augen. Er schaute mir enttäuscht durch die Fensterscheiben nach, während der Bus hupend weiterfuhr.
Schnell vergaß ich die merkwürdige Begegnung im Bus und lief zum Meditationszentrum hinauf, welches oberhalb der Stadt lag, durch die Straßen und Gassen, die vom Lärm der hupenden Autos und der Hindi-Pop-Musik aus vielen Lautsprechern eingenommen war. Eine große Pagode mit einer hoch aufragenden goldenen Spitze überragte das buddhistische Zentrum, in dem zum damaligen Zeitpunkt für mehrere hundert Menschen ein Meditationskurs abgehalten werden konnte. Nach der Registrierung wurde ich freundlich aufgefordert meine Kleidung zu wechseln, da ich sehr extrovertiert wie ein umherziehender Troubadour unterwegs war. Für die Dauer des Meditationskurses stellte man mir einen einfachen indischen Lungi6 und ein normales T-Shirt zur Verfügung. Ein Vipassanakurs, gelehrt in der Tradition von Sayagyi U Ba Khin und dessen Schüler S.N. Goenka, der diese vergessene Meditationspraxis von Burma zurück nach Indien gebracht hat, wird in vollkommenem Schweigen über 10 Tage abgehalten. Zur Meditation setzen sich die Praktizierenden in eine spezielle Halle, empfangen dort von einem Lehrer oder einer Lehrerin die Instruktionen und praktizieren damit von den frühesten Morgenstunden bis in den späten Abend. Alles geschieht im Sitzen und in Stille. Die ersten drei Tage der Meditation bestehen aus Anapana, der Beobachtung des Atems, wie er ein- und ausfließt. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit geschärft und der Geist zur Ruhe gebracht. Ab dem vierten Tag wird Vipassana gelehrt. Die Meditierenden beginnen Körper, Emotionen und Gedanken in einer bestimmten Art und Weise zu beobachten, die immer mehr verfeinert wird. Dabei wird Anicca7 offenkundig. Alles kommt und geht.
Ich fühlte mich sofort zu Hause, ich wollte nicht mehr weglaufen. Am besten gefiel mir das Schweigen und die Befreiung, für ein paar Tage nicht mehr für mein Essverhalten verantwortlich zu sein. Die Speisen wurden morgens und abends ausgeteilt, am Nachmittag gab es nur Obst, das war alles. Die Meditationssitzungen begannen in den frühen Morgenstunden, wurden nur durch kleine Pausen und die Essenszeiten unterbrochen und dauerten bis in den späten Abend, wo die neue Unterweisungen für den nächsten Tag gegeben wurden.
Ich hielt mich genau an die Disziplin und die Regeln und verschärfte sie sogar, indem ich meine Meditationszeiten noch ausdehnte. Ich wollte mit meinem Willen die körperlichen Grenzen von Schmerz und psychischer Verzweiflung durchbrechen.
Am vierten Tag brach mein bisheriges Selbstbild zusammen, ich gab meine sinnlose Selbstkasteiung auf. Ich erkannte meine tiefe Verachtung für das menschliche Leben, meinen Trieb zur Selbstzerstörung und meinen versteckten Zynismus. Es war eine grundlegende und erschütternde Läuterung, wie wenn Masken und Schichten vom Körper abfielen. Ich befürchtete alle im Zentrum könnten nun sehen, dass ich bisher nur die Maske der Freundlichkeit getragen hatte, aber darunter die grundsätzliche Verachtung für alle äußerlichen und materiellen Dinge schlummerte. Aber natürlich ging es den über hundert Kollegen und Kolleginnen im Zentrum nicht anders und ich musste über meine neuerlichen Probleme lachen. Keine Visionen oder spirituellen Zustände tauchten mehr auf. Meine Fressanfälle hörten schlagartig auf, aber ich spürte die Ängste und Freuden der Welt noch intensiver als früher. Als ein anderer Mensch verließ ich nach dem Kurs diesen wundervollen Ort mit dem Namen Dhamma Giri, den Hauptsitz der Vipassana-Akademie. Es fiel mir sehr schwer zu gehen und ich hatte keine Vorstellung, wie ich nun im Leben zurechtkommen sollte. Ein merkwürdiges Flimmern umgab meinen Körper und selbst einen anderen Mensch nur anzublicken machte mir große Schwierigkeiten.
Ich saß auf einer einfachen Holzbank am Busbahnhof von Igatpuri, überlegte wie es jetzt weitergehen sollte und beschloss kurzerhand nach Rajashtan in die Wüste zu fahren. Dort gab es ebenfalls ein Vipassanazentrum in der Stadt Jaipur, welches ich später aufsuchen wollte. Ich hatte mir andere Kleider besorgt und sah nun wie ein westlicher Sadhu aus. Meine alten Kleider verschenkte ich.
Je länger die Fahrt in die Wüste dauerte, umso unsicherer und aufgewühlter wurde ich. Was war geschehen? Was hatte das alles zu bedeuten? Was machte es für einen Sinn lange Meditationen einzuhalten? Klar, es ging mir viel besser, aber meine Angst vor dem Menschsein-An-Sich hatte noch mehr zugenommen. Die Meditation hatte Kräfte freigesetzt, die ich nicht mehr steuern konnte. Ich spürte, wie das eigenartige Flimmern in meinem ganzen Körper zunahm, während der Bus immer tiefer in den Wüstenstaat Rajasthan hineinfuhr. Wie üblich wählte ich meine Ziele intuitiv. Oftmals nur aus einer Laune heraus, weil mir der Name eines Ortes besonders gefiel. Zwei Tagesreisen von Jaisalmer entfernt, der fulminanten Wüstenfestung in Rajasthan, machte ich wieder Halt in einer kleinen Stadt und flüchtete schnell in ein einfaches Hotel für Pilger. Mein eigener Körper schien mir von Minute zu Minute unerträglicher. Langsam bahnte sich die nächste Krise an. Ich lag auf dem Bett des Hotels im abgedunkelten Zimmer und begann wieder zu schreiben. Alles, was in meinen Gedanken auftauchte, bannte ich aufs Papier, um zu verstehen was vor sich ging. Ich legte mich auf den Boden, schrieb weiter, die Schrift wurde immer unleserlicher, am Ende schossen nur noch wilde Striche über die Papierseite. Ich verlor die Kontrolle über meinen Körper und kratzte nur noch auf dem Papier herum. Plötzlich fand ich mich, halb willentlich, halb gestoßen, im Kopfstand wieder und mein Verstand schien abzustürzen, kreisend ins Endlose zu fallen. Das musste der Eintritt in den Wahnsinn sein, dachte ich noch schnell, als sich der Raum um mich zu drehen begann und immer mehr bunte Kreise um mich herumwirbelten. Aber nicht der Wahnsinn suchte mich heim.
Plötzlich durchströmte Liebe das Herz, den entblößten Körper, die verlorenen Gedanken. Am Grunde meines Absturzes fand ich tatsächlich die Liebe. Der Ursprung von allem ist Liebe. Alles entstand daraus, alles lebte davon. Das Gefühl breitete sich in jeder Zelle aus. Liebe. So einfach war das.
Ich verließ unmittelbar das Zimmer und lief staunend und strahlend durch die Stadt, deren Name ich bis heute nicht weiß. Setzte mich in einen leeren, vollständig in Hellblau gestrichen Chai-Shop, ausgeleuchtet mit hellen Neonröhren, und starrte hinaus auf die Straße, wo es seltsamerweise leicht zu regnen begann. Alles ist ursprünglich durchdrungen von Liebe. Alles. Das ist der einzige Sinn des Lebens. Liebe. Der Chai-Shop Besitzer strahlte mich mit großen Augen an, als wüsste er das längst und ich lächelte zurück.
Ich ging zurück in das Hotel, packte meine Sachen wieder zusammen und nahm am frühen Morgen den nächsten Bus. In Ajmer, meiner nächsten Station, stieg ich aus und spazierte durch die Stadt. Mittlerweile war es mir vertraut angestarrt zu werden, aber diesmal geschah etwas sehr Seltsames. Ich hatte mich gerade an einen Tisch eines Chai-Shops gesetzt, der sich in der Mitte eines sehr großen Platzes befand, als immer mehr Menschen sich offenkundig um meinen Tisch drängten. Nach einer Weile bemerkte ich, dass ihre Blicke mir galten und ich schaute verwirrt auf. Eine riesige Menschenmenge hatte sich um meinen Tisch versammelt. Ein stattlicher älterer Mann, stolz und mit stechenden Augen, dem typischen Schnauzbart der Rajasthanis tauchte neben mir auf und bat mich energisch mitzukommen. Dies sei nicht der richtige Platz für mich. Ich sollte solche Orte meiden. Ich sagte ihm, dass ich nichts kaufen wollte und auch nichts „unbedingt“ sehen müsste und lieber hier bleiben wollte. Zu guter Letzt überzeugte er mich jedoch und führte mich durch die neugierige Menge in sein Geschäft, das in einer engen Gasse lag. Es war bis zum Rande vollgestellt mit Antiquitäten und Schmuck aus Rajasthan. Tee wurde aufgetragen und wir saßen mehrere Stunden zusammen und er führte mir seine Schätze vor. Beim Abschied riet er mir noch mal, Plätze mit vielen Menschen zu meiden, und brachte seine zwei jungen Söhne zu mir, damit ich mich von ihnen verabschieden konnte. Auch die weitere Fahrt war geprägt von weiteren Merkwürdigkeiten und wildfremden Menschen, die mich ungefragt und freundlich einluden. Ich war heilfroh, als ich mich wieder in das Meditationszentrum in Jaipur zurückziehen konnte.
Dieser Ort der Meditation, Dhamma Mahi genannt, liegt in einem stillen Tal, ist viel kleiner als die Vipassana-Akademie in Igatpuri und war in dieser Zeit nur von wenigen Meditierenden besucht. Es lag hinter dem Monkey Hill, einem kleinen Hügel, der Jaipur mit einem einfachen Tempel überragt, auf welchem von den Sadhus und Babas Tag und Nacht zu Gott Rama gesungen wird. Auf diesem Berg leben hunderte von sogenannten heiligen Affen, die täglich mit einem LKW voll Bananen gefüttert werden. Oben auf dem Berg streift der Blick über ganz Jaipur und den einzigartigen Maharaja Palast „Palace of Winds“, der völlig in Pink angemalt ist. Rechter Hand türmt sich die riesige Nahargarth-Festung auf, welche die ganze City überragt. Der Lärm, der von der Stadt aufsteigt, ist ohrenbetäubend. Hinter dem Monkey Hill, auf dem langen Fußweg zum Vipassana-Zentrum liegt eine verfallene, uralte Tempelanlage und ein wunderschön-blühender Park, der von schreienden Pfauen und wilden Papageien bewohnt wird.
Das Meditationszentrum in den Bergen von Jaipur hatte ebenfalls eine Pagode und war für circa hundert Meditierende eingerichtet. Es herrschte große Stille im Tal und nur am frühen Morgen schrien die Papageien. Ich begann einen sogenannten Selbstkurs, der nach dem gleichen Tagesrhythmus ablief, wie ich es schon kannte, aber von mit, selbst, ohne Begleitung eines Lehrers oder einer Lehrerin, organisiert werden musste. Die Meditationen unterbrach ich nur für ein paar Stunden Gartenarbeit jeden Tag und außer dem Caretaker war ich der einzige Gast im Zentrum.
Insgesamt hielt ich mich fast fünf Wochen an diesem Platz auf, belegte noch mal zwei geführte 10-Tageskurse und verbrachte die meiste Zeit in Meditation.
Als ich den stillen Ort Ende Januar zusammen mit einem Freund wieder verließ, den ich im Zentrum kennengelernt hatte, waren meine Muskeln im ganzen Körper so sehr entspannt, dass ich kaum einen Bleistift halten konnte. Meine Zwanghaftigkeiten waren verschwunden. Ich aß normal und auch mein Fliehen-wollen vor der Welt und ihren Herausforderungen war nicht mehr vorhanden. Ich fühlte mich sehr geläutert. Es war sehr seltsam, die Aufmerksamkeit wieder dem normalen Treiben in der Welt zu widmen.
Wir hatten gemeinsam beschlossen ins Landesinnere von Indien, in den Bundesstaat Madhya Pradesh, zu reisen. Unsere Reiseroute führte mit der Bahn den Narmadafluss entlang. Ein paar Kilometer nach Bhopal nahmen wir einem Bus, der uns in eine Gebirgsregion brachte, die heute Satpura National Park genannt wird. Mein Begleiter kannte sich sehr gut aus und hatte die letzten fünfzehn Jahre in Indien verbracht. Er war sicher doppelt so alt wie ich, hatte eine Drogenkarriere als Junkie hinter sich und seine Sucht mit Hilfe der Vipassana-Meditation besiegt. Wir fuhren immer tiefer in die Berge hinein, deckten uns in einer kleinen Stadt auf einem Hochplateau mit Lebensmitteln für zwei Wochen ein und wanderten mitten in den indischen Urwald zu einem Ort, den die Ureinwohner, die Gond-Baba, von den Adivasi-Stämmen8 „Shiva Mundi“ die „Stille des Shivas“ nannten. Shiva ist einer der wenigen Götter, der auch von den nicht hinduistischen Gond-Baba als Gott verehrt wird. Shiva soll der Legende nach in dieser Gegend von einem Dämonen verfolgt worden sein, springend von Hügel zu Hügel, hinterließ er überall seine Spuren, die nun als Plätze für Gebete und Rituale dienen. Die ganze Gegend ist übersät mit Höhlen und Kultplätzen, die weit in die frühe Menschheitsgeschichte zurückreichen und in denen bereits die Menschen der Steinzeit lebten. In vielen Höhlen kann man noch steinzeitliche Höhlenmalereien erkennen. Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass diese Plätze von hinduistischen und buddhistischen Mönchen vor vielen Jahrhunderten zur Meditation und zum Rückzug genutzt wurden.
Da den Ureinwohnern Bäume als heilig gelten, stehen überall riesige, uralte Exemplare von ungeheuerer Kraft und überwältigender Würde.
Wir durchquerten hohe und dichte Bambuswälder und kamen an Mangobäumen vorbei, die eine unglaubliche Größe hatten und in deren Kronen Affen kreischten und gefährlich herumtollten. An einem der Hauptheiligtümer zu Ehren Shivas füllten wir unsere Vorräte noch einmal auf und sahen wieder dutzende von Höhlen, die meist mit einer aufgerichteten, aus dem Stein gemeißelten schwarzen Kobra, dem Zeichen Shivas geschmückt waren. Wir zogen auf unwegsamen Pfaden immer tiefer in den Urwald hinein und fanden schließlich die Stelle, die wir suchten.
Ein indischer Baba sorgte sich um den Platz mitten im Dschungel, der aus 20 bis 30 kleinen und großen Höhlen bestand und sich über den Bergrücken hinzog. Manche Plätze und Höhlen waren nur über Steigleitern zu erreichen. Dieser Platz diente nur der Meditation und es herrschte große Stille. Die Höhle des Babas lag am Fuße einer Schlucht und war so etwas wie die zentrale Anlaufstelle. Eine riesige Palisade aus Holzstämmen schützte seine Höhle vor Leoparden, Tigern und Wildkatzen, deren Zuhause dieser Urwald war. Auf den ersten Blick erschien der Shiva-Baba vollkommen neurotisch und verrückt. Seine Augen waren vom pausenlosen Marihuanarauchen verklärt und undeutlich zu erkennen. Er war sehr freundschaftlich und sorgte dafür, dass wir während unseres Retreats in dieser einsamen Gegend nicht gestört wurden. Als Willkommensgruß schenkte er uns etwas Tee.
Wir wählten die letzte große, tief in den Berg hineinreichende Höhle am Ende der steil ansteigenden Schlucht und richteten uns ein. Alle Dinge des Alltags mussten über Geröll und in den Fels gehauene Pfade nach oben geschafft werden. Das Wasser trugen wir täglich in Eimern, nach dreißigminütigem Abstieg, von einem märchenhaft schönen Fluss, unter großen Anstrengungen den Berg hinauf, ebenso das tägliche Feuerholz. Die Flammen des Feuers mussten die ganze Nacht am Leben gehalten werden, da es um uns herum nur so von wilden Tieren wimmelte. Darunter große Wildkatzen, die erst ein paar Tage zuvor einen Einheimischen angefallen und schwer verletzt hatten. Die Lebensmittel hängten wir an Schnüren an der Felsdecke auf. Trotzdem versuchten die Nager des Nachts mit akrobatischen Luftsprüngen sich ihren Teil zu sichern.
Wir schliefen direkt am Feuer nahe am Eingang der Höhle. Im hintersten Teil unserer Wohnstätte, der im Dämmerlicht lag, stand erhöht eine menschengroße, schwarz-aufgerichtete Kobra, die aus dem Felsen gehauen war. Die Gond-Babas, die mit aufrecht-grazilem Gang im Wald mit Axt und Machete unterwegs waren, besuchten alle paar Tage die Höhle um Blumen-Malas um die Schlange zu legen und ihre Puja abzuhalten. Sie beachteten uns kaum und gingen ihrer Wege.
Nachts wachten wir abwechselnd am Feuer, bis in den frühen Morgenstunden unsere Meditation begann. Alles geschah in Stille und ohne Sprechen. Es war eine Herausforderung ohnegleichen für Körper und Geist. Am Morgen meditierten wir zu Beginn in der Höhle, beziehungsweise auf der Plattform davor, wo sich das grüne Tal vor uns erstreckte. Tag für Tag, nach dem Mittagessen, machten wir uns an den Abstieg, badeten im Fluss und blieben bis zum Abend am Ufer des Flusses in Meditation. Wir taten nichts anderes als alles zu beobachten was im Körper geschah und ließen es vorbeiziehen. Nach ein paar Tagen hörte ich die Stimme des Flusses als melodische Symphonie in meinen Ohren erschallen. Es war wie eine Umarmung. Ich saß Stunden ohne die geringste Bewegung auf dem Felsen und langsam stieg eine unermessliche Traurigkeit in mir auf, die durch die Gesänge des Flusses vom Grund meines Herzens aufgewühlt wurde. Was tat ich hier?
Ich saß wie immer direkt am Wasser, als ich mir urplötzlich des Todes bewusst wurde, meines eigenen und den der anderen. Die Erinnerung an den Tod meines Vaters, den ich als fünfjähriges Kind in all seinem Schrecken und seinen Auswirkungen erlebt hatte, überwältigte mich.
Es hatte sich überhaupt nichts geändert, die Gesetze der Welt waren noch die Gleichen wie vorher. Ich konnte ihnen nicht entfliehen, auch nicht durch pausenlose Meditation. Ich weinte ohne Unterlass. Mein Begleiter wurde trotz jahrelanger Meditation langsam unruhig, als der Kummer kein Ende nehmen wollte. Hatte ich früher gefressen und gekotzt, war ich jetzt endloser Meditation verfallenn um das Dasein irgendwie zu meistern, alles nur, um dieses Grundwissen des Todes nicht fühlen zu müssen. Andere konnten diese unbewusste Ahnung mit Karriere, Geld, Frauen, Männern, Renten- und Feuerschutzversicherungen aller Art betäuben. Diese Illusionen waren mir erspart geblieben.
Aber auch die östlichen, spirituellen Wege, die ich bis dahin nie so bezeichnet hätte, weil ich gar nicht wusste, was Spiritualität oder ein Weg ist und mich auch gar nicht darum kümmerte, hatten offensichtlich keinerlei wirkliche Lösung parat. Immer blieb ein Stück Unzufriedenheit und Unfriede übrig, flehende Gebete, ein endloser Kampf. Was sollte ich noch hier?
Am nächsten Tag beendeten wir spontan unseren Meditationsretreat. Ich hatte mich bereits entschieden auf dem schnellsten Weg nach Deutschland zurückzukehren.
Auf halbem Weg zurück in die Zivilisation machten wir noch einmal am Ufer eines Flusses halt, der unten im Tal an den Gebirgshängen in den Narmadafluss mündete. Es war unser letzter Tag in den Bergen. Wir mussten wieder enorme Anstrengungen auf uns nehmen, um an diesen verzauberten Ort zu gelangen, der vor märchenhafter Schönheit und Ruhe strahlte. Der Fluss war an dieser Stelle, hoch oben in den Bergen, noch sehr schmal, übersät mit riesigen, rundgewaschen Felsen und das Wasser floss in absoluter Stille und Gelassenheit durch den Urwald dahin. Es wurde Nacht. Der Vollmond, der am Himmel langsam emporstieg, spiegelte sich im Wasser. Stück für Stück näherte sich das Spiegelbild des Mondes dem Ufer, wo ich mich niedergelassen hatte. Mein Körper war von den Strapazen der Wanderung vollkommen erschöpft. Bei der Ankunft hatte ich mich einfach auf einen Stein fallen gelassen und war lange Zeit regungslos liegen geblieben. Ich konnte nicht mehr.
Jetzt saß ich neben dem Feuer, mein Begleiter hatte sich bereits zum Schlafen hingelegt. Der Mond strahlte riesengroß und leuchtete hell und schien mehr Wahrheit auszudrücken, als meine ganze Sucherei. Stunden vorher hatte sich nochmals mein ganzes Dilemma offenbart, als wir einen Platz besuchten, der nicht von dieser Welt zu sein schien. Es ging an einem See entlang, der vor einer riesigen Felswand lag. Vor der Felswand am Ufer gab es ein altes Dorf der Gond-Baba, die ihre Häuser direkt vor die steinzeitlichen Höhlen gebaut hatten. Am Wasser brannte ein großes Feuer, die Abenddämmerung nahte, die Menschen versammelten sich um das Feuer. Wir gingen einen schmalen Felsweg in eine Schlucht hinab, in der Shiva sich im Gestein sichtbar manifestiert haben sollte. In den Felsnischen, auf engen Vorsprüngen, saßen Yogis und Asketen. Sie riefen uns lachend Worte zu, machten Scherze und schenkten uns Räucherstäbchen, Asche und Prasad. Es ging tiefer in die Schlucht hinein. Am Ende unseres Weges tat sich ein Platz auf, der über und über geschmückt war mit Blumen, Räucherwerk und Kerzen. Vor uns, in einer natürlichen Grotte, standen in tief blaue Atmosphäre eingehüllt Shiva und Pravati im Tanz vereint. Alles schien zu leben und zu vibrieren. Ich setzte mich nieder in die augenscheinliche Hingabe und Verehrung dieses Platzes und dem Tanz von Bewusstsein und Energie.
Wie passten Bewusstsein und Energie zusammen? Wie konnte ich diese Welt umarmen und gleichzeitig glücklich sein? Warum waren da immer zwei? Wie konnte man jemals den Tod der Geliebten akzeptieren?
Trotz dieser unglaublichen Fülle und der jenseitigen, atemberaubenden Atmosphäre bekam ich keine Antwort, auch die alten Völker hatten für mich keine brauchbaren Lösungen gefunden.
Der langsam dahingleitende Fluss vor mir schien sich nicht zu bewegen. Ich sah wieder die volle, runde Scheibe des Mondes sich im Wasser zu meinen Füßen spiegeln und gleichzeitig am Himmel. Wer spiegelte wen?
Ich wollte kein Asket sein, körperfeindlich. Ich wollte mich nicht kasteien und irgendwelche Meditationstechniken ausüben nur um die Wahrheit zu finden, um das hier alles irgendwie auszuhalten. Die Mondscheibe kam immer näher und schien zu lachen, als das Wasser sich in Wellen am Ufer kräuselte. Scheiß Fragen! Ich lächelte zurück und legte mich erschöpft schlafen.
Am nächsten Morgen packten wir zum letzten Mal unsere wenigen Dinge zusammen. Ich vergaß zwischen den Steinen meine Glöckchen, die ich wegen der Schlangen im Urwald immer am Fuß getragen hatte, und freute mich über ein willkommenes Frühstück, zu dem ein eigenartiger Mann, der in der Nähe des Flusses wohnte, uns eingeladen hatte. Wir sahen ihn schon von weitem vor seinem Haus, als wir vom Flusstal her aufstiegen. Er hatte die Beine hochgelegt, saß in einer Militärkampfuniform auf seiner Veranda und begrüßte uns höflich. Einen tantrischen Guru sollten wir treffen, hatte mir mein Meditationsfreund vorher erzählt, der alle möglichen übernatürlichen Dinge im Fluss vollbringen konnte. Der Mann kümmerte sich auch um die Menschen im Dorf, besorgte ihnen Arbeit und achtete darauf, dass das Dorf sauber gehalten wurde und die Kinder zur Schule gingen. Gerade hatte sich eine Gruppe der Dorfbewohner in seinem Hause vor einem Fernsehgerät versammelt, um sich eine indische Soap aus der Mahabharata9 anzuschauen. Während er sich lächelnd mit uns unterhielt, uns immer wieder zum Essen animierte, sprach er zwischen den Worten immer wieder Mantras. Ram Ram Ram, Sita-Ram. Er schaukelte die ganze Zeit auf dem Stuhl hin und her und erzählte uns, dass er viele Menschen im Krieg gegen Pakistan töten musste. Es war die „unheiligste Erscheinung“, die mir in Indien je begegnet war und er tat mir irgendwie gut. Ich spürte seine helle Liebe, seinen Respekt und sein wahrhaftiges Interesse und Mitgefühl, wie ich es nie vorher bei einem Menschen gespürt hatte. Seine Augen leuchteten wie Scheinwerfer. Er lachte über unsere Meditationspraxis, lobte sie gleichzeitig und gab uns zum Abschluss den Rat einen Guru zu finden, da wir sonst noch viele Leben in Meditation verbringen müssten. Wir lachten zurück und verließen beglückt den Platz und nahmen den nächsten Bus hinunter nach Bhopal. Dort trennten sich unsere Wege. Mein Meditationsfreund fuhr nach Orissa an die indische Ostküste, ich sollte ihn nie mehr wiedersehen. Ich nahm den Zug nach Delhi, um mit der nächstmöglichen Maschine nach Deutschland zurückzufliegen. Drei Tage später stand ich auf dem Frankfurter Flughafen. Frühling 1988, ich war dreiundzwanzig Jahre alt.